15.12.2000

Vier Millionen

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Vier Millionen

AM 9. November, zwei Tage nach den Wahlen, griff Al Gores Wahlkampfleiter William Daley zu den härtesten Formulierungen, um die schuldhafte Gleichgültigkeit zu geißeln, welche die Republikaner gegenüber dem disenfranchisement, der Entwertung der Stimmen zahlreicher Bürger Floridas, an den Tag legten.

Die Zählmaschinen im vorwiegend von wohlhabenden Weißen bewohnten Wahlbezirk Palm Beach hatten rund 19 000 Wahlkarten für ungültig erklärt. Weit weniger sorgte sich Daley allerdings um eine halbe Million weiterer Bürger Floridas, die durch das Justizsystem von den Urnen fern gehalten wurden, obgleich sie sich nicht mehr in „Justizgewahrsam“ befanden. In der Tat liegt Florida, was den strafrechtlichen Ausschluss von der Ausübung der Bürgerrechte anbelangt, noch vor Texas an der Spitze der US-Bundesstaaten.

Nachdem das Armuts-Management von den Sozialämtern auf die Gefängnisverwaltungen übergegangen ist und die Zahl der Gefängnisinsassen infolge der wachsenden sozialen Misere explosionsartig anwächst1 , durften 2 Prozent der potenziellen Wähler und 15 Prozent der männlichen Schwarzen nicht zu den Urnen gehen. Eine strafrechtliche Verurteilung führt nämlich in vielen Bundesstaaten zur automatischen Aberkennung der Bürgerrechte. In 46 von 50 Bundesstaaten werden die Insassen von Justizvollzugsanstalten (das sind 1,2 Millionen US-Bürger) aus den Wahlregistern gestrichen. 32 Bundesstaaten schließen auch ehemalige Gefängnisinsassen aus, die sich unter Auflagen auf freiem Fuß befinden (das sind 453 000 US-Bürger). In 29 Bundesstaaten dürfen selbst Bürger mit Bewährungsstrafen nicht ihr Wahlrecht ausüben (rund 1 Million Amerikaner). Und 14 Bundesstaaten verbieten ehemaligen Häftlingen (1,4 Millionen Amerikaner) sogar auf Lebenszeit die Teilnahme an Wahlen – eine Regelung, die für die parlamentarischen Demokratien einmalig ist. Alles in allem durften damit rund 4 Millionen Amerikaner bei den Präsidentschaftswahlen 2000 nicht mitwählen.

In Florida verschwinden folgende Gruppen automatisch von den Wahllisten: 63 700 Gefängnisinsassen (mehr als die gesamte Gefängnisbevölkerung Frankreichs), 9 300 Häftlinge, die von bedingter Haftentlassung profitieren, 137 000 Bürger mit Bewährungsstrafen, aber auch 647 100 ehemalige Häftlinge, die ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlt haben und trotzdem nicht wählen dürfen.

Nicht viel anders sieht es in Texas aus. Von der Wahl ausgeschlossen sind die 132 400 Gefängnisinsassen, die 112 600 Personen, die sich unter Auflagen auf freiem Fuß befinden, sowie die 234 200 Bürger, die zu Bewährungsstrafen verurteilt sind. Ehemalige Häftlinge müssen in Texas zwei Jahre warten, bis sie ihre Bürgerrechte wiedererlangen. Neben Florida und Texas schließen weitere vier Staaten (Mississippi, New Mexico, Virginia und Wyoming) fast 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung vom Urnengang aus.

Da die Schwarzen zu den Knästen des Landes bevorzugten Zutritt haben – bei 7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung stellen sie 55 Prozent der Neuzugänge –, sind sie auch die Ersten, die ihr Wahlrecht verlieren. Auch hier liegt Florida an der Spitze: 31 Prozent der afroamerikanischen Männer werden der Bürgerrechte für unwürdig erachtet.2 35 Jahre nachdem die Bürgerrechtsbewegung in harten Kämpfen das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt hat, wird das im Voting Rights Act verbriefte Recht via Strafrechtssystem wieder zurückgenommen. Die betreffenden Gesetzesbestimmungen laufen allen internationalen Menschenrechtskonventionen, die auch von den Vereinigten Staaten unterzeichnet wurden, krass zuwider.

SERGE HALIMI

Fußnoten: 1 Dazu Loïc Wacquant, „Les Prisons de la misère“, Paris (Raisons d'agir) 1999. 2 In folgenden Staaten wurde mindestens einem Fünftel der männlichen Schwarzen das Wahlrecht aberkannt: Alabama, Connecticut, Florida, Iowa, Mississippi, New Mexico, Washington und Wyoming.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von SERGE HALIMI