15.12.2000

Moderne Zeiten im Zeichen des Internets

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Moderne Zeiten im Zeichen des Internets

Von MARTINE BULARD *

INTERNET, Intranet, Notebook und Handy gehören heute zur Normalausstattung des modernen Arbeiternehmers. Die beispiellose Konvergenz von Telekommunikation und Datennetzen bietet die Möglichkeit, Informationen auszutauschen, Wissen miteinander zu teilen und rund um den Globus oder auch nur von einem Büro zum anderen zu kommunizieren. Eine Revolution ist im Gange, die die zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso umwälzt wie die Produktionsweise von Wert und Profit. „Gehandelt werden nicht mehr Güter, sondern Dienstleistungen“, erklärt der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin am Beispiel des Telefons: Bisher verkaufte man das Gerät und schenkte dem Kunden zwei Jahre Garantie; heute „bekommen Sie das Gerät geschenkt, wenn Sie ein Zweijahres-Abonnement unterschreiben“1 . Das bedeutet zwar nicht das „Ende der Arbeit“, das Rifkin vor einigen Jahren vorausgesagt hatte, aber eine Umwälzung der Arbeitsbedingungen. Heute werden mindestens ebenso sehr Kompetenzen und Können verkauft wie Produkte, was zur Folge haben könnte, dass sich die alltäglichen Arbeitsbedingungen von Grund auf verändern.

Derzeit führt die Informations- und Kommunikationstechnik – als Abkürzung hat sich IKT eingebürgert – sehr viel häufiger zu einer Intensivierung der Arbeit als zu beruflicher Bereicherung. „Der Arbeitsrhythmus unterliegt immer stärkeren Zwängen: Schichtarbeit nimmt nicht ab, sondern zu“, heißt es in einem Bericht des Commissariat général du Plan2 . Sogar in Bereichen, die gestern noch davon verschont waren, gehört Schichtarbeit heute zur Normalität. Im Dienstleistungssektor stieg der Anteil der Arbeitnehmer mit wechselnden Arbeitszeiten zwischen 1984 und 1998 von 19 Prozent auf 43 Prozent.

Nicht dass die Qualifikationsanforderungen unbedingt sinken würden. Im Gegenteil: In den meisten Fällen erfordern die neuen Arbeitsmittel vielfältigere Kenntnisse und mehr Eigeninitiative, um die hereinströmenden Informationen zu verarbeiten. Doch die Zeit, die durch die Automatisierung bestimmter Aufgaben und das Arbeiten in vernetzten Zusammenhängen auf der einen Seite frei wird, verschwindet auf der anderen sogleich unter dem Druck wachsender Zwänge.

Die Soziologin Danièle Linhart hat die Arbeitsbedingungen in der Industrie, bei großen Telefongesellschaften und bei der Kindergeldbehörde unter die Lupe genommen: „Die Arbeitnehmer sehen sich mit zwei widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert: Einerseits sollen sie mehr Verantwortung übernehmen, andererseits mehr Kontrollen über sich ergehen lassen. Sie müssen auftretende Probleme lösen und elementare Diagnosen stellen, aber der Zeitdruck ist noch immer derselbe. Beide Anforderungen sind untrennbar mit ihrer Arbeit verknüpft, und den damit einhergehenden Widerspruch müssen sie selber lösen. Wer es nicht schafft, ist für die Arbeit ungeeignet.“3 Mit anderen Worten: Er befindet sich im Vorzimmer der Arbeitslosigkeit.

