15.12.2000

Der Krieg der Bilder

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Der Krieg der Bilder

Von EDGAR ROSKIS *

DER Krieg im Nahen Osten ist auch ein Krieg der Medien: jede neue militärische Strategie geht einher mit einer ebenso durchdachten und grausamen medialen Kampagne, deren wichtigste Waffen die Bilder mit ihrer Einprägsamkeit und ihrem emotionalen Sog sind. Aber welche Bilder haben eigentlich die stärkste Wirkung? Sind es eher die bewegten der Film- und Fernsehkameras oder doch die festgehaltenen Bilder der Fotografen? Und wie steht es um die Diskrepanzen, die zwischen den Absichten der Filmer und Fotografen und den Zwecken der Vertreiber bestehen?

Am 30. September 2000 starb in Netsarim, im Gasastreifen, der kleine Mohammad al-Dirah an einer Kugel, die vermutlich aus einer israelischen Stellung abgefeuert wurde.1 Zwölf Tage später wurden zwei Reservisten der israelischen Streitkräfte in der Polizeistation von Ramallah von einer Gruppe Palästinenser gelyncht. Es spricht einiges dafür, dass die Bilder von der Erschießung des zwölfjährigen Kindes und vom tragischen Tod der beiden Soldaten für die neue Intifada das bedeuten werden, was die so genannte Pietà2 von Algier für die jüngsten Massaker in Algerien war. Der Aufschrei der Algerierin ist auf einem Foto festgehalten, vom Tod des palästinensischen Jungen gibt es das Video eines Kameramanns von France 2, und die Ermordung der israelischen Soldaten hat ein Fernsehteam des italienischen Privatsenders Retequattro festgehalten, der zur Mediaset-Gruppe gehört.

Es ist ein Unterschied ums Ganze: Denn er macht deutlich, dass die Ära jener Frontfotografen, die Michel Guerrin einmal als „Herren des Krieges“ bezeichnet hat3 , zu Ende geht. Lange Zeit, vor allem seit Gründung der Fotoagentur Gamma im Jahre 1967, hatten diese es verstanden, die griffigen Symbole zu liefern – ob es sich um geopolitische Konflikte oder den Fortschritt der Menschheit handelte, ob es darum ging, Nebensächliches für die Rubrik Vermischtes auf den Punkt zu bringen, gesellschaftliche Phänomene oder wissenschaftliche und technische Entdeckungen zu veranschaulichen.

Die Pietà von Algier, die auf der Titelseite fast aller Tageszeitungen der Welt zu sehen war, hat die Anteilnahme der ganzen Welt zu wecken vermocht. Der „Verdächtige“, den am 1. Februar 1968 der Polizeichef von Saigon mit aufgesetzter Pistole exekutiert hat, das nackte kleine Mädchen auf der Straße vor dem vietnamesischen Dorf Trang Bang, das von einer Napalmwolke versengt wurde, der Chinese, der mit bloßen Händen die Panzerkolonne auf dem Weg zum Tiananmen-Platz aufgehalten hat – all diese Szenen sind auf Film oder Videoband festgehalten. Aber ohne Zweifel sind es die auf Papier gebannten Bilder, die sich in dem festsetzen, was zu Recht oder zu Unrecht als das „kollektive Unbewusste“ bezeichnet wird.

Bei der neuen Intifada im Nahen Osten liegt der Fall anders: Die fotografierenden „Herren des Krieges“ sind abgelöst worden durch das allgegenwärtige und allmächtige Fernsehen. In der Presse konnten die Bilder vom Tod des kleinen Mohammad nur erscheinen, weil der Fernsehsender France 2 sich bereit erklärte, den Fotoagenturen vier Standbilder aus der Filmsequenz zu überlassen, die Talal Abu Rahmed gedreht hatte: drei bekam AFP, eines ging an AP.

Dass es in einem so prekären Konflikt wie der Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis keine Fotos mehr gibt, keine Bilder, die den „entscheidenden Augenblick“ fixieren4 , macht einen erheblichen Unterschied, und das wissen die Führer in beiden Lagern genau. Dieses beklagenswerte Fehlen der Unmittelbarkeit geht einher mit einer anderen Art von Präsenz: der des Fernsehens. Als wollten sie den Mangel an symbolkräftigen Bildern ausgleichen, zeigen die Fernsehsender ihre exklusiven Filmsequenzen ein ums andere Mal. Es geht am Ende darum, durch ständige Wiederholung jene Kraft auszugleichen, die wir gewöhnlich den fixierten Bildern zuschreiben.

