Ein Ethnologe auf Wohnungssuche in Paris
Von MARC AUGÉ *
REVOIR Paris – Paris wiedersehen: Der Wunschtraum, der in diesem hübschen Refrain von Charles Trenet besungen wird, liegt für so manchen Geldbeutel in unerreichbarer Ferne. Ein Kurzaufenthalt mag noch angehen: Bei Unterbringung in einem billigen Hotel an der Peripherie können auch weniger betuchte junge Leute die Hauptstadt kennenlernen, ohne sich zu ruinieren. Etwas anderes ist es freilich, dauerhaft in Paris zu leben. Man braucht eine Wohnung, die bezahlt sein will, und um sie zu bezahlen, müssen Sie einen Vermieter finden, dem Ihr Geld gut genug ist.
Die Wohnungssuchenden tun ihr Bestes. Benachrichtigen die Eltern, dass sie schon einmal die Brieftasche zücken sollen oder eine Bürgschaft für ihre Sprösslinge werden übernehmen müssen. Tun sich zusammen in der Hoffnung, dass zwei oder drei spärliche Geldquellen zusammen als ein mittleres Einkommen durchgehen. Der Vermieter seinerseits träumt von einem einträglichen Mietverhältnis – vorzugsweise ohne Mieter. Will sagen, so teuer wie möglich an jemanden mit gesichertem Einkommen vermieten, der aber anderswo lebt, beispielsweise im Ausland. Wenn man doch eine Wohnung auf Lebenszeit – als eine Art Leibrente – vermieten könnte, die man dann bis zum Tod des Mieters für sich behalten würde! Ich übertreibe natürlich und verallgemeinere. Oder sagen wir, ich verallgemeinere ein wenig, aber ich übertreibe nicht besonders.
Einige Leser werden sich vielleicht erinnern, dass ich im vergangenen Jahr auf der Suche nach einem Landhaus war, um dort das ganze Jahr zu verbringen.1 Wunderbarerweise wurde ich recht schnell fündig und lebe jetzt in der Bretagne. Da ich aber regelmäßig nach Paris fahre, brauche ich dort eine Bleibe: nicht zu klein (um Luft zum Atmen zu haben) und nicht zu groß (um sie bezahlen zu können). Kurz, zwei oder drei Zimmer auf fünfundfünfzig bis sechzig Quadratmetern.
Meine Ansprüche decken sich also mit denen junger Singles oder Paare, deren Einkommen zu gering ist, um eine Vierzimmerwohnung anzumieten, und deren Zukunft zu ungesichert ist, um etwas auf Kredit kaufen zu können. Ich sah mich also mit einer Erfahrung konfrontiert, die sich von der vorherigen merklich unterschied. Als potenzieller Käufer war ich in der Position der Stärke. Als ein Wohnungssuchender unter vielen bin ich Bittsteller.
Das Drama zwischen Wohnungssuchendem und Vermieter vollzieht sich in drei Akten: Die Anzeige, der Anruf und die Besichtigung. Dem Anschein nach ist die Wohnungsanzeige eine gewöhnliche Kleinanzeige, aber wirklich nur dem Anschein nach – eröffnet sie doch ungeahnte Raumphantasien. Ihre Verführungskraft liegt zum Teil im Heraufbeschwören des Innenraums („großes Wohnzimmer“, „Balkon“, „Wandschränke“, „Doppelfenster“, „Kamin“, „Parkettboden“) sowie der räumlichen Umgebung: schöner Ausblick (manchmal), Blick auf den Hof (meistens), hell (grundsätzlich), Nähe zu Schule, Geschäften, Métro – Angaben, die diesem erträumten Ort einen zunehmend vertrauten Anstrich geben.