Das Internet hat dieses Phänomen zwar nicht erfunden, aber verschärft. Die neuen Kommunikations- und Informationsverarbeitungssysteme ermöglichen es, mehr Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen. Ihre Nutzung erfordert vielfältige Kompetenzen, Eigeninitiative, Gruppenarbeit – und vor allem genügend Zeit, um die wiederholt auftretenden Pannen zu beheben. Auch ermöglichen sie einen direkteren und schnelleren Kontakt zum Kunden oder zum Nutzer. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass die personelle Ausstattung stimmt. Die Beschäftigten müssen hinreichend ausgebildet sein und genügend Zeit zur Verfügung haben, um die eingehenden Anfragen angemessen beantworten zu können. In den meisten Fällen, schreibt Danièle Linhart, „leiden die Menschen weniger unter den Anforderungen als unter der Behinderung ihrer Arbeit“. Frustration und Stress sind die Folge, denn der Kunde erwartet die Antwort, die Lieferung oder die Dienstleistung in immer kürzerer Frist. Immer seltener greifen die Unternehmensleitungen daher auf autoritäre Anweisungen zurück: Der Erwartungsdruck der Kunden reicht völlig. Re-aktiv sein, lautet die Devise, zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Eine „Gesellschaft der Dringlichkeit“ zeichnet sich ab, mit einer zunehmenden Zerstückelung der Arbeitsaufgaben, atypischen Arbeitszeiten und dem ganzen Rattenschwanz an Flexibilisierungsmaßnahmen im Gefolge. Dabei würden die neuen Technologien auch die Möglichkeit eröffnen, die Arbeit gemeinsam zu bewältigen, Abteilungsbarrieren abzubauen und die Kundendossiers als Ganzes zu bearbeiten. Die „horizontale Arbeitsorganisation“, wie das Zauberwort heißt, könnte der Arbeit neuen Sinn verleihen. Dies setzt allerdings voraus, dass man die Beschäftigten hinreichend ausbildet, die Betriebsorganisation überdenkt und hierarchische Strukturen einer kritischen Prüfung unterzieht – andernfalls ist der Versuch zum Scheitern verurteilt.

In den Neunzigerjahren führte ein großer französischer Automobilhersteller ein neues Organisationskonzept der Fertigungsinstandhaltung ein, mit dem erklärten Ziel, die Arbeit vielfältiger zu gestalten. Bestimmte Aufgaben, die bislang qualifizierten Technikern vorbehalten waren, fielen nun in den Zuständigkeitsbereich der Anlagenführer – wie die Fließbandarbeiter seit einiger Zeit heißen –, so dass den Technikern mehr Zeit für vorbeugende Wartungsarbeiten und Pannenprävention blieb. „Dass die Anlagenführer die Möglichkeit erhielten, selbst Einrichtungsarbeiten vorzunehmen, konnte als Öffnung hin zu einer vollständigeren Beherrschung des Arbeitsprozesses wahrgenommen werden“, schreibt Marie-Noëlle Picout, Doktorandin an der Universität von Evry, in ihrer Studie über die „aktive Instandhaltungsorganisation“ der erwähnten Unternehmensgruppe.4 Letztendlich erlebten die qualifizierten Instandhalter die neue Arbeitsorganisation jedoch als Identitätsverlust: Sie gewannen keine neuen Entscheidungsbefugnisse in anderen Bereichen hinzu (etwa bei der Wahl der Maschinenausrüstung). Die Anlagenführer wiederum empfanden die Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereichs als zusätzliche Belastung, und die Spaltung zwischen den beiden Personalgruppen blieb so tief wie eh und je. Marie-Noëlle Picout schließt: „Die Innovationen markieren weniger ein Verschwinden als einen Formwandel der tayloristischen Arbeitsteilung.“

So sehr die tayloristische Organisationslogik die erweiterten Kompetenzen und Qualifikationen der Beschäftigten berücksichtigt, so unverrückbar bestimmt sie weiterhin den Arbeitsprozess und so deutlich prägt sie die konkrete Konfiguration der Datenverarbeitungssysteme. Mit bestimmten Programmen lassen sich Daten automatisch einlesen und weiterleiten, ohne dass die Beschäftigten in diesen Prozess eingreifen könnten. Die digitale Vernetzung bietet zudem die Möglichkeit, Arbeitsabläufe weiträumig zu zersplittern und von verschiedenen Orten aus zu agieren. Die Nationale Behörde für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen (Anact) hält fest: Diese Systeme „zeigen nachhaltige Wirkung auf das Arbeitsplatzvolumen und die Proletarisierung der Mittelschichten“5 .

„Proletarisierung“: Das Wort käme Nadine Cussion spontan sicher nicht über die Lippen, auch wenn sie nicht weit davon entfernt ist, das damit Bezeichnete zu denken. Die leitende Angestellte einer großen Versicherungsgesellschaft war von der Notwendigkeit technologischer Neuerungen bislang fest überzeugt. Inzwischen jedoch sieht sich die Chefin der Abteilung Kfz-Versicherung unter Qualifikation eingesetzt: „Ich fühle mich eingespannt, ich habe überhaupt keinen Handlungsspielraum mehr. Früher hatte ich genügend Zeit, um mit meinen Mitarbeitern in bestimmten Fällen das weitere Vorgehen zu besprechen, oder wie wir auf den ein oder anderen Sonderfall reagieren sollen.“ Gerade diese „Unwägbarkeiten des Verhaltens“, wie es in der Terminologie der neuen Management-Gurus heißt, suchen die automatisierten und parzellisierten Informationsverarbeitungssysteme auf ein Minimum zu reduzieren.

