15.12.2000

Gewerkschaft für den Alltag

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Gewerkschaft für den Alltag

Von SERGIO CARROZZO *

DIE Dutroux-Affäre, der Dioxinskandal, immer neue drakonische Sparmaßnahmen und ein arrogantes Verhalten der Regierenden – all das hat in Belgien zu einem „Erwachen der Zivilgesellschaft“ geführt. Jüngstes Beispiel für diese demokratische Erneuerung ist das Syndicat de la vie quotidienne (Gewerkschaft für den Alltag), das allerdings vielfach Argwohn, wenn nicht sogar Feindseligkeit hervorruft. Es ist jedoch Teil einer breiteren Bürgerbewegung, die sich nicht innerhalb der traditionellen Strukturen von Parteien, Kirchen und Gewerkschaften engagiert und nicht immer eindeutige Ziele verficht.

Belgien – der „schlaffe Bauch“, das kraftlose Zentrum Europas: dieses Bild gehört der Vergangenheit an. Der Soziologe Benoît Scheuer1 vergleicht Belgien mit einem Laboratorium, in welchem die Entwicklung der postindustriellen Gesellschaft vorweggenommen werde. Manche Zeichen deuten jetzt darauf hin, dass die Bürger Belgiens den Willen zur Mitgestaltung ihres Landes wiedergefunden haben. Ohne große Ankündigung ziehen sie gegen „Industriefraß“, Globalisierung und gegen die extreme Rechte zu Felde und setzen sich für Asylbewerber oder die Rechte der Opfer von Gewalttaten ein. Auffallend ist, dass dieser Aufbruch außerhalb der großen Institutionen – Parteien, Gewerkschaften, Kirchen – stattfindet.

Ein weiterer Beweis für dieses „Erwachen“ ist das Projekt mehrerer Vertreter der „Zivilgesellschaft“2 , eine Gewerkschaft für den Alltag (Syndicat de la vie quotidienne, SVQ) ins Leben zu rufen, um „den verschiedenen Aktionen eine gemeinsame Struktur“ zu geben. Es existiert eine breite Bewegung, die den „Widerstand“, den Kampf für mehr Gerechtigkeit und die Suche nach Alternativen zur Globalisierung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Alle diese Kräfte werden bislang kaum wahrgenommen und haben meist keine klare Struktur: Die Beteiligten wollen mit Institutionen nichts zu tun haben. Darin genau liegen Ziel und Paradox des Projekts: für Leute, die auf ihrer Unabhängigkeit bestehen, eine strukturierende Plattform zu schaffen.3

Die Idee, eine solche „Gewerkschaft“ aus der Taufe zu heben, hat auf Seiten der Gewerkschaftsorganisationen heftige Kritik ausgelöst. Fürchten sie etwa um ihre Monopolstellung? Für Michel Nollet, den Vorsitzenden des belgischen Gewerkschaftsbundes, der den Sozialisten nahesteht, liegt das Problem woanders: „Die Gewerkschaften“, so Nollet „ haben hier 2,5 Millionen Mitglieder auf 10 Millionen Einwohner! Sie kämpfen bereits seit längerem auch für Verbesserungen im öffentlichen Transport und im Gesundheitswesen, also in Bereichen, die das Syndicat de la vie quotidienne für sich beansprucht. Entweder versteht sich das SVQ als Sammelbecken unterschiedlichster Gruppen und macht sich zum Stellvertreter für einander oft widersprechende Positionen. Oder aber das SVQ versucht, aus den verschiedenen Anliegen ein umfassendes Gesellschaftsprogramm herauszufiltern, wodurch es zu einer Partei wie andere auch würde.“ Vernichtende Schlussfolgerung: „Die Gewerkschaften sind ein Produkt des Arbeiterwillens. Welches aber ist die Basis des SVQ?“

Mag die Kritik des Gewerkschaftsführers auch übertrieben sein, es stellt sich doch die Frage, wen diese Gewerkschaft eigentlich vertreten will. Und auch Skepsis ist angebracht, ob die treibenden Kräfte dieser entstehenden Bewegung tatsächlich unabhängig sind. So sehr die Gründer des SVQ dies auch bestreiten – es drängt sich doch die Vermutung auf, dass sie sich von einem Text inspirieren ließen, der von mehreren führenden Mitgliedern der wallonischen grünen Partei Ecolo verfasst wurde und der wortwörtlich vom „Aufbau einer Gewerkschaft für den Alltag“ spricht, mit dessen Hilfe man zu einer Vernetzung kollektiver Aktionen unterschiedlicher Art und Kulturen gelangen wolle.4 Doch selbst wenn man diese offensichtliche und durchaus natürliche Verbindung unterstellt, ist es deswegen berechtigt, den „verborgenen Makel“ anzuprangern und das Kind mit dem Bade auszuschütten?

