Die Wirtschaftsregion Balkan am Tropf des Westens
Von NEBOJSA VUKADINOVIC *
AM 9. Juni 1999 wurde mit dem Abkommen von Kumanovo der Kosovo-Krieg beendet. Tags darauf veröffentlichte die Europäische Union einen „Stabilitätspakt für Südosteuropa“, der wenige Tage später in Sarajevo auf einer Versammlung der betroffenen Institutionen und Länder vorgestellt wurde.1 Mit diesem als Pfeiler der EU-Außenpolitik präsentierten Plan bekundete das Atlantische Bündnis zum einen seinen Dank an die Regierungen, von denen es loyal unterstützt wurde. Vor allem aber zeigte sich hier eine späte Einsicht in die dringliche Notwendigkeit, der Zerstückelung des Balkans Einhalt zu gebieten – durch eine Politik, die alle Länder der Region mit einbezieht.
Der Stabilitätspakt war von Anfang an mit einem schwer wiegenden Problem konfrontiert: der Unmöglichkeit, die Region eines geografisch, wirtschaftlich und demografisch wesentlichen Mosaiksteins auf dem Balkan zu stabilisieren, ohne dabei die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) einzubeziehen. Die während der Kosovo-Krise gebildete Gruppe oppositioneller jugoslawischer Ökonomen mit dem Namen G 17 schätzt die Gesamtkosten der Nato-Bombardierungen für die BRJ auf rund 30 Milliarden Dollar (ein Drittel des Betrags, den die Europäische Union im Mai 1999 ansetzte). Zu den Folgen der Zerstörungen und Sanktionen kommen die Belastungen durch die 700 000 mehrheitlich serbischen Flüchtlinge. Die selektive Hilfe der westlichen Regierungen für die oppositionellen serbischen Städte, die im Programm Energie für Demokratie2 ihren Ausdruck findet, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und hat eher politischen als wirtschaftlichen Charakter.
Der am 10. Juni 1999 beschlossene Stabilitätspakt erklärt, dass „die BRJ als gleichwertige Partnerin im Stabilitätspakt willkommen ist, sobald der Kosovo-Konflikt auf der Grundlage der von den Außenministern der G 8 vereinbarten Prinzipien beigelegt sein wird“. Zu diesen Prinzipien zählt die „territoriale Integrität“ der BRJ. Die Europäische Union hat aber Montenegro – dessen Führung die Nato-Aktion unterstützte – in den Stabilitätspakt einbezogen. Die Resolution 1 244 des Sicherheitsrates, auf deren Grundlage am 9. Juni 1999 im Kosovo ein UNO-Protektorat errichtet wurde, bekräftigt ebenfalls die „territoriale Integrität“ der BRJ. Währenddessen hoffen die Albaner dieses jugoslawischen Teilstaates und zweifellos auch ein wachsender Teil der montenegrinischen Opposition darauf, dass ihnen doch noch die Unabhängigkeit zugestanden wird. Eine „Beilegung“ der Kosovo-Frage scheint alles in allem kaum in Sicht, und es ist paradoxerweise Belgrad, das die Umsetzung der UN-Resolution 1 244 anmahnt.
Ein zweites durch den Stabilitätspakt aufgeworfenes Problem hängt mit dem Aufbau der Europäischen Union selbst zusammen. Der Pakt orientiert sich an dem Prinzip, das die Europäische Union den Ländern Südosteuropas seit 1996 vorschreibt: „Wenn ihr mit uns zusammenarbeiten wollt, müsst ihr zuerst beginnen, untereinander zusammenzuarbeiten.“ Auf diese Weise wird versucht, die eigenen Widersprüche zu überspielen. Denn einerseits möchte die EU den Balkanländern die Aussicht auf einen Beitritt nicht nehmen, andererseits lehnt sie es aber ab, sich auf genaue Termine festzulegen, und begründet dies mit nicht näher erklärten wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten.
Die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) werden als Schritt in Richtung eines zukünftigen Beitritts dargestellt und erlebt. Von den am Stabilitätspakt beteiligten Ländern haben Slowenien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien bereits ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. Die übrigen gehören der Gruppe der „nicht assoziierten“ Länder an, die Brüssel mit dem Begriff „Westbalkan“ bezeichnet. Konkret sind dies zwei am Tropf des Westens hängende Protektorate (Bosnien-Herzegowina und das Kosovo), ein zerstückelter Bundesstaat, über den Sanktionen verhängt wurden (die BRJ, de facto also Serbien im engeren Sinn, Kosovo und Montenegro), Albanien, das mit seinem wirtschaftlichen Niedergang kämpft, obwohl es sich in eine Nato-Basis verwandelt hat, und schließlich Kroatien und Makedonien, die sich eine baldige Assoziierung erhoffen.
Wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), so erklärt auch die EU die katastrophale wirtschaftliche Lage der Balkanstaaten mit deren „Rückstand“ bei der Umsetzung der Reformen, die sie seit zehn Jahren propagiert – und unterstellt damit, dass andernorts rechtzeitig wirksame Rezepte umgesetzt worden seien. Ein Brüsseler Think-Tank, das Zentrum für das Studium der europäischen Politik, bringt sogar die Idee einer Tabula rasa ins Spiel. Dabei handelt es sich um eine radikale Spielart der berühmten „Schocktherapien“, beschleunigt durch den Verlust der Währungssouveränität in der ganzen Region. Mit der Einführung der Deutschen Mark als lokaler Währung in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Montenegro ist die „Euroisierung“ des Balkans im Grunde bereits vorweggenommen. Soll mit dieser Abmagerungskur für Ausgehungerte die Umwandlung des ganzen Balkans in ein Protektorat im Sinn einer ausgedehnten Freihandelszone durchgesetzt werden? Darüber schweigen sich die Brüsseler „Experten“ aus.
Indessen ist die Lage im „harten Kern“ der „nicht assoziierten“ Länder, Bosnien-Herzegowina, BRJ und Albanien, ausgesprochen dramatisch. Eine weitere Verschärfung könnte der zukünftigen Außenpolitik der EU einen tödlichen Stoß versetzen. Deshalb wurde unter der französischen Präsidentschaft für November in Zagreb eine Versammlung einberufen, an der alle Länder des „Westbalkans“ teilnehmen sollen. Bereits jetzt sprechen sich die nationalistischen Parteien in Kroatien gegen diese Konferenz aus. Bezeichnenderweise wird sie von den ehemaligen Republiken der jugoslawischen Bundesrepublik, die sie nicht mehr wollen, als „5+1-1“ bezeichnet (also Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien plus Albanien minus Slowenien). Gerade darin liegt der Hauptwiderspruch des Stabilitätspakts. Denn diejenigen betroffenen Staaten, die am weitesten entwickelt sind, sehen kaum ein, was ihnen ein Vorgehen bringen soll, bei dem sie dem „Westbalkan“ zugeschlagen werden. Derselbe Prozess spielte sich bereits im ehemaligen Jugoslawien ab, als Slowenien über die „Last“ der Balkanrepubliken klagte. Im Gegensatz dazu wäre von den weniger reichen Ländern Rumänien und Bulgarien, ebenso wie von Bosnien und Makedonien, die vor zehn Jahren verzweifelt für eine Beibehaltung der (großen) Bundesrepublik Jugoslawien eingetreten waren, eine weniger zaudernde Haltung zu erwarten.
Die Dynamik der verschiedenen Formeln für Südosteuropa wird zweifellos von der Entstehung neuer regionaler Entwicklungspole rund um die Türkei, Italien oder Griechenland abhängen. Doch sie bleibt einer liberalen Wirtschaftslogik verpflichtet, die zum Zerfall von Solidargemeinschaften und Schutzvorkehrungen geführt hat. Das Land und sein Boden dienen heute als Zuflucht vor der wirtschaftlichen Katastrophe, ohne dass dies die wachsende Gefährdung der Bevölkerungsschichten, allen voran der Rentner, auffangen kann. Im Übrigen hat durch den Krieg und die tagtäglichen Schwierigkeiten in den letzten zehn Jahren die Abwanderung insbesondere von jungen Menschen deutlich zugenommen. 400 000 junge Menschen aus der BRJ, 600 000 aus Bosnien und 80 000 aus Makedonien haben die Region verlassen. Insgesamt machen sie mehr als die Hälfte der vier Millionen „Flüchtlinge“ und „Vertriebenen“ aus, die beim Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR) erfasst sind. Die Hoffnung auf eine Rückkehr schwindet in dem Maß, wie die Regierungen ihrer Herkunftsländer die Strategie der Trennung zwischen den Volksgruppen beibehalten. Denn die „ethnischen Säuberungen“ von Gebieten und Besitz sowie die restriktive Neuauslegung der Staatsbürgerschaft sind begleitet von der Auslöschung kultureller Eigenständigkeiten im Bereich von Sprache, Geschichtsunterricht, Künsten und Literatur. Obwohl diese kulturelle Dimension den Wiederaufbau auf dem Balkan stark beeinträchtigt, scheint sich die EU daran bis heute nicht zu stoßen.