Die Befehle laufen weiterhin von oben nach unten. Der Bildschirm hat den zwischenmenschlichen Kontakt abgelöst, und die Beschäftigten fühlen sich vielfach noch isolierter und abgeschotteter als früher. Nicht selten erfahren sie von neuen Produktionszielen, Arbeitsvorgaben und Änderungen im Herstellungsprozess oder in der Aufgabenorganisation nur über das hauseigene Intranet.

Jeder erhält die Mitteilungen zur gleichen Zeit; und es bleibt kein Platz mehr für Abteilungs- und Betriebsversammlungen – im Manager-Jargon vornehmlich als „zeitfressend“ betitelt – oder für das direkte Gespräch, in dem man seine Fragen und Probleme äußern konnte, ohne dass die anderen mit dem Finger auf einen zeigten. Jeder hat sich allein durchzuwursteln, um mit den Veränderungen Schritt zu halten. „Man arbeitet ohne Auffangnetz“, erklärt ein Techniker einer Automobilfabrik. Früher reichte es, seinen Beruf zu verstehen. Heute muss man sich im Betrieb sein eigenes Netzwerk schaffen, man muss wissen, wo man sich die nötigen Kompetenzen besorgt, und man muss ständig auf dem Laufenden bleiben. Der Kontakt zu den Kollegen in anderen Fertigungsabteilungen ist leichter geworden. Man kann den chinesischen Zulieferern jetzt Aufträge schicken, ohne an die Zeitverschiebung zu denken. Das Problem dabei ist nur: „Man muss das körperlich, geistig und technisch durchhalten.“

Der Leiter des „Studien- und Bildungszentrums für die Begleitung des Wandels“ Yves Lasfargue fasst die Situation folgendermaßen zusammen: „Nur weil man über mehr Daten verfügt, besitzt man noch lange nicht mehr Kenntnisse. Die Netze ermöglichen zwar den Austausch von Daten, ganz sicher aber nicht von Wissen.“6

Was ist in diesem Zusammenhang davon zu halten, dass Großunternehmen wie Siemens oder die Banque Populaire Software zur Selbstevaluation einführen? Manche Angestellte sehen darin eine Möglichkeit, Druck auf ihre Vorgesetzten auszuüben, um (endlich) die lang ersehnte Fortbildung zu bekommen. Aber die meisten Befragten misstrauen der Übung. Sie befürchten, dass die Unternehmensleitung sie nur überwachen will – was Letztere natürlich von sich weist. Mehr als formale Garantien hat sie jedoch meist nicht zu bieten. Und die zunehmende Zahl von Entlassungen wegen privaten Surfens am Arbeitsplatz beweist zur Genüge, dass die Direktion jeden Arbeitsplatzrechner überwachen kann.

Die Beschäftigten empfinden solche Tests als Druckmaßnahme der Unternehmensleitung: Sie sollen sich den neuen Anforderungen anpassen. Manch einer bildet sich deshalb außerhalb der Arbeitszeit auf eigene Faust fort, um die Norm erfüllen zu können. Experten zufolge arbeiten derzeit 37 Prozent der Arbeitnehmer über sechseinhalb Wochenstunden zu Hause an ihrem PC – was Danièle Linhart zu der Bemerkung veranlasst: „Der Arm der Arbeit wird immer länger und reicht vielfach schon in die häusliche Sphäre hinein.“ Und am Ende der Selbstevaluation findet sich der Beschäftigte, der allein vor seinem Bildschirm sitzt, mit sich selbst konfrontiert, mit Resultaten, auf die er nicht gefasst war. Daran kann man zerbrechen.