Selbst der optimistische Leser lernt schnell, diese Botschaften zu dechiffrieren. Die erste Regel der Immobilienhermeneutik ist einfach: Was nicht dasteht, gibt es nicht. „Fünfter Stock“ bedeutet fünfter Stock ohne Aufzug, „Küche“ Küche ohne Einbauten. Die Formulierung „Kaution und Nebenkosten inklusive“ gibt zu verstehen, dass die Summe der Nebenkosten die der Kaution übersteigt und dass diese Kosten weder Heizung noch Warmwasser beinhalten. Die zweite Regel ist poetischer: Ein Adjektiv kann ein anderes verbergen. Ist eine Wohnung beispielsweise „ruhig und sonnig“, dann geht sie auf den Hof; ein „pfiffiges“ Studio hat nie mehr als zwanzig Quadratmeter; ist der Zustand „gut“, könnte er besser sein.
BEI der Lektüre einer Anzeige kann der potenzielle Mieter gelegentlich den Eindruck haben, als sei sie an ihn persönlich gerichtet. Schon hält er sich für den Glücklichen, sieht sich bereits in dieser ruhigen Wohnung mit Stuckdecken, Marmorkamin und Blick auf den Hof. Er greift zum Telefon und wählt gerührt die schicksalhafte Nummer. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bittet ihn ein Anrufbeantworter um Hinterlassung seiner Rufnummer. Oder aus dem Hörer tönt die Stimme des Vermieters. Und die Schwierigkeiten beginnen.
Logischerweise möchte der Wohnungssuchende Genaueres über die Art der Heizung, die Küchenausstattung, die Größe der Wohnung erfahren. Der Vermieter hält sich jedoch mit derlei Kinkerlitzchen nicht auf. Was ihn interessiert (denn er hat, sagt er, schon eine Menge Bewerber), sind Beruf, Familienstand, ja sogar das Liebesleben seines Gesprächspartners. Er möchte alles wissen: „Sie sind zu zweit? Sehr gut. Verheiratet? Noch besser. Aber wenn Sie sich trennen?“ Denn der Vermieter weiß, dass ein Bewerber für eine Zwei- bis Dreizimmerwohnung am Beginn seiner Berufslaufbahn steht, und diese soziale und berufliche Unsicherheit macht ihn nervös.
Da mein Alter und Persönlichkeitsprofil nicht in dieses Schema passen, führte ich einige ziemlich ulkige Gespräche mit Vermietern. Sie waren von meinen – in ihren Augen gotteslästerlichen – Antworten aus der Fassung gebracht, während ich eher ihre Fragen als beleidigend empfand. Ein vornehm klingender Herr, der mich nach meinem Beruf fragte, bekundete zunächst seine Zufriedenheit, als er erfuhr, dass ich Beamter bin, dann sein Erstaunen, als ich ihn nach seinem Beruf fragte – ich möchte schließlich auch nicht bei irgendwem zur Miete wohnen. Und eine Frau, die sich erkundigte, ob ich verheiratet sei, reagierte deutlich pikiert, als ich ihr die entsprechende Rückfrage stellte. Meine Frage war schließlich nicht durch die legitime Sorge um ein solides Mietverhältnis motiviert. Ist die erste Hürde des Anrufs überwunden, kann der Bewerber zur entscheidenden Prüfung zugelassen werden: der Wohnungsbesichtigung. Hier schürzt sich der Knoten des Dramas, auf zweierlei mögliche Arten.
Die Einzelbesichtigung nach Vereinbarung ist der Modus von Vermietern, die ein wenig Zeit, manchmal eine gewisse Lebenserfahrung und sehr häufig weniger Bewerber haben als die anderen – sei es, weil ihre Wohnung zu teuer, schlecht gelegen oder in keinem guten Zustand ist. Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, ein nettes Gespräch mit dem glücklichen Besitzer einer Wohnung zu führen, die, im neunten Stock gelegen, komfortabel und geräumig war, aber eingekeilt zwischen RER und Ringautobahn: Zaghaft erwähnte er mir gegenüber die Doppelverglasung (die auch nötig war) und den unverstellten Blick. Zu beiden Seiten erstreckten sich bis in weite Ferne Bauten aus den sechziger Jahren und große Freiflächen, Plakatwände und Schnellverkehr. Ich betrachtete all das schweigend, erstarrt, von einer Art Schwindel gepackt: Täglich über den aggressivsten Erscheinungen unserer Moderne zu schweben – ob mich das vielleicht inspirieren könnte? Er sah mich für einen Sekundenbruchteil zögern, dann die Fassung wiedergewinnen. Nach einem abschließenden Hinweis auf die im Preis enthaltenen Park- und Heizkosten nahmen wir höflich Abschied voneinander.