Charles Enderlin, der Korrespondent von France 2 in Jerusalem, hat in einem Interview mit Hélène Marzolf von der Zeitschrift Télérama gesagt: „Das Fernsehen mag Einfluss auf die öffentliche Meinung haben – die Ereignisse selbst kann es nicht beeinflussen.“5

Dennoch steht außer Zweifel, dass in diesem Kampf, in diesem Krieg, die Bilder eine entscheidende Rolle spielen. Wo Aufnahmen überhaupt zugelassen werden, tragen sie zur Radikalisierung beider Lager bei. Aus ebendiesem Grund können sie auch verboten werden. Ein Fotograf der britischen Sunday Times, der in Ramallah Zeuge wurde, wie zwei Reservisten der israelischen Armee von einer palästinensischen Menge gelyncht wurden, berichtete in einem Interview vom 25. Oktober 2000 der Tageszeitung Ma’ariv: „Die Szene hat mich zutiefst erschüttert. Etwas so Entsetzliches hatte ich noch nie erlebt: Der Soldat war schon tot, aber sie prügelten weiter auf ihn ein.“ Mark Seager gab an, die abscheuliche Tat fotografiert zu haben. „Aber ich bekam einen Faustschlag ins Gesicht, und ein Palästinenser machte mir klar: No pictures!“

Es gibt natürlich auch die Bilder, die selten oder gar nie zu sehen sind. Nicht weil sie nicht existierten oder ohne Relevanz wären, sondern weil sich im entscheidenden Moment kein Verantwortlicher in den audiovisuellen oder Printmedien dafür stark macht, sie zu zeigen. All die Bilder von der Sprengung der Häuser palästinensischer „Verdächtiger“ durch die israelische Armee, von der Zerstörung ihrer Obstbäume, von der alltäglichen Erniedrigung eines weitgehend unbewaffneten Volkes, von seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit, von Angriffen auf Rot-Kreuz-Fahrzeuge, Gewehrsalven auf jugendliche Steinewerfer und Furcht erregenden Kampfhubschrauber-Einsätzen: all diese Bilder gibt es, aber kaum jemand hat sie zu sehen bekommen.

Die französische Tageszeitung Libération und die amerikanische New York Times veröffentlichten am 1. Oktober ein Foto der Agentur Associated Press (AP), das im Hintergrund einen israelischen Soldaten mit einem Schlagstock zeigt, im Vordergrund das blutüberströmte Gesicht eines Mannes, der im AP-Text als „verletzter palästinensischer Demonstrant“ bezeichnet wird. Schon am nächsten Tag erhielt Libération den Anruf von Aaron Grossman, der das, was er zu sagen hatte, auch im Internet verbreitete: „Der angebliche Palästinenser, den das Foto auf Ihrer Titelseite zeigt, ist in Wahrheit mein Sohn Tuvia Grossman, ein jüdischer Student aus Chicago. Dass sein Gesicht blutüberströmt ist, liegt daran, dass er und zwei seiner Freunde von einer aufgebrachten Menge von Palästinensern aus einem Taxi gezerrt und schwer misshandelt worden sind.“ Laurent Abadjian, der verantwortliche Bildredakteur der Libération, der als ausgesprochen gewissenhafter und kompetenter Mann vom Fach gilt, rief sofort bei verschiedenen AFP-Büros an. Die Überprüfung dauerte eine Weile, sodass die Richtigstellung erst in der Ausgabe vom 6. Oktober erschien: „Anders als von uns angegeben, handelt es sich bei dem jungen Mann im Vordergrund des Bildes nicht um einen Palästinenser, sondern um einen amerikanischen Studenten namens Tuvia Grossman, der von palästinensischen Demonstranten verletzt wurde. Der Polizist im Hintergrund schreit die Menge an, um sie zurückzuhalten.“

Die einen wollen gerade die schockierenden Bilder haben, die anderen würden sie lieber verhindern. Ob Film oder unbewegtes Foto, es bleibt die Frage, welcher Status den Bildern zukommt. Man kann nicht davon absehen, dass sie, vielleicht in bester Absicht, die laufenden Ereignisse dokumentieren. Dass sie zugleich Einfluss nehmen auf diese Wirklichkeit, gehört zu ihrer Wirkung. Zu klären bleibt noch, was es letztlich bedeutet, dass die Bilder heute nicht mehr den Moment festhalten, sondern als Endlosschleife über den Globus gehen.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Information und Kommunikation der Universität Paris X (Nanterre).

Fußnoten: 1 Nach der Aussage von Talal Abu Rahmel, dem Kameramann von France 2, der die Szene gefilmt hat. 2 So haben die großen Medien die Szene getauft. Die Frau, deren dramatische Verzweiflung der AFP-Korrespondent Hocine fotografiert hat, ist allerdings Muslimin. 3 Le Monde, 6. September 2000. 4 Nur wo es der Kamera wirklich gelingt, diesen „entscheidenden Augenblick“ einzufangen, kann eine herausragende Aufnahme entstehen.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von EDGAR ROSKIS