Manche halten dem Druck nicht stand, fühlen sich ausgegrenzt, an den Rand gedrängt, als „Analphabeten“ der neuen Technologien stigmatisiert. In vielen Unternehmensabteilungen zeigt sich ein dreifacher Bruch: sozial, kulturell und durch die Generationen. Wer bereits am PC gescheitert ist, gilt mit der Einführung des Internets endgültig als Steinzeitmensch. Nach Angaben der Association pour l'Emploi des Cadres sind 48 Prozent der französischen Abteilungsleiter und leitenden Angestellten noch nie durchs Internet gesurft.

Der Abstand zu den Jüngeren, für die das Internet mit seinem flexibleren Informationsfluss zum Alltag gehört, wächst rapide. Auch haben die Jüngeren ein ganz anderes Karriereverständnis: „Sie sind im Gegensatz zu den Älteren nicht fest formatiert“, meint Eric Lhomme, Leiter der Abteilung „Human Ressources“ bei der Consulting-Firma Algoë. „Sie erwarten schnelle Anerkennung, schnelle Aufstiegsmöglichkeiten und schnelle Einkommensverbesserungen.“ Man kann sie zwar immer noch mit Aktien-Optionen bezahlen, doch das Problem der „Mitarbeiterbindung“ ist damit nicht gelöst: Inzwischen fahren leitende Angestellte eine zweigleisige Karriere innerhalb eines Betriebs, und das will gemanagt sein. „Das hergebrachte Personalmanagement der Human-Ressources-Abteilungen greift da nicht mehr.“

Überdies zerreißt mit den Veränderungen der Globalisierung und des Internets das Netz der innerbetrieblichen sozialen Beziehungen. Moderne Unternehmen organisieren sich mehr und mehr in konzentrischen Kreisen: im Zentrum hoch qualifizierte und hoch bezahlte Mitarbeiter mit Pensionsfonds, mobil und selbständig arbeitend; in der Mitte Beschäftigte, deren Qualifikationen als nützlich gelten, mit festen Arbeitszeiten, anständiger Bezahlung, aber ohne Anspruch auf Aktien-Optionen; und am Rand schlecht bezahlte Wegwerf-Arbeiter mit flexiblen Arbeitszeiten und zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen.

Als Paradebeispiel für diese Entwicklung seien die überall aus dem Boden schießenden Callcenter (per Telefon oder Online) genannt. Wenngleich sie in den Medien unendlich weniger Aufmerksamkeit finden als die viel beschworenen Start-up-Unternehmen, symbolisieren auch sie die Neue Ökonomie. Mit jährlichen Wachstumsraten von 16 Prozent beschäftigen die Callcenter in Frankreich derzeit 120 000 Arbeitnehmer, europaweit rund eine Million.7 Die Palette der angebotenen Dienste reicht von der Wartung von Computersystemen über Telemarketing und Bankgeschäfte bis hin zu Service und Support. Der Blick in ein solches Büro zeigt vielfach ein beklagenswertes Schauspiel: Headset-bewehrte Köpfe mit kleinen Antennen daran so weit das Auge reicht, flinke Hände, die über die Tastatur huschen, Augen, die zwischen Bildschirm und Warteschlangenanzeige hin- und herwandern, angespannte Gesichter – das sind die modernen Zeiten im Hotline-Format.

Das Durchschnittsalter in diesen Unternehmen liegt bei 25 Jahren, die Personalfluktuation bei 30 Prozent – ein Rekord, der sonst wohl nur in der Fastfood-Restauration erreicht wird. Die meisten Beschäftigten werden nach der Zahl der Anrufe oder der an Land gezogenen Kunden bezahlt. Manche werden von ihrem Callcenter an interessierte Unternehmen weitervermittelt: Sie arbeiten zu Hause und müssen ständig erreichbar sein. Eine tarifvertragliche Absicherung kennen die Heimarbeiter nicht. Die Neuheit ihres Berufs macht es leicht, die Sozialgesetzgebung zu umgehen – was die großen Unternehmensgruppen nicht hindert, den Service ins noch kostengünstigere Ausland zu verlagern. Air France zum Beispiel hat sein Reservierungszentrum in Wembley aufgeschlagen.

Die Angestellten der Schweizer Telefongesellschaft Mobilzone haben gar Lohnabzüge zu gewärtigen, sollten die gewonnenen Kunden ihren Vertrag kündigen oder eine schlechte Zahlungsmoral an den Tag legen.8 „Clawback“ – Zurückkrallen – heißt das im Management-Jargon. Die Arbeitnehmer tragen das Verkaufsrisiko, und die Arbeitgeber heimsen die Profite ein.

