Die irre Angst vor dem Rinderwahn
Von DENIS DUCLOS *
UNTER dem Druck einer verstörten, von den Massenmedien aufgeschreckten Öffentlichkeit, in der die Angst vor einer epidemischen Ausbreitung der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie (BSE) umgeht, haben sich die europäischen Regierungen endlich darauf geeinigt, die Tiermehlverfütterung an Schlachttiere generell zu verbieten und obligatorische Schnelltests an Rindern durchzuführen, die älter als dreißig Monate sind. Eine Art „kollektive Psychose“ scheint die Bürger zu erfassen. Sie beruht auf der Überzeugung, dass das Verhältnis Mensch–Natur immer mehr entartet.
Die Menschen hassen es, von der Natur überrascht zu werden. Lieber sehen sie die schlimmsten apokalyptischen Katastrophen voraus, als dass sie ein unerwartetes konkretes Unheil über sich ergehen lassen. Infolgedessen haben die Europäer beschlossen, ihre Dramaturgie des Schreckens selbst zu organisieren. Zur Inszenierung dieses Heraufbeschwörungsrituals haben sie ein Phänomen erwählt: den so genannten Rinderwahn.
Kein Wunder, dass der Skandal um die BSE-Seuche und ihre Übertragung auf den Menschen (als Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) in den europäischen Medien so viel Raum einnimmt, bietet er doch einen Gegenstand, der auf der Medienbühne hervorragend zu manipulieren ist: Sogar Kinder im Todeskampf dürfen jetzt gezeigt werden. Und schon seit langem führt man uns Tiere mit durchschnittener Kehle und ausgenommenen Organen vor, Stück für Stück in wissenschaftlicher Sektion zerlegt, die mit ihrer Nähe zur industriellen Schlachtung spielt. Wir erfahren, wie man das Hirn eines lebendigen Tieres zerstört, indem man ihm Metallröhrchen ins Ohr schiebt, oder wie man dem von „Wahn“ befallenen Rind eine tödliche Dosis Kurare injiziert (nachdem man es betäubt hat, wie man anstandshalber die zum Tod Verurteilten betäubt, die in Europa ja bemerkenswerterweise nicht mehr „produziert“ werden).
Kurz, dem Publikum wird eine große Palette strafloser, in der objektiven Sprache der Nachrichtendienste keimfrei präsentierter Lusterlebnisse geboten, die anschließend, mit Gewalt verdrängt, Lebensmittelphobien oder Schübe vegetarischen Suchtverhaltens auslösen.
Auch die Ablenkungskraft des Rinderwahns ist nicht zu unterschätzen. Was hätte Frankreich, wo Staatspräsident und Premierminister seit dem Sommer festgefahren zwischen korsischem Terrorismus, steigenden Ölpreisen und dem Sturz des Euro nicht mehr ein noch aus wissen, besser ins Konzept gepasst, um das Volk alles vergessen zu machen, als eine Lebensmittelpanik, die größtenteils den englischen Exporten zuzuschreiben ist? Besteht nicht übrigens, sobald die Leute anfangen, sich allzu viele Fragen zu stellen, das „traditionellste Bindemittel für den Zusammenhalt eines gesellschaftlichen Körpers“ darin, „gestützt auf einen Wachsamkeit erregenden Alarmzustand Verbote in das Alltagsleben einzuführen“, wie Henry-Pierre Jeudy so richtig in Erinnerung gerufen hat?1
Gestützt auf eine künstlich ausgelöste „Psychose“, wäre das Verbot des T-Bone-Steaks (das unterschiedslos gute wie schlechte Metzgereien trifft) also Bestandteil der ständig erweiterten Liste öffentlicher Maßnahmen zur Kontrolle des Privatlebens. Im Namen „absoluter“ Gebote des Gesundheitswesens auf dem Teller jedes Einzelnen das Vorschriftsmäßige erscheinen und verschwinden zu lassen, das ist offenbar die Rache einer gedemütigten Staatssouveränität, die erst kürzlich – und zwar wegen „Basisbewegungen“, die sie nicht erfunden hatte – in die Zwangslage geraten war, ihren Anteil an den Gewinnen der Ölgesellschaften zu reduzieren.2
Weit und breit kein Sündenbock
ABER es wäre unzureichend, die Analyse des Phänomens damit zu beenden. Die Rinderwahn-Affäre zeichnet sich durch ein anderes, sehr nützliches gesellschaftliches Merkmal aus: Sie erlaubt, die Katastrophe den Menschen zuzuschreiben, ohne dass man sich auf einen ganz bestimmten Sündenbock festlegen muss. Die nationalen Verwaltungsorgane schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die mangelnde Kontrolle der Tiermehle zu, und alle berufen sich auf die schlechte europäische Koordination, deren Vertreter die „heiße Kartoffel“ an die Protagonisten zurückgeben: Es sei allein ihre Sache, sich zu verständigen.