Es handle sich hier nicht um eine Totgeburt, so Lambert, einer der Väter der Bewegung. Im Gegenteil – schon Anfang des Jahres 2001 werde das SVQ wohl handlungsfähig sein. Es verstehe sich keineswegs als gewerkschaftlicher Arm der Ökologiepartei und wolle auch nicht in Konkurrenz zu den Arbeiterorganisationen treten. Übrigens solle der Begriff Gewerkschaft fallen gelassen werden, auch wenn man vorhabe, das Kürzel beizubehalten. Nach den Zielen des SVQ befragt, sagt Lambert: „Wir wollen in den Bereichen Transportwesen und Nahrungsmittelqualität aktiv werden und uns für die Verteidigung der öffentlichen Dienste einsetzen, die immer mehr durch Privatisierungen bedroht sind.“ Freilich müsse man noch die Aktionsformen ausfeilen, das Internet werde dabei eine große Rolle spielen, denn mit Hilfe dieses Mediums könne man ein Informationsnetz und ein Warnsystem schaffen. Zusätzlich werde es regionale Foren und nach Themen zusammengefasste Initiativgruppen geben.

Dieser – zunächst einmal – ungeschickte Versuch, sich im Fahrwasser der sozialen Bewegungen zu etablieren, ist in Wirklichkeit Teil einer viel umfassenderen Erneuerung des politischen Handelns. Dabei werden allerdings oft einander diametral entgegengesetzte Richtungen eingeschlagen, wie es die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 10. Oktober 2000 gezeigt haben. In Wallonien und in Brüssel verzeichneten die Grünen ebenso wie die Liberalen einen deutlichen Stimmenzuwachs; die extreme Rechte ist dort in den kommunalen Gremien praktisch nicht mehr vertreten. In Flandern hingegen konnte der Vlaams Blok (flämische Partei der extremen Rechten) weiter Terrain gewinnen.

In ganz Belgien verändert sich das Wahlprofil und nimmt schärfere Züge an. Die Präsenz der Ökologieparteien (Ecolo, wallonische Grüne und Agalev, flämische Grüne) in der Regenbogenregierung5 , die aus den Parlamentswahlen vom 13. Juni 1999 hervorgegangen ist, stellt die bedeutsamste Entwicklung dar, wobei gleichzeitig die christlich-sozialen Parteien beider Landesteile zum zweiten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges in die Opposition geschickt wurden. Diese Wahl beendete, mitten im Chaos der damals aktuellen Skandale (Dioxinskandal und Coca-Cola-Skandal), eine der dunkelsten Perioden in der neueren Geschichte des Landes.6

Bevor sich die Belgier aus der lähmenden Umstrickung durch die flämische Christlijke Volkspartij (CVP) lösen konnten, hatten sie einen schweren Tribut zu zahlen. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte mussten sie sich mit Skandalen aller Art auseinandersetzen, angefangen von den grässlichen Morden der „verrückten Killer aus Brabant“ über die Ermordung eines Ministers bis hin zu Bestechungsaffären und Dioxinskandal.7 Während dieser Zeit stellten die Regierungen sich für die Klagen von der Straße taub und verordneten ihren „Untertanen“ stattdessen immer neue „Sparkuren“, um die Konvergenzkriterien von Maastricht zu erfüllen.8

Revolte gegen die Staatsmaschinerie

DAS unerträgliche Ende der Entführungen von Julie, Melissa, An und Eefje9 brachte das Fass zum Überlaufen. Mit dem tief greifenden Schock, den es verursachte, wurde es zum Ferment für so manches Bündnis, das sich angesichts der Arroganz der Regierung formierte. Im Zusammenhang mit der Dutroux-Affäre bewies die belgische Bevölkerung eine ungeahnte Fähigkeit zur Empörung. Am 26. Oktober versammelten sich in Brüssel zum „Weißen Marsch“ mehr als 300 000 Menschen. Und dies ohne Unterstützung durch Politiker, Gewerkschaften, Vereine. Der einzige Slogan lautete: Das Leben der Kinder, sonst nichts. Dies hatte starken Symbolcharakter in einem Land, wo alles käuflich ist und wo um alles gehandelt wird – sogar um Leichen.

Der Soziologe Didier Vrancken, der das Centre de recherche et d’intervention sociologique der Universität Lüttich leitet und die Entwicklung der damals entstandenen Weißen Komitees aufmerksam verfolgt hat, sieht sowohl in den erregten Aktivitäten des Herbstes 1996 als auch in den Wahlergebnissen des 13. Juni 1999 den Ausdruck eines tiefgehenden Unbehagens. Es handle sich dabei gleichsam um eine Front der Ablehnung gegenüber den großen Machtapparaten. „Heute“, so Didier Vrancken, „verändert sich die Art der Anliegen, für welche die Menschen bereit sind, auf die Straße zu gehen – es geht dabei wohl eher um Immaterielles, Symbolisches oder um die Suche nach Identität.“ Diese „Mobilmachungen“ führen nach seinen Worten auch keineswegs automatisch zur Schaffung einer neuen Partei. Eher sei eine Entwicklung zu beobachten, die der Philosoph Marcel Gauchet als Ablösungsprozess der Zivilgesellschaft von der Politik beschreibe – ein Prozess, der sich auf grundlegende moralische Vorstellungen stütze, wobei der Staat als Zusammenspiel riesiger unpersönlicher Apparate wahrgenommen werde, die von den Erwartungen der Bürger weit entfernt seien.

