Der Sound der Straße
Von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT *
IN den letzten Jahren entwickelte sich in den afrikanischen Großstädten eine Reihe neuer Musikrichtungen. In Arrangements aus traditioneller und elektronischer Musik fließt hier ein babylonisches Gewirr afrikanischer Sprachen zusammen. Zwar blicken die Künstler der neuen Generation durchaus nach Norden, doch ihre Texte sind fest in der Realität der eigenen Staaten verankert. Der afrikanische Rap ist zu einer Art afrikanischer Renaissance in der Musik geworden.
„Diese Musik und ihre Themen haben die Kraft, junge Leute aus unterschiedlichen sozialen Milieus über ethnische Differenzen hinweg zusammenzubringen. Rap, das ist die Stimme der Straße. Und mehr denn je sollten unsere Staatschefs ein Interesse daran haben, sich das anzuhören.“ So äußern sich die versammelten Rapper von „Da Hop“1 , dem ersten Rap-Sampler aus Senegal. Rap begeistert die jungen Afrikaner zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren, also die Hälfte der Bevölkerung des schwarzen Kontinents. War diese Musik Anfang der Neunzigerjahre als Mode des lokalen Bürgertums noch ein Phänomen der Nachahmung, so ist Rap heute zu „einem echten Lebensstil“ geworden.
Der Erfolg der kongolesischen Gruppe Bisso Na Bisso, deren Leader Passi aus Brazzaville stammt und im Pariser Vorort Sarcelles lebt, illustriert eine übergreifende gesellschaftliche Entwicklung. Das Album mit dem subversiven Titel „Dans la peau d’un chef“ (In der Haut eines Chefs) machte die Band auf dem gesamten afrikanischen Kontinent berühmt. Von Koffi Olomide aus Zaire (dem ersten Afrikaner, der im Februar 2000 vor ausverkauftem Saal im Palais omnisports von Paris-Bercy sang) bis zu Meiway aus der Elfenbeinküste haben sich zahllose afrikanische Schlagerstars mit Rappern zusammengetan, um damit die eigene Popularität zu steigern. Dakar mit seinen angeblich tausend Rapgruppen gilt heute als die heimliche Hauptstadt dieser Musikrichtung – und das bis in die Vereinigten Staaten. Aber die Konkurrenz schläft nicht, und es entstehen schon neue Rap-Metropolen, wie etwa im tansanischen Daressalam.
Während sich die senegalesische Bevölkerung am sopi – „Wechsel“ auf Wolof – berauschte und den Machtantritt des liberalen Präsidenten Abdoulaye Wade im März dieses Jahres wie einen eigenen Sieg feierte, eröffneten in Daressalam zwei Aufnahmestudios, in denen etwa hundert Gruppen ihren Rap produzieren. „Der musikalische Ausdruck und der geringe Materialaufwand haben Rap für die Jugendlichen hier sofort interessant gemacht“, sagt 27-jährige Thomas Gesthuizen, der eine Website für urbane afrikanische Musik betreibt.2 „Es stimmt. Anfangs war diese Musik auf Kreise beschränkt, die sich das jeweils Neueste aus den Vereinigten Staaten leisten konnten. Inzwischen hat sie aber alle sozialen Schichten erreicht. Immer mehr Musiker verbinden die neuen Einflüsse mit eigenen Traditionen, die eine wunderbare Inspirationsquelle sein können.“
Nach dem Rückgriff auf kubanische Musik in den Sechzigerjahren und Funk/Reggae in den Siebzigern, ist die neue Generation – nach dem Gipfel von La Baule (1990) und dem Ende der Apartheid – am Crossover orientiert und bezieht ihre Inspiration nun verstärkt aus der urbanen afroamerikanischen Kultur.
In den letzten zehn Jahren waren seit dem Album der aus Dakar stammenden Gruppe Positive Black Soul nicht sonderlich viele interessante Beispiele an moderner afrikanischer Musik auf den internationalen Markt gekommen. Da gab es europäische Produzenten, die der Musik einen „weißen Touch“ gaben oder Songs (wie zum Beispiel von der Gruppe Public Enemy) nach westlichen Muster nachahmten und sie lediglich in die einheimischen Sprachen übersetzten. Diese übertriebene Anpassung ist nun einem schillernden Aufbruch gewichen, in dem zahlreiche neue Formationen Modernität und Tradition verbinden.