Also wendet man sich an die Viehzüchter, die jedoch wegen ihrer offensichtlichen Gutgläubigkeit und der Härte, mit der die Abschlachtung ganzer Herden sie dem Ruin aussetzt, schnell Mitleid erregen. Sucht man aber die Schuld bei den Tiermehllieferanten, so können diese leicht auf die unzulängliche Früherkennung in den Vorstadien der Kadaververwertung verweisen, meist mangels geeigneter Tests vor Ausbruch der Krankheitssymptome. Ihre eigentlich so verschriene Funktion offenbart sich plötzlich in ihrer ganzen „Notwendigkeit“, denkt man nur an die Knochenberge, die es künftig zu verbrennen gilt, und an das genveränderte amerikanische Soja, das für teures Geld gekauft werden muss, um das Tiermehl zu ersetzen. Gewiss, da ist noch die Geschichte mit der nur „lauwarm erhitzten Pampe“ (die befremdlich an den Skandal um das mit Aids-Viren verseuchte Blut erinnert), aber niemand hält sich damit lange auf: zu technisch offenbar.
Was schließlich die Wissenschaftler betrifft, die erst spät mit der Sache befasst wurden, so haben sie sich lange in Mutmaßungen über die Wirkungsweise krankhafter Prionen, über Viren als eventuelle Begleiterreger und andere Möglichkeiten der artspezifischen und artübergreifenden Ansteckung verloren, kommen aber nun – seit man sie unterstützt und nicht mehr verspottet – mit ihren Forschungen voran.
Kurz, hier entfaltet sich die Szenerie einer menschlichen Gesellschaft, die – trotz (und gegebenenfalls dank) der Leiden einiger und des wirtschaftlichen Ruins anderer – alle Kräfte mobilisiert, um ein durch den „Fortschritt“ bedingtes Paradox zu lösen. Denn offensichtlich geht es bei dieser Angelegenheit um mehr als nur ein Dringlichkeitsprogramm zur Unterdrückung einer Viehseuche, die eine Epidemie im Gefolge hat (obschon bei weitem nicht so mörderisch wie etwa Diabetes, Herzkrankheiten, Verkehrsunfälle, Selbstmord oder Aids). Die Überschreitung der „Artengrenze“ (die wir über die so sinnfälligen Fremdtransplantationen hinaus ja in vielen Bereichen versuchen) wirft bekanntlich auf verschiedenen Ebenen ganz unterschiedliche Probleme auf, nicht zuletzt die – rein symbolische – Frage, wo eigentlich der Mensch beginnt und wo die „besondere“ Achtung, die ihm gebührt.
Es gibt ein universelles Charakteristikum, das sich in der Anthropologie überall bestätigt hat: Der Mensch nimmt die materiellen Bedingungen, die sein Überleben sichern und sein Schicksal prägen, nie als bloße Tatsachen wahr, sondern stets vermittelt über die kulturellen Kategorien, in denen er sich als „Wesen“ begreift. Wann immer ein ernstes materielles Problem seine Existenz in Frage stellt, kann er sich dieses nicht direkt vorstellen, ohne es in eine Bedrohung für sein „Wesen selbst“ zu übersetzen, das heißt mittels der Wörter, durch die er sich über den Blick auf sich selbst und über den Blick der anderen definiert. Auch wenn es vorkommt, dass Menschen ihresgleichen abschlachten wie Tiere, bleiben Schlächter und Geschlachtete doch Menschen (wie Robert Antelme in Erinnerung gerufen hat), ob sie wollen oder nicht befangen in den Vorstellungen, die Liebe oder Hass rechtfertigen.