In gewisser Weise handelt es sich also um eine Revolte gegen die seelenlose Maschinerie von Bürokratie, Politik, Wirtschaft und Justiz. Und als solche ist sie nicht nur erklärbar, sondern auch gerechtfertigt. Aber sie enthält auch manche Zweideutigkeit und birgt das Risiko eines Abdriftens in autoritäre Denkstrukturen, wie die Rückkehr der Liberalen an die Macht beweist. Diese machen nämlich kein oder kaum ein Geheimnis aus ihrer vom Sicherheitsdenken beherrschten Weltsicht. Der massive Aufmarsch der Ordnungskräfte anlässlich der Fußballeuropameisterschaft Euro 2000 war – mit Zustimmung der Regierung – vom liberalen Innenminister Antoine Duquesne angeordnet worden. Folglich ist Vorsicht geboten und demokratische Wachsamkeit in Hinblick auf eine Gesellschaft, die zwar mehr Bürgernähe und mehr Teilhabe der Bürger am öffentlichen Leben fordert, dabei aber Gefahr läuft, dies auf Kosten der demokratischen Werte zu tun.10

Im Grunde kann sich Belgien nicht mehr der Ansteckung von außen entziehen. Belgien ist nicht mehr einfach ein „flaches Land“ („le plat pays“, wie es Jacques Brel in seinem Chanson besungen hat), sondern – nach Ansicht von Benoît Scheuer – eine Aneinanderreihung äußerst fragmentierter Landschaften. „Auch wenn man diese Fragmentierung“, so Benoît Scheuer, „überall in der industrialisierten Welt beobachten kann, wird sie hier vielleicht besonders sichtbar, weil der Staat schwach ist. Die Zivilgesellschaft kann sich deshalb schneller entwickeln als anderswo.“ Auf den Kult des Individuums der Achtzigerjahre folge nun ein anderer Individualismus, der den Keim eines neuen Humanismus in sich trage.11

Die gesellschaftliche Unzufriedenheit der letzten Monate, die sich in einer ganzen Reihe von Demonstrationen und Streiks niederschlug (Streik der Gemeindebediensteten, der Briefträger, der Busfahrer) zeigt, dass die klassischen Forderungen – Verteidigung der sozialen Errungenschaften, gerechte Verteilung der Früchte des Wachstums –, welche von der Gewerkschaftsbewegung und in geringerem Maß von den Sozialisten und Grünen aufgenommen und verbreitet wurden, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Weltveränderung, ja bitte! Aber möglichst mit vollem Bauch!

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Journalist, Brüssel. Mitautor von „Où va la Belgique? Les soubresauts d’une petite démocratie européenne“, Gemeinschaftswerk mehrerer Autoren, koordiniert von Marco Martiniello und Marc Swyyngedouw, Paris (L’Harmattan) 1998.

Fußnoten: 1 Der Soziologe Benoît Scheuer, der sich besonders mit dem Wandel der Gesellschaft und der Gesellschaftsvorstellungen befasst, ist Begründer und Leiter von Survey & Action, einem unabhängigen Forschungszentrum für Soziologie. Er steht dem Syndicat de la vie quotidienne nahe. 2 Diese Leute kommen aus Nichtregierungsorganisationen wie der Flüchtingshilfsorganisation CIRE (Coordination et initiatives pour réfugiés et étrangers), von Médecins sans Frontières, MSF (Ärzte ohne Grenzen), Oxfam u. a. 3 vgl. Le Soir, Brüssel, 3.August 2000. 4 vgl. Le Matin, 21. August 2000. 5 In dieser Koalitionsregierung sind insgesamt sechs Parteien vertreten, nämlich die liberalen, sozialistischen und ökologischen Parteien Flanderns und Walloniens. 6 Siehe Serge Govaert, „ Gibt es ein Belgien nach den Wahlen?“, Le Monde diplomatique, Juni 1999. 7 Siehe Jean-Marie Chauvier, „Wo die Linke nicht weiß, was die Rechte wäscht“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 8 Siehe Sergio Carrozzo, „Scheidung auf belgisch kommt immer teurer“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 9 Ende August, Anfang September wurden die Leichen der entführten Mädchen Julie und Melissa , An und Eefje vergraben auf Grundstücken des Pädophilen Marc Dutroux, gefunden. 10 Vgl. „La Belgique dans tous ses éclats“, in der Zeitschrift Utinam, Nr. 3, Paris (L’Harmattan) 2000. 11 Vgl. „Noir, jaune, blues“, Untersuchung der Tageszeitung Le Soir in Zusammenarbeit mit Survey &Action, Verlag Luc Pire, Brüssel 1998.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von SERGIO CARROZZO