Bei France Télécom, dem ältesten und größten Marktteilnehmer in diesem Bereich, sind solche Praktiken unbekannt. Die für die meisten Beschäftigten geltende allgemeine Betriebsvereinbarung bietet hier einige Garantien. Dennoch sind die Arbeitsbedingungen beschwerlich – wie der Sekretär der Gewerkschaft SUD-PTT Olivier René unterstreicht –, und die erforderlichen Qualifikationen finden keine angemessene Anerkennung. In der Kundendienst-Hotline, die technische Anfragen und Reklamationen zu bearbeiten hat, müssen die Beschäftigten „je nach Produkt mit vielen verschiedenen Software-Programmen zurechtkommen und sich dabei gleichzeitig mit dem Kunden auseinander setzen. Sie unterliegen daher doppeltem Stress: durch den (nicht immer liebenswürdigen) Kunden und durch die Komplexität der Maschine.“ Überdies müssen sie ständig das „Wallboard“ im Auge behalten, das die Anzahl der Anrufe in der Warteschleife anzeigt. „Der Beschäftigte sieht sich schizophrenen Anforderungen ausgesetzt: Auf der einen Seite erwartet die Unternehmensleitung von ihm Qualität (zufriedene und treue Kunden), auf der anderen soll alles ganz schnell gehen. Das ist oft nicht miteinander zu vereinbaren.“

Auch die leitenden Angestellten bleiben nicht verschont. Seit Einführung des neuen 35-Stunden-Gesetzes müssen sie in (offiziell) kürzerer Zeit dasselbe Arbeitsquantum bewältigen. Mit den neuen Kommunikationsmitteln erwartet man von ihnen ständige Erreichbarkeit. Jede E-Mail-Nachricht gilt ipso facto als angekommen, während ein Brief verspätet eintreffen, ein Fax im Betriebsablauf untergehen, das Telefon umsonst klingeln kann. Ein leitender Angestellter erhält am Tag durchschnittlich 80 E-Mails. Nimmt man die Voicemail (digitaler Anrufbeantworter) hinzu, so benötigt er jeden Morgen 20 bis 30 Minuten, um die eingegangenen Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen und zu sichten. Wer nicht in seinen Briefkasten schaut, macht sich von vornherein schuldig. Der Druck kommt von drei Seiten: Die Vorgesetzten gehen davon aus, dass jede Anweisung augenblicklich ihren Adressaten erreicht; die Kunden denken, dass jeder Auftrag sogleich bearbeitet wird; und die Untergebenen rühren keinen Finger mehr, ohne zuvor den Chef zu „informieren“, der bei eventuellen Fehlern im Regen steht, wenn er die Nachricht nicht rechtzeitig gelesen hat. Gerade Letzteres hat sich zu einem weit verbreiteten Sport entwickelt, der in manch einem französischen Büro den Spitznamen „E-Regenschirm“ trägt.

Anzunehmen ist, dass solche Praktiken die Unternehmensorganisation weitaus stärker destabilisieren als jeder horizontale Informationsaustausch, der die Autoritätsstrukturen unterlaufen könnte. Gewiss, jeder Beschäftigte hat im Prinzip die Möglichkeit, eigene Vorschläge und Forderungen an seinem Vorgesetzten vorbei direkt an die Unternehmensleitung zu adressieren. Auch kann er seine Kritik an absurden Entscheidungen ohne größeren Aufwand an alle Kollegen rundschicken. Allerdings scheint die Infragestellung der Unternehmenshierarchie mit solchen Methoden eher selten zu sein. Es ist sogar so, dass in vielen Unternehmen diese Kritik erwünscht ist, bietet sie der Direktion doch die Gelegenheit, ältere Führungskräfte loszuwerden und organisatorische Veränderungen zu beschleunigen.

Die Führung der Unternehmensberatung Arthur Andersen wusste diese Vorgehensweise radikal auszunutzen. Hier ist man der der Ansicht, dass die „hierarchischen Strukturen in ihren Dependancen zu unflexibel und zu national orientiert sind“9 . „Dass ein junger Mitarbeiter, kaum ein Jahr im Unternehmen, den Begriff der Horizontalität beim Wort nimmt und die Entscheidung, einen europäischen Exekutivausschuss zu gründen, öffentlich hinterfragt, ist einerseits willkommen, für langjährige Mitarbeiter aber schwer erträglich.“ So schafft sich die Unternehmensleitung Rückhalt für geplante Veränderungen.