Als Gattung, die die Oberfläche eines umweltverseuchten Planeten bewohnt, setzt sich die Menschheit unserer Zeit dem Risiko ihrer Selbstvernichtung aus, ohne sich ein Schicksal vorstellen zu können, das sie auf das banale Los von Bakterien- oder Insektenstämmen reduziert, die ihre Umgebung vollständig ausgeplündert haben. Eine solche Vorstellung kann der Mensch nur vermittelt über Fiktionen, Mythen oder Träume akzeptieren, die ihm von dem erzählen, was er ohne augenfälligen Niedergang nicht sehen kann. Die Geschichte vom „Rinderwahn“ hat somit – über ihren unbestreitbaren politischen Nutzen hinaus – eine spezielle „Funktion“, die aus sich selbst heraus die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung erklärt (während Aids, obgleich viel weiter verbreitet und sowohl in Afrika als auch in Asien noch auf dem Vormarsch, keinen „Skandal“ mehr erregt): Sie erzählt uns, wie wir uns durch die industrielle Vernichtung anderer Lebensformen selbst vernichten können, genau wie sich das Rind durch Fressen von Rindfleisch infiziert, das seinerseits verseucht ist durch die Aufnahme des infektiösen Fleisches an Scrapie erkrankter Schafe.
Achten wir auf die Struktur der Metapher (die übrigens der kanonischen Formel aller Mythen gemäß Claude Lévi-Strauss entspricht): Die Infektion kommt von außen (dem Schaf), aber einmal „einverleibt“, gibt die Art sie nach innen weiter. Anders gesagt, jeder Verheerung, die außen beginnt, entspricht eine innere Verheerung.
Angesichts der Suggestivkraft dieser Traummetapher müssen wir zugeben, dass sich die Vertreter der Fleischindustrie mit einem schwachen Argument verteidigen, wenn sie uns sagen, das Schlachtvieh erhalte nur 4 Prozent seines Futters in Form von Tiermehlen. Würden wir denn einen Volksstamm, der nur 4 Prozent vom Körper seiner Feinde isst, „zu 4 Prozent kannibalisch“ nennen? Hier gilt, ganz im Gegenteil, das Prinzip des Alles oder Nichts (das zugleich das Prinzip der Informatik ist und somit nicht irrationaler als jedes andere).
Es fällt daher schwer, sich der Suggestion zu entziehen und den folgenden Satz nicht unwillkürlich zu vollenden: Wenn das Rind, nachdem es Schaf gefressen hat, durch Selbstauffressen krank geworden ist, wird der Mensch, nachdem er Rind gegessen hat – sich selbst aufessen und daran erkranken. Sind wir nicht schon auf der Suche nach mysteriösen Ansteckungsmöglichkeiten unter menschlichen Kranken, die in enger Nachbarschaft leben? Ein irrationales Vorgehen, werden manche sagen. Gewiss, aber es ist verständlich, ganz nach Maßgabe der unterschwelligen, überall geläufigen Metapher, wird der Anthropologe antworten.
Treiben wir den Gedanken noch weiter voran: Es ist möglich, dass der so genannte Rinderwahn dazu dient, uns mittels einer Verschiebung den eigentlich unvorstellbaren Wahnsinn der Klimaveränderung vorzustellen, der tatsächlich einer Selbst-Verschlingung der menschlichen Zivilisation gleichkommt.
Immerhin ist es doch recht erstaunlich zu beobachten, wie die USA, die am Ende der Achtzigerjahre in einem mustergültigen Bemühen um Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Umweltadministration (und einigen Senatoren wie Al Gore) die Fragen des Ozonlochs und der globalen Erderwärmung buchstäblich „erfunden“ haben, dann aber, im Zuge ihrer „liberalen“ Fieberschübe, so vollständig von ihrer weltweiten leadership in dieser Angelegenheit abgerückt sind, dass sie jetzt, gleichauf mit China, die reaktionärste Politik des Rechts auf Umweltverschmutzung vertreten.
