Europa liegt am Mittelmeer
Von FRANCIS GHILÈS *
FÜNF Jahre nach der Mittelmeerkonferenz von Barcelona werden sich die EU-Außenminister am 14. November in Marseille wieder mit den Außenministern der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten beraten. In den meisten dieser Länder lässt der soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fortschritt nach wie vor auf sich warten: Fast überall sind die nach der Unabhängigkeit angelaufenen Bemühungen an Klientelismus, Clanwirtschaft und Korruption gescheitert. Nach Jahren der Strukturanpassung suchen die Länder des südlichen Mittelmeerraums nach einem Weg, den wirtschaftlichen und sozialen Zerfall endlich aufzuhalten.
Auf der Konferenz von Barcelona hatte die Europäische Union 1995 den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers, den Med121 , eine Partnerschaft angeboten, deren Ziel es sein sollte, die Sicherheitsansprüche des Nordens mit den Prosperitätsbedürfnissen des Südens in Einklang zu bringen. Heute, fünf Jahre später, tut sich die Gemeinschaft schwer, die wirtschaftlichen Stützungsprogramme konsequent umzusetzen. Umgekehrt können sich die Partner des südlichen Mittelmeeres nach Jahren schmerzhafter Strukturanpassungen nicht zu den notwendigen Reformen und Privatisierungen öffentlicher Unternehmen entschließen. Heute macht sich im Norden Mutlosigkeit, im Süden dagegen Verdrossenheit breit. Dabei sprechen zahlreiche Faktoren dafür, gerade jetzt eine euromediterrane Wirtschaftsregion entstehen zu lassen, die sich auf Solidarität und gleichberechtigte Partnerschaft gründet.
Zwei dieser Faktoren verdienen besondere Beachtung. Der erste ergibt sich aus der Stabilisierung der makroökonomischen Eckdaten im Süden sowie aus der Zunahme der aktiven Bevölkerung, die zur Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit beitragen kann.
Der zweite Faktor resultiert aus der Tatsache, dass zwischen sechs und dreizehn Millionen aus dem südlichen Mittelmeerraum stammende Menschen weitgehend in den Norden integriert sind, was den grenzüberschreitenden Transfer von Modernität und Wohlstand verstärkt. Die seit einem Jahrzehnt vorangetriebene Anpassung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen an die wirtschaftsliberalen Standards dürfte die Auslandsdirektinvestitionen fördern, die nach wie vor die Wirtschaftsaktivität ankurbeln. In die Länder des südlichen Mittelmeers fließen jährlich etwa sechs Milliarden Dollar an Auslandsdirektinvestitionen, das entspricht knapp einem Prozent der weltweiten Kapitalströme bzw. fünf Prozent des für die Entwicklungsländer bestimmten Kapitals. Ohne eine flexiblere Visapolitik des Nordens kann freilich eine noch so kräftige Investitionsförderung nicht viel ausrichten. Zudem darf diese Förderung nicht in Maßnahmen umgesetzt werden, die auf Sozialabbau oder Umweltzerstörung hinauslaufen.
Drei Szenarien sind denkbar. Soll das Programm erfolgreich sein, müssten die Auslandsdirektinvestitionen bis 2005 auf zehn Prozent angehoben werden. Im Fall des Scheiterns käme es dagegen sehr bald zu einer wirtschaftlichen Flaute, die soziale Revolten, religiöse oder nationale Spannungen und Finanzkrisen mit sich bringen würde. Ein drittes Szenario wäre die Stagnation als Folge verspäteter Anpassungen, die auf gesellschaftlicher Ebene schlecht umgesetzt werden. Die beiden letzten Szenarien würden die Kluft zwischen den Küsten des mare nostrum“ weiter vertiefen und die Politiker im Norden bestärken, die ohnehin die einzig realistische Politik in einem Sicherheitsmanagement der Nord-Süd-Beziehungen sehen.