Im Übrigen weiß man in den Human-Ressources-Abteilungen sehr genau, dass Umstrukturierungen der „erfolgversprechendste“ Augenblick für Diskussionsforen sind. Wie im Film „Ressources Humaines“ von Laurent Cantet: Man stellt einen Fragebogen ins Intranet, nimmt sich die Zeit, online alle Fragen der Beschäftigten zu beantworten, und hat damit umso weniger Probleme, als die Gewerkschaften meistenteils ausgeschlossen sind.

Nun kann man die Gewerkschaften zwar außen vor halten, den Beschäftigten jedoch kaum verbieten, die elektronische Post für ihre Zwecke zu nutzen. In den Augen der Gewerkschaften CGT, CFDT und SUD fördert diese Praxis die innerbetriebliche Demokratie, denn die interaktiven Technologien erlauben es, fragwürdige Entscheidungen der Unternehmensleitung augenblicklich bekannt zu machen, die Konsequenzen zu analysieren, gemeinsam über Gegenreaktionen nachzudenken und dadurch gestärkt in die Verhandlungen zu gehen. Freilich kann das Internet „persönliche Kontakte und gemeinsame Versammlungen nicht ersetzen“, gibt Noël Lechat von der CGT zu bedenken. Zumal die wilde Nutzung der Mail-Clients in den meisten Fällen auf das unternehmenseigene Intranet beschränkt ist: Der Zugang von außen kann gesperrt werden (siehe Kasten).

Die Kontrolle des Wissens, seiner Verbreitung und seiner Anwendung gehört zu jenen Streitfragen, die die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft entscheidend mitprägen werden. Der freien Verfügbarkeit schiebt das Privateigentum weiterhin einen Riegel vor: Wer die Information besitzt, besitzt die Macht, und umgekehrt. Nur ist Information keine Ware wie jede andere, denn sie verbreiten heißt nicht, sich von ihr trennen. Je mehr man sie mit anderen teilt, desto reichhaltiger wird sie; und je mehr man sie monopolisiert, desto mehr verarmt sie. Diese Widersprüchlichkeit von Information schwächt tendenziell alle Machtsysteme. Die Informations- und Kommunikationstechnologien sind weder Ursache aller Übel am Arbeitsplatz noch ein Wundermittel gegen den Stress der einen und die Arbeitslosigkeit der anderen. Vielmehr eröffnen sie neue Möglichkeiten des Miteinanders innnerhalb und außerhalb des Unternehmens. Die Netze sind in erster Linie Mittel zur Zusammenarbeit, es gibt keinen Grund, weshalb sie zu Waffen der Ausgrenzung werden sollten.

dt. Bodo Schulze

* Journalistin

Fußnoten: 1 Jeremy Rifkin, „Access – Das Verschwinden des Eigentums“, Frankfurt (Campus) 2000. 2 „Rapport sur les perspectives de la France“, Paris (La Documentation française) Juli 2000. Der Bericht zitiert eine Untersuchung des Arbeitsministeriums: Direction de l'Animation de la Recherche, des Études et des Statistiques, Nr. 99-05, „Quinze ans de métiers. L'évolution des emplois de 1983 à 1998“. 3 Danièle Linhart und Christine Jaeger, „Une caisse d'allocations familiales en progrès: la gestion moderne de la misère“, Réseaux 91, Paris, September/Oktober 1998. 4 Marie-Noëlle Pécout, „La maintenance productive“, in: Guillaume Bollier und Claude Durand (Hg.), „La nouvelle division du travail“, Paris (L'Atelier) 1999. 5 Gérard Cascino, „NTIC de quoi parle-t-on?“, Réseau Éditions Anact, 4 quai des Etroits, 69321 Lyon, September 1999: http://www.anact.fr/. 6 Yves Lasfargue, „Technomordus, technoexclus?“, Éditions d'Organisations – Les Échos, 2000. 7 Dazu Gilles Balbastre, „Callcenter – Hilfsarbeit am Telefon“, Le Monde diplomatique, Mai 2000. 8 Nach einem Bericht von Le Courrier, Genf, 29. Juli 2000. 9 Le Monde de l'économie, 7. März 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von MARTINE BULARD