Von Accra (Ghana) über Aruscha (Tansania), von Nairobi (Kenia) über Lagos (Nigeria), von Bamako (Mali) bis Jaunde (Kamerun) fließt ein babylonisches Gewirr (aus Suaheli, Wolof, Aschanti, Fon, Xhosa, Bamileke, Haussa und nicht zu vergessen Französisch, Broken English oder Portugiesisch) in neuen Arrangements aus traditioneller und elektronischer Musik zusammen.
Zwar blicken die Künstler der neuen Generation durchaus nach Norden, doch ihre Texte sind fest in der Realität der eigenen Staaten verankert. Armut und Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, ethnische Konflikte, Korruption und Aids sind die wiederkehrenden Themen dieser Szene, die getragen wird von einer sich herausbildenden Zivilgesellschaft. Sie erfindet eine neue Sprache, betreibt Wortspiele und Tanzstile, die sehr schnell in der Öffentlichkeit aufgegriffen werden. Vor den Parlamentswahlen am 29.Oktober ließen die Behörden auf der Insel Sansibar (Tansania) die Ausstrahlung von Rapmusik im Radio verbieten.
Nach Ansicht der Band Rage aus Mali transportiert Rap die Sehnsüchte und Forderungen der Jugend: „Es gibt hier zwar keine Ghettos wie in den Vereinigten Staaten, und man knallt sich auch nicht gegenseitig ab. Aber Korruption und Mauscheleien, Schlamperei und Armut gibt es sehr wohl. Außerdem fehlt ein Sozialsystem, das sich um die Ärmsten kümmert. Es sind immer dieselben, die abzocken. Die Termiten fressen die Staatskasse leer. Und die Schulen sind ein einziges Drama. Seit sechs, sieben Jahren gehen die Kinder schon gar nicht mehr hin. Man fragt sich, wer eigentlich in zehn, fünfzehn Jahren das Land regieren soll.“
Dieser Ansicht ist auch die „Generation Zouglou“ in der Elfenbeinküste. Zouglou ist inspiriert vom Bete-Rhythmus alloucou und mit Synthesizer-Klängen versetzt, es handelt sich um eine Mischung aus Tanz und Sprechgesängen, der Auftritt der Künstler ist „halb wütend, halb spaßig“. Die meisten der Künstler stammen aus den Vororten von Abidjan (in erster Linie aus Yopougon, Adjame und Abobo). Populär wurde diese Musikrichtung im Studentenprotest Mitte der Neunzigerjahre gegen den früheren Präsidenten Henri Konan-Bédié3 . Während des von General Robert Guei angeführten Aufstands gegen „Konan den Barbaren“ fünf Jahre später erklangen neben Zouglou auch landeseigene Reggae-Rhythmen (von Alpha Blondy oder Tiken Jah Fakoly, die beide im Herbst 2000 ein Konzert im Palais omnisports von Paris-Bercy gaben).
Soum Bill, Leader der Zouglou-Band Les Salopards warnt jedoch: „Wir dürfen nicht in hysterische Begeisterung für alles verfallen, was Uniform trägt. Auch wenn alle Welt den Soldaten applaudiert, wir müssen weiter von der Ungleichheit sprechen. Die Soldaten geben vor, die Unsicherheit in Abidjan zu bekämpfen, dabei gehen sie unterschiedslos gegen das gesamte Volk vor. Aber wo es Diebe und Banditen gibt, muss man das System anklagen. Nicht das Volk.“
Kwaito und Zouglou
AUCH in Südafrika sind nach dem Ende der Apartheid neue Musikströmungen entstanden. In den benachteiligten Gesellschaftsschichten entwickelten sich verschiedene Stilrichtungen, heute steht das Land in der Rangliste der Musikproduzenten der Welt auf Platz zweiundzwanzig. In dem Sektor sind 20 000 Menschen beschäftigt. Der Kwaito stammt ursprünglich aus den Ghettos von Durban und Johannesburg. Der Inhalt der unbändigen Texte reicht von Obszönitäten bis hin zu Gesellschaftskritik und kombiniert das Ganze mit einer unglaublichen gombo (Mischung, Soße) aus „westlichen“ Musiken (Chicago House, London Jungle, jamaikanischer Reggae). In den letzten acht Jahren wurde er zum ultimativen Soundtrack der südafrikanischen Jugend.