Auch wenn im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt an den Marshallplan erinnert wird, hat die heutige Situation mit den Bedingungen in Europa zur Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wenig gemein. Die Vereinigten Staaten, damals weltweit wichtigster Kreditgeber, sind heute das am höchsten verschuldete Land. Die damals unter dem Druck des Kalten Krieges verfolgte Politik der Einmischung und Abschirmung passt nicht zu den aktuellen Dogmen des freien Kapitalverkehrs, der Privatisierung und des Abbaus von Subventionen. Was schließlich die EU betrifft, ist kaum vorstellbar, dass sie sich in einen „Marshallplan“ stürzt, wo sie doch in der im März 1999 ausgehandelten Agenda 2000 festlegte, ihre Budgetausgaben auf 1,27 Prozent des gemeinsamen BIP zu begrenzen.
Diese Entscheidung schränkt die zur Vorbereitung der Mitgliedschaft vorgesehenen Hilfsmittel drastisch ein, die im Übrigen von unrealistischen Wachstumsannahmen in den „assoziierten“ Ländern ausgehen.3 Die Bemühungen zum Wiederaufbau konzentrieren sich de facto auf Bosnien und das Kosovo.4 Trotzdem bleiben die von der EU aufgebrachten Mittel hinter den Erfordernissen zurück. Zudem haben die Balkanländer ohne Berücksichtigung der BRJ (wegen der Sanktionen) an privaten ausländischen Investitionen zwischen 1991 und 1997 pro Einwohner nur rund ein Siebtel dessen erhalten, was in Zentraleuropa investiert wurde.5
Der Stabilitätspakt sieht vor, dass neben den Regierungen andere Ansprechpartner aus der „Zivilgesellschaft“ gefunden werden sollen. Doch im Prinzip sind Nichtregierungsorganisationen nur beim ersten der drei übergeordneten Themen (Demokratie und Menschenrechte; Wirtschaft; Sicherheit) einbezogen. Momentan stellt der Pakt nicht viel mehr dar als eine vage Koordinierung von bisher zersplitterten, zum Teil konkurrierenden Initiativen der Vereinigten Staaten und der EU.
Auf der Konferenz der rund 50 Geberländer, die am 29. und 30. März 2000 in Brüssel tagte, wurden 1,8 Milliarden Dollar für ein „Starthilfe-Gesetzespaket“ bereitgestellt – ein Betrag, dem die zahlenmäßig erfassten Kosten des Krieges in der BRJ und die 100 Milliarden Dollar, die Deutschland seit 1989 jedes Jahr für die Integration der ostdeutschen Bundesländer aufwirft, gegenüberzustellen sind. Das Nebeneinander mehrerer Verwaltungsstrukturen für die Hilfsgelder und die Beibehaltung der Abschottung zwischen den Ländern der Region könnten zu einer weiteren Zuspitzung der Widersprüche dieses Projekts führen.6 Vor allem aber fragt sich, wie von einer „regionalen Stabilisierung“ gesprochen werden kann, wenn gleichzeitig die Visapolitik zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens eine Rückkehr der Flüchtlinge verhindert und der Bewegungsfreiheit der Bürger der ehemaligen Bundesrepublik weitere Hindernisse in den Weg legt. Die von der Angst vor illegaler Einwanderung besessene EU setzt die Unterscheidung zwischen „assoziierten“ und „nicht assoziierten“ Ländern in den Zwang zu neuen Visa zwischen diesen beiden „Blöcken“ um.
Da sich die Stabilisierung auf dem Balkan und dem europäischen Kontinent nicht auf eine mutige Umverteilung des Reichtums stützt, der die Überwindung von Armut und Ausgrenzung erlauben würde, ist die Wahrscheinlichkeit leider sehr groß, dass der Stabilitätspakt auf den Aspekt der Sicherheitspolitik beschränkt bleibt und mit einer Erhöhung der Militärbudgets einhergehen wird, während nach Auflösung des Warschauer Pakts derlei Ausgaben abgebaut wurden. Der 1999 mit einem Betrag von 100 Milliarden Dollar für den Zeitraum von 2000 bis 2015 veranschlagte „Marshallplan für den Balkan“ droht im Spannungsfeld gegensätzlicher Dynamiken von Neuzusammensetzung und Zersplitterung des Balkanraums und des europäischen Kontinents eine leere Worthülse zu bleiben.
dt. Birgit Althaler
* Konferenzbeauftragter der Stiftung für Politikwissenschaften, Paris.