Die EU ist nur ein schwacher Katalysator
DAS erste Szenario kann sich nur durchsetzen, wenn die Partner des südlichen Mittelmeers das Spiel auch tatsächlich mitspielen; das aber setzt zweierlei voraus: erstens die Überwindung jenes „undurchsichtigen Geschäftsklimas, das nach wie vor das Haupthemmnis für die Entwicklung der Auslandsdirektinvestitionen im südlichen Mittelmeer ist“.2 Und zweitens müssen die europäischen Politiker beim vierten Mittelmeertreffen der EU-Außenminister in Marseille die ökonomischen und kommerziellen Impulse, die von Barcelona ausgingen, wiederbeleben.
Die europäische Mittelmeerpolitik wird von zahlreichen Herausforderungen überschattet: Einführung des Euro, institutionelle Reformen, Osterweiterung, Wiederaufbau der Balkanländer. Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass die interregionale Kooperation nur sehr langsam vorankommt. Das liegt vor allem an der mangelhaften Prioritätensetzung, an der inflationären Vermehrung von Initiativen und an den vielen unzusammenhängenden Projekten, wobei die Situation noch durch die Süd-Süd-Rivalitäten und die Heterogenität der Partner des südlichen Mittelmeers erschwert wird. Es fehlt an politischen Impulsen, die europäische Strategie ist festgefahren in einem institutionellen Labyrinth aus „Myriaden von Mini-Aktions-Projekten“3 . Zwischen 1995 und 2000 sind knapp 4,6 Milliarden Euro an EU-Geldern in die Nord-Süd-Partnerschaft geflossen, und in Marseille wird man diesen Betrag auf 5,5 Milliarden für die Jahre 2000 bis 2005 aufstocken.
Die Gemeinschaft wird nicht umhin kommen, ernsthaft über die Agrarpolitik im Mittelmeerraum nachzudenken. Kann sie wirklich auf lange Sicht den Ländern des Südens die Aufhebung der Zölle für ihre eigenen Industrieprodukte vorschreiben und gleichzeitig eine allmähliche Öffnung ihrer Märkte zugunsten der Agrarprodukte des Südens auf Dauer verweigern? Eine zweite Frage, betrifft die künftige Art der Agrarproduktion: Soll der – subventionierte – Export von in extensiver Landwirtschaft produzierten Agrargütern aus dem Norden in den Süden weiterhin Priorität haben – oder doch eher die weitgehende Bedarfsdeckung des Südens durch einheimische Produkte.
Eine weiterer Punkt, in dem die Gemeinschaft sich sehr viel stärker engagieren müsste, ist die Bildung. So gibt es etwa den Plan, in jedem Land des Südens ein universitäres Zentrum einzurichten, das die Unterrichtsstandards einer guten europäischen Universität erfüllt. Damit ließen sich Spezialisten ausbilden, und zwar mit viel weniger Geld, als Stipendien kosten, und ohne dass in Europa ausgebildete Studenten nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren.
Dem Süden fehlt es an einem ernst zu nehmenden Fürsprecher, der seine Sache im Norden vertritt. Manche Beobachter meinen, Frankreich sei „für diese Rolle geradezu prädisponiert“4 – aufgrund seiner maßgeblichen Position im europäischen Einigungsprozess, seines Einflusses in der Region und der transmediterranen Bindungen, die seit langem auf privater Ebene bestehen.
Seit fünf Jahren ist die EU sehr darum bemüht, sich stärker in den Nahost-Friedensprozess einzubringen, in der Dauerkrise zwischen Algerien und Marokko dagegen verhält sie sich nahezu passiv.
Ein Mangel an strategischer Vision und das Gewicht traditioneller Interessen scheinen allzu häufig mutige politische Initiativen zu lähmen. Man erinnere sich nur, wie wenig Begeisterung Frankreich und die EU an den Tag legten, als es darum ging, die Kräfte zu unterstützen, die 1989 in Algerien wirtschaftliche und politische Reformen in Gang gesetzt haben.