EINE andere Einzelbesichtigung verlief weniger nett. Der Hinweis „Blick auf die Seine“ hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Da das Haus renoviert wurde, hatte der Besitzer die Fensterläden geschlossen. Ich schlug ihm vor, sie zu öffnen. Der Blick aus dem zweiten Stock reichte nicht sehr weit, da er von der Uferbebauung blockiert wurde, dazwischen erahnte man das glitzernde Funkeln der Sonne: ein Fragment der Seine, ein Zitat. „Voilà, die Seine“, erklärte er, während er die Fensterläden eilig und ein wenig gereizt wieder schloss, weil er, wie ich auch, den Lärm der Autos gehört hatte. „Und das sind dann die Möbel; ich vermiete möbliert“, fügte er, einmal in Fahrt gekommen, hinzu und wies rachsüchtig auf den durchgesessenen Diwan und die drei Stühle.
Die Besichtigung, die diesen Namen verdient, ist jedoch die Massenbesichtigung. Frühzeitig vor dem angegebenen Termin warten unten schon die Aspiranten. Irgendwann erscheint der Besitzer (oder die Besitzerin) und bittet alle, sich im Treppenhaus in Reih und Glied aufzustellen, wobei er selten der Versuchung widersteht, den Reisebegleiter zu spielen: „Seien Sie bitte leise, die Mieter sind noch nicht ausgezogen.“ In dieser Ermahnung verrät sich mir eine Verlogenheit ganz im Sartreschen Sinne. Die Besitzer tun so, als bestünde die Taktlosigkeit nicht darin, den Vormietern eine Besichtigung ihrer Schlaf- und Badezimmer zuzumuten, um nur ja keinen Mietausfall zu riskieren, oder dem künftigen Mieter zwei Monatsmieten Kaution abzupressen. Nein, taktlos wäre es, im Treppenhaus Lärm zu machen.
Weitere Taktlosigkeiten: den eigens für die Bewerber vorbereiteten Fragebogen nicht sorgfältig auszufüllen, nicht präzise und bescheiden auf die Erkundigungen des Vermieters zu antworten. Fast hätte ich geschrieben, des Arbeitgebers – denn das Gespräch nimmt zuweilen Züge eines Einstellungsgesprächs an. Wohnungssuchende, Arbeitssuchende: das macht kaum einen Unterschied in den Augen derer, die immerhin die Miete einstreichen werden. Wenn es viele Bewerber gibt, heißt es am Ende: „Sie werden von uns hören.“
Die Atmosphäre in der Warteschlange zeugt von Wohlerzogenheit. Diejenigen, die von einer Pariser Zwei- bis Dreizimmerwohnung träumen, sind keine Querulanten, sondern meist hellhäutige junge Leute, die die Spielregeln längst akzeptiert haben. Genuine Hauseigentümer, so viel kann man sagen, zählen nicht eben zu den vornehmsten Vertretern des französischen Bürgertums. Einige haben es immerhin selbst zu einer Wohnung gebracht. Andere haben einfach geerbt.
Kurz, die Wohnungsbesichtigung ist ein Stelldichein von Leuten, die nicht wirklich arm sind, und Leuten, die nicht wirklich reich sind. Alle sehen aufs Geld. Keiner macht sich über den anderen Illusionen. Ungeachtet der Kleinanzeigen und Gespräche sind sie nicht bereit, es bei leeren Phrasen bewenden zu lassen. Ein Mietvertrag für die einen. Gehaltsstreifen, Steuerbelege, Kautionen, Bürgschaften für die anderen. Aber das letzte Wort hat der Eigentümer.
dt. Christian Hansen
* Ethnologe, Autor von „Orte und Nicht-Orte“. Frankfurt am Main 1994