Der Kwaito begleitet alle möglichen Kampagnen, von der Anti-Aids-Aktion bis zum Kampf gegen den Waffenbesitz. Die Stars dieses Musikstils sind die neuen Idole der Ärmsten: „Diese Musik ist der kraftvolle Ausdruck einer Epoche, einer Jugend nach der Apartheid, für die alles neu ist. Die Musik drückt ein Gefühl der Freiheit und Leidenschaft aus“, sagt Thandiswa, Mitglied einer der bedeutendsten Gruppen, den Bongo Maffin.
Der Kwaito profitierte von Labels, die nach den ersten gesamtafrikanischen Erfolgen4 Zweigniederlassungen in London gründeten. So gelang es, die neue Musikrichtung aus Afrika auch auf dem westlichen Markt zu etablieren. Seine Hauptfunktion blieb jedoch erhalten: „Der Kwaito ist der Sound des Ghettos. Wir leben auf der Straße, wir protestieren auf der Straße. Wir wissen, was hier gut läuft und was falsch läuft. Und auch wenn uns das neue Südafrika nach oben gespült hat, werden wir niemals mit der Regierung gemeinsame Sache machen“, sagt Fresh, Star-DJ des Johannesburger Radiosenders XMF.
Der Aufstieg dieser Musikrichtung aus den problembeladenen Townships von Umlazi und KwaMashu oder Zola und Bramley bedient das music business auch mit zahlreichen Klischees. Die Rede ist von blutigen Abrechnungen unter Musikern, Tsotsis (Ganoven), die zu Produzenten mutieren, Verträgen, die erpresst werden, Konzerten, über denen die Gefahr von Gewalt ebenso schwebt wie die Schwaden von Dagga (Shit). Der Markt ist freilich lukrativ. Mit dem Kwaito geht es um enorme Summen (die Stars verkaufen bis zu 500 000 Alben). Ein Drittel der heute am Kap gekauften Musik wird im Lande produziert. Kwaito und Zouglou seien die „wahren afrikanischen Alternativen zum US-amerikanischen Rap“, so das südafrikanische Webzine Rage, ein Medium für neue urbane Musiken. 5
Das Zeitalter der Staats-Griots ist vorbei. Zahlreiche Privatradios sind entstanden (Radio Nostalgie in der Elfenbeinküste, Sept in Senegal, YFM in Südafrika und Uhuru FM in Tansania)6 , sowie auch eine Reihe neuer Fernsehsender (MCM Africa oder LC2, um nur die beiden zu nennen, die Westafrika abdecken). Und die neuen Wortführer der afrikanischen Zivilgesellschaft fühlen sich in erster Linie „dem Volk“ verpflichtet, dem sie ihren Erfolg verdanken. Obwohl man es mit dem Urheberrecht oftmals nicht so genau nimmt und die Arbeitsbedingungen häufig prekär sind (es gibt nur vereinzelt Künstlergewerkschaften und, vom anglophonen Afrika abgesehen, äußerst selten ein lokales Pendant der Gema), sind dies alles die Anfänge eines Eroberungszuges der afrikanischen Musik.
Und wenn hin und wieder die Auswirkungen der „Globalisierung“ auf die afrikanische Musik beklagt wird, lässt sich mit Thomas Gesthuizen entgegnen: „Für die afrikanischen Rapper ist diese Verschmelzung mit anderen Einflüssen im Gegenteil der beste Beweis, dass auch die eigene Kultur sich ins 21. Jahrhundert einfügen lässt. Außerdem verleiht sie ihrer Kritik ein tatsächlich universelles Fundament.“
dt. Passet/Petschner
* Journalist, „Continentales“ (Cotonou).