Die EU-Kommission schlägt vor, finanzielle Programme für den Süden sollten ausdrücklicher an die Fortschritte bei der Umsetzung der Assoziationsverträge gebunden sein. Im Süden hält sich allerdings nach wie vor die Überzeugung, die Mittelmeerpolitik der Gemeinschaft sei im Wesentlichen ein Instrument Frankreichs, Italiens und Spaniens, um die europäischen Exporte in den Süden zu steigern, während zugleich die Zunahme des Warenverkehrs in umgekehrter Richtung möglichst gering gehalten wird.
Die führenden Politiker der südlichen Mittelmeerstaaten müssen ihrerseits begreifen, dass ohne grundlegende Veränderungen in ihren Ländern die Entwicklung in der Sackgasse landet. Die Handelsbilanzdefizite wachsen aufgrund struktureller und konjunktureller Faktoren und werden immer weniger durch die unsichtbaren Faktoren kompensiert (die Geldüberweisungen von Emigranten lassen stark nach, die Einnahmen aus dem Tourismus sind stark schwankend). Die Hoffnung, diesen Trend umzukehren, gründet sich im Wesentlichen auf die deutliche Erhöhung der Auslandsdirektinvestitionen durch einen erweiterten nichtöffentlichen Sektor sowie auf eine Reform des Spar-, Kredit- und Steuersystems.
Sind die Mittelmeerpartner in der Lage, sich diesen Herausforderungen zu stellen? Können sie die klientelistischen, korrupten Netzwerke zerschlagen und neben dem Aufbau eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens eine konkurrenzfähige Wirtschaft fördern und – allgemeiner ausgedrückt – eine Zivilgesellschaft aufbauen, die ihre Zukunft in die eigene Hand nimmt? Denn genau darum geht es. Die Rolle, die dabei die EU bestenfalls spielen kann, ist die eines „schwachen äußeren Katalysators“. Was kann ein Finanzprogramm in Höhe von einem Prozent des Bruttosozialprodukts aller Mittelmeerländer denn ernsthaft bewirken?
Das Handelsbilanzdefizit der Partnerländer des südlichen Mittelmeers beläuft sich auf insgesamt vierzig Milliarden Dollar. Seit 1992 hat sich dieses Defizit verdoppelt. Es gibt drei denkbare Lösungen, um es auszugleichen: Die erste wäre „ein Transfer der europäischen Ersparnisüberschüsse in Form privater Investitionen“. Die zweite Lösung wäre der Transfer zinsloser öffentlicher Darlehen, allerdings „[stünde] eine derartige Maßnahme in einer Gesamtsituation, die eher von Misstrauen gegenüber der Wirksamkeit solcher Transfers geprägt ist, im Widerspruch zu den auf globaler Ebene zu beobachtenden Entwicklungen“.5 Vor allem aber könnte sie nicht den gesamten Bedarf decken. Die dritte Lösung wäre eine Erhöhung der Transfers an ausländischen Arbeitskräften, was derzeit illusorisch erscheint.
Die Auslandsdirektinvestitionen spielen zwar eine immer größere Rolle in der Region, aber die Kapitalströme sind nach wie vor sehr bescheiden. Zahlreiche Beispiele lassen allerdings erkennen, dass die südlichen Mittelmeerländer durchaus in der Lage sind, erhebliche Kapitalsummen anzuziehen. Algerien ist dies beispielsweise in der Mineralölindustrie sogar zu einer Zeit gelungen, als es äußerst kritisch um die innere Sicherheit des Landes stand.
Tunesien, dessen Auslandsinvestitionen traditionell im Energiesektor konzentriert waren, hat 1999 knapp siebzig Prozent der Auslandsdirektinvestionen in die industrielle Fertigung geleitet. Marokko hat durch die Versteigerung seines zweiten GSM-Netzes 1999 insgesamt 1,1 Milliarden Dollar eingenommen, die in einen Sozialfonds fließen sollen.