Weder die bloße Macht der Erdöl- und Kohle-Lobbys noch die Ökologiefeindlichkeit der Herren Ronald Reagan oder George Bush können hierfür eine Erklärung sein, zumal sich die Gangart in dieser Frage – von Rio bis Kioto – unter der Clinton-Administration noch verschärft hat. Man muss auch die Hypothese in den Raum stellen, dass das Bild von den Folgen der Erderwärmung, das die Wissenschaftler dem Kongress und der Öffentlichkeit in den USA schon sehr früh ausgemalt haben, zunehmend – trotz unvergleichlicher wissenschaftlicher Anstrengungen und selbst für den Fall, dass der Ausstoß an Treibhausgasen in Zukunft drastisch verringert werden sollte – als schreckliche und zugleich kaum zu bannende Katastrophe empfunden worden ist.
Die USA haben ihre Wahl getroffen zwischen der Beibehaltung des Modells eines ungehemmten kapitalistischen Wachstums, das ihnen immer erlaubt hat, die inneren gesellschaftlichen Krisen auszugleichen (sie durch Überbewertung des Dollar auf den Rest der Welt nach außen zu verlagern), und der Perspektive einer materiellen Genügsamkeit, die dem „amerikanischen Traum“ radikal entgegengesetzt wäre. Sie wollen denn auch nichts mehr hören vom „Ende einer Welt“, diesem höchst unangenehmen Pendant zum schönen „Ende der Geschichte“, das ihnen der Zusammenbruch der Sowjetunion verhieß.
Ein Rest ist allerdings von der freiwilligen Amnesie verschont geblieben: die Antitabakkampagne, die nur zum Teil dem realen Gesundheitsaspekt des Rauchens gegolten hat und vornehmlich dazu dient, individuelle Verhaltensweisen öffentlich anzuprangern (wie sechzig Jahre zuvor das Alkoholverbot und so manche anderen puritanischen Auswüchse).
In Europa dagegen haben die Deutschen, 1983 vom sauren Regen infolge der herkömmlichen industriellen Luftverschmutzung und 1987 von den radioaktiven Niederschlägen nach Tschernobyl traumatisiert, den ökologischen Handlungsbedarf rasch erkannt und den Umweltschutz, auf höchster Ebene politisiert, als soliden und dauerhaften Schwerpunkt etabliert (obwohl sie ihr eigenes Land immer noch einer Verpestung durch eine Braunkohleverbrennung aussetzen, deren Werte zu den höchsten in der ganzen Welt gehören).
Viele Richtlinien der EU sind unter diesem Einfluss zustande gekommen, aber London und Paris haben sich der allgemeinen Aufbruchstimmung aus unterschiedlichen Gründen widersetzt. Seit infolge der Affäre um das aidsverseuchte Blut die traditionelle Straflosigkeit der hohen Verwaltungsbeamten und der politischen Klasse in Frankreich nicht mehr unbedingt gewährleistet ist, ist möglicherweise die Bereitschaft gewachsen, die englische Rinderseuche „anzunehmen“ und sie im Sinn einer allgemeineren Infragestellung der gesellschaftlichen Funktionsabläufe zu begreifen.
Damit aber diese „Funktion“ der kollektiven Psychose tatsächlich wirksam werden kann, darf man sich nicht mit einer Antwort aus der Schublade der Verbote und Kontrollen begnügen (die paradoxerweise immer ausgerechnet auf die vertrauenswürdigsten Personen und Aktivitäten zurückschlagen: die traditionelle Viehzucht, die Metzgereien mit eigener Schlachtung, die ihre Ware direkt von den Züchtern beziehen, etc.). Wir müssen endlich Farbe bekennen und unser gesellschaftliches Verhältnis zur Natur in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung der kommenden Jahre stellen. Mit Strafpredigten an die Adresse der Umweltschützer, die so gänzlich außer Stande scheinen, ihr eigenes Programm zu realisieren, ist es nicht getan.
dt. Grete Osterwald
* Soziologe und Forschungsleiter am Pariser Centre national de la recherche scientifique (CNRS); unter anderem Autor von „Nature et démocratie des passions“, Paris (PUF) 1996.