15.12.2000

Vier Minuten

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Vier Minuten

IM September hatten die US-Medien begeistert gefeiert, dass sich „nun sogar die Politik in den USA mit Internet-Geschwindigkeit bewegt“1 . Aber dann war vier Wochen nach Schließung der Wahlbüros der Name des nächsten US-Präsidenten noch immer nicht ermittelt. Doch die Medien hatten das Wahlergebnis „mit Internet-Geschwindigkeit“ zunächst verkündet, dann dementiert, dann revidiert und dann erneut aus dem Verkehr gezogen.

Howard Kurtz, Journalist der Washington Post, schrieb seinen Kollegen ins Stammbuch: „Das System der superschnellen Hochrechnungen in den einzelnen Bundesstaaten erklärt sich vielleicht in erster Linie aus dem Bedürfnis der Medien, die Konkurrenz mit immer noch sensationelleren Neuigkeiten zu übertrumpfen. Schließlich könnte man ja auch abwarten, bis die Stimmen ausgezählt sind. Das wäre zwar weniger spektakulär, aber man würde zumindest keine Falschmeldungen mehr in die Welt setzen.“

Da war ABC-Starreporter Sam Donaldson ganz anderer Meinung: „Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Wettbewerb ist das Lebenselixier unseres kapitalistischen Systems. Wenn Sie einen anderen Vorschlag haben – der Kommunismus funktioniert jedenfalls nicht –, bin ich gern bereit, Ihnen zuzuhören. Ich zum Beispiel bewundere Dan Rather [Nachrichtenmoderator der Fernsehanstalt CBS], aber wenn wir irgendwo zusammentreffen, tue ich alles, um ihn auszustechen: Wir sind Konkurrenten. Und genau das treibt uns voran. Wenn wir bei ABC sagen, wir verpflichten uns, keine Hochrechnungen bekannt zu geben und zu warten, bis mathematisch gesicherte Ergebnisse vorliegen, wird beim nächsten Mal niemand mehr einschalten.“

Sam Donaldson hat damit alles Wesentliche gesagt. Wenn die Journalisten ihren Informationsauftrag dem Imperativ der Einschaltquoten opfern, um ihrem Arbeitgeber die Taschen zu füllen2 , dann ergibt sich alles weitere von selbst. So geschah es denn auch: Gefüttert mit denselben Hochrechnungszahlen, verkündeten die fünf großen Fernsehanstalten – als erste Fox, als letzte ABC – zwischen 2.16 Uhr und 2.20 Uhr die Wahl von George W. Bush. Al Gore beglückwünschte ihn postwendend zu seinem Sieg.

Die Mehrheit im künftigen US-Senat hing am seidenen Faden eines ebenfalls hart umkämpften Senatorensitzes im Bundesstaat Washington – dessen Inhaber ebenfalls zu schnell in die Welt hinausposaunt wurde. Zwei Wochen später war über diesen Sitz noch immer nicht entschieden.

Solche Falschmeldungen sind nicht wieder gutzumachen. Gerade bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen kann die vorzeitige Bekanntgabe von Hochrechnungen, also während die Wahl noch im Gange ist, die Wahlbeteiligung beeinflussen. Und damit auch das Wahlergebnis. Die republikanisch beherrschten Wahlbezirke in Florida zum Beispiel liegen in einer anderen Zeitzone als die Wahlbezirke an der Ostküste. Sie hatten also noch geöffnet, als die Medien anfangs den „hochgerechneten“ Sieg Al Gores im Osten bekannt gaben.

Die Sensationsmeldung hat Bush möglicherweise tausende von Stimmen gekostet.

Einige Stunden später gab Fox News die Wahl des republikanischen Kandidaten bekannt, diesmal gestützt auf eine Hochrechnung für Florida. Der voreilige Hochrechner war ein gewisser John Ellis Bush, der voriges Jahr erklärt hatte: „Ich verhalte mich meinem Cousin gegenüber loyal.“ Besagter Cousin wird nun am Ende der Auszählfarce ins Weiße Haus einziehen.

SERGE HALIMI

Fußnoten: 1 „Now Even Politics in U.S. Is Moving at Internet Speed“, Schlagzeile des Wall Street Journal Europe, 21. September 2000. 2 Die größten US-Medien sind im Besitz von General Electric (NBC), der News-Corp-Gruppe von Rupert Murdoch (Fox), von Walt Disney (ABC), der Viacom Inc. (CBS) und der Time Warner Inc. (CNN). Noch in den Siebzigerjahren teilten sich fünfzig Unternehmen die Hälfte der US-amerikanischen Medien, heute sind es nur noch sechs Großkonzerne.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von SERGE HALIMI