Alle Studien zeigen, dass die Länder, die in den letzten Jahren am stärksten auf Öffnung gesetzt haben, zugleich die meisten Arbeitsplätze geschaffen haben. Damit diese günstigen Auswirkungen in der gesamten Region spürbar werden, müssen die südlichen Mittelmeerländer dreierlei Hindernisse aus dem Weg räumen:
– Die Transportkosten sind immer noch zu hoch und die Zollformalitäten zu langwierig und zu kostspielig. Nach wie vor gibt es – selbst in einem Land wie Tunesien – zahlreiche nichttarifliche Handelshemmnisse. Die Qualität der Finanzdienstleistungen ist eher bescheiden, da das Bankenwesen meist außerordentlich restriktiven Bestimmungen unterliegt. Doch für Marokko sind in diesem Sektor bereits gute Fortschritte zu verzeichnen, und in Algerien können sich nun einige ausländische Banken niederlassen wie Citibank, Natexis und Société Générale.
Dies steht aber immer noch in deutlichem Kontrast zu den Ländern Südostasiens mit ihren großen Kreditbanken, die entscheidend zu Industrialisierung und Wohlstand der Region beigetragen haben. Die Auslandschinesen haben bei der Industrialisierung ihres Heimatlandes eine Schlüsselrolle gespielt, im Mittelmeerraum dagegen schlummert das auf 150 Milliarden Dollar geschätzte Kapital des Südens auf den Konten westlicher Banken.
Zum zweiten fehlt es an kohärenten Gesamtlösungen: Die Attraktivität Südostasiens für die Fertigung elektronischen Materials liegt bis zu einem gewissen Grad natürlich an den Lohnkosten, vor allem aber auch an der Tatsache, dass man hier Bauelemente in der Regel zu sehr viel niedrigeren Preisen bekommt als in den Industrieländern. Überdies ist die praktizierte Politik nach wie vor restriktiver als die gesetzlichen Bestimmungen. Stromversorgung und Telekommunikation stehen internationalen Betreibern kaum offen, obwohl diese beiden Sektoren ein Drittel der Investitionen auf sich vereinen.
Das letzte Hindernis hängt mit dem Klima der Rechtsunsicherheit zusammen. Bei wichtigen Abkommen kann man sich natürlich an internationale Schiedsgerichte wenden, aber für das Gros der Handelsverträge und für den in der Region so stark vertretenen Mittelstand ist es schlicht unrealistisch, solche Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen.
Der Zugang zum europäischen Markt und der sich daraus ergebende finanzielle und institutionelle Transfer sollten verbindlich an Fortschritte bei den Wirtschafts- und Sozialreformen gekoppelt werden. Das würde sowohl den Ländern des südlichen Mittelmeers als auch den internationalen Investoren signalisieren, dass Europa sich nicht vom Mittelmeer abwendet. Die Schaffung eines euromediterranen Forums würde den institutionellen Dialog unterstützen und könnte mit dafür sorgen, dass die Investitionen auch der lokalen Bevölkerung zugute kommen.
Doch unabhängig von Qualität und Quantität aller zukünftigen EU-Hilfen: Es liegt in der Verantwortung der Länder des Südens, Veränderungen zu initiieren, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Sie müssen beweisen, dass sie vollwertige Partner im Dialog mit Europa sein wollen.
Für Europa geht es um die Sicherheit an seiner Südflanke. Klar ist aber auch, dass die Partnerschaft, solange es keinen Dialog zwischen den Zivilgesellschaften an beiden Küsten des Mittelmeers gibt, ausschließlich eine Angelegenheit von Technokraten, Bankern und Geschäftsleuten bleiben wird. Sollte der in Barcelona eingeleitete Prozess wirklich scheitern, würde das Thema lediglich als sicherheitspolitische Frage auf die europäische Tagesordnung kommen und mit aller Wahrscheinlichkeit zu fatalen Folgen führen – zur Eskalation regionaler Konflikte und zur weiteren Marginalisierung der Region.
dt. Matthias Wolf
* Journalist, Mitglied des Comité Scientifique de l’Institut de la Méditerranée.