15.12.2000

Eine Flut der Arbeitslosen

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Eine Flut der Arbeitslosen

Von MARC MANGIN *

VIERZIG Millionen Arbeitslose mehr – eine Zahl, wie es sie nur in China geben kann: maßlos hoch, nicht verifizierbar, unkontrollierbar, und doch ist sie in Umlauf. Es gibt sie also. Offizielle Statistiken existieren nicht, und so gilt diese Schätzung als Maßstab für den Preis, den China für seinen Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) zahlen muss. Ein hoher Preis, der jedoch zu relativieren ist. Denn auch wenn die Machthaber in China eine Arbeitslosenquote von 3,6 Prozent der Bevölkerung einräumen, bietet das Land de facto nur 750 Millionen seiner Bürger Arbeit.1 Dies bedeutet, dass zu den 27 Millionen offiziellen Arbeitslosen gut 150 Millionen hinzukommen, die an der wirtschaftlichen Öffnung nicht teilhaben. Es sind dies Saisonarbeiter oder Menschen, die von der Schattenwirtschaft leben. Zhou Lukuan, Professor an der People’s University in Peking2 , schätzt, dass die tatsächliche Arbeitslosenquote 1998 bei rund 20 Prozent gelegen hätte, wenn man die Überbesetzung in der Verwaltung, in staatlichen Unternehmen und Kooperativen berücksichtigt. Dies bedeutet, dass 150 Millionen Menschen nicht beschäftigt waren. Seither hat sich die Situation weiter verschlechtert.

Liu Hong, Kommissar im Nationalen Statistikamt, schätzte im letzten Februar die Zahl der Entlassungen im öffentlichen Dienst für 1999 auf 5,64 Millionen und für 1998 auf 6,1 Millionen. Fünf bis sechs Millionen Staatsbedienstete werden noch in diesem Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren. Diese Zahlen liegen deutlich niedriger als die vom August 1999 aus der Umgebung des Arbeitsministeriums und der Sozialversicherung, wo man von 7,42 Millionen Entlassungen allein für das erste Halbjahr 1999 ausging. Sie liegen auch niedriger als die ebenfalls auf offiziellen Quellen beruhenden Daten, die Agence France Presse (AFP) meldete. Hier war von 8,9 Millionen Entlassungen für 1998 und von 11,5 Millionen für 1997 die Rede.3

Bislang war der Abbau von Arbeitsplätzen auf die Industrieregionen und damit auf die Städte begrenzt. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit und der folglich drastische Rückgang der Verbraucherausgaben haben China in eine gefährliche Spirale von wirtschaftlicher Abschwächung und Deflation getrieben. Seit 1998 schaffen die Machthaber immer neue Prämien, um den Verbrauch anzukurbeln, bieten sogar anlässlich des Nationalfeiertags eine Woche zusätzlichen Urlaubs, um die Nachfrage in Gang zu bringen. Der Erfolg bleibt jedoch aus, der private Konsum bewegt sich weiter schleppend.

Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung einer spektakulären Exportsteigerung von 37 Prozent im Laufe der ersten sieben Monate des Jahres 2000 eher der Propaganda als der Realität zuzuschreiben. Selbst wenn diese Zahl zutreffen sollte, wird die chinesische Handelsbilanz erheblich unter der Ölpreissteigerung zu leiden haben. Die Internationale Energiebehörde schätzte in einem Dokument von Ende März 2000, dass der chinesische Rohölimport bis 2020 jährlich um 26 Prozent steigen und dann bei 400 Millionen Tonnen im Jahr liegen werde. Dies entspräche einer Einfuhr von 8 Millionen Barrel pro Tag.

Die Führungsriege in der Kommunistischen Partei Chinas setzt nun darauf, mit dem Beitritt zur WTO die Reform der Staatsbetriebe abschließen zu können. Dieses Thema hatte man auf Eis gelegt, da eine solche Politik der Gesundschrumpfung zwangsläufig in die politische Krise führen muss. So aber kann die Partei die Verantwortung für das zu erwartende soziale Chaos dann auf die ausländischen „Barbaren“ abwälzen und an den nationalen Zusammenhalt appellieren, um dem drohenden Machtverfall entgegenzuwirken.

Die Übernahme eines Teils der Industrie durch ausländisches Kapital dürfte jedoch die heimischen Investoren beruhigen und sie dazu ermutigen, sich an der Entwicklung ihres Landes zu beteiligen. Zur Zeit sind sie aus zumindest zweierlei Gründen in dieser Hinsicht noch zurückhaltend. Einerseits hat sie die Geschichte gelehrt, bei Angeboten seitens der politischen Führung misstrauisch zu sein. Andererseits hat die Verwaltung des Landes bislang noch nicht die notwendige Effizienz unter Beweis gestellt, als dass sie sich auch nur ein Minimum an Profit erhoffen könnten.

Allerdings will man auch verhindern, dass das Vertrauen gleich in Euphorie umschlägt. In einem Land, in dem kaum jemand dem Spiel im Allgemeinen und Geldspielen im Besonderen zu widerstehen vermag, löst die Aussicht auf einen Erfolg versprechenden Einsatz sofort Massenbewegungen aus, im direkten wie übertragenen Sinn. Die (staatlichen) Banken in China sind durch unklare Forderungen in nicht abschätzbarer Höhe geschwächt4 und könnten einen massiven Abzug der Sparguthaben, die sich auf über 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen, nicht verkraften. Sie wären kaum in der Lage, die gut 600 Milliarden Dollar auszuzahlen, denn die Summe übersteigt ihre eigenen Aktiva, die in weniger als zwei Jahrzehnten durch verschiedene Fälle von Veruntreuung verschleudert wurden. (Vor den Reformen von 1978 betrug der Anteil der Sparguthaben am Bruttoinlandsprodukt nicht einmal 1 Prozent.)

Das drohende Konkursrisiko bei den Finanzinstituten stellt die chinesische Staatsführung vor ein Dilemma: Wie lässt sich das Sparvolumen erhalten und zugleich das Wachstum ankurbeln? Darüber zerbricht sich Premierminister Zhu Rongji bereits seit drei Jahren den Kopf. Da ein ungezügelter Verbrauch die finanzielle Stabilität untergraben könnte, ruht nun die ganze Hoffnung auf dem Exportwachstum. Dafür sind die Chinesen zu allem bereit, selbst zur Abwertung ihrer Währung. Die Welle der Arbeitslosigkeit, die der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation auslösen wird, dürfte vor allem für die Menschen auf dem Lande schmerzhaft werden. Die Konkurrenz durch westliche Produkte dürfte die Liquidierung von rund fünfzehn Millionen kleiner Betriebe zur Folge haben. Diese Zahl ist fast noch zu niedrig angesetzt, wenn man bedenkt, dass eine Tonne Getreide, die in China produziert und gelagert wird, 35 Dollar mehr kostet, als wenn man sie importierte.

Wie schon in der Industrie haben die Behörden auch hier in den letzten zehn Jahren eine Drosselung eingeleitet, um einen brutalen Schock zu vermeiden. So hat der Staat bereits jenen Betrieben die Unterstützung entzogen, deren Produktion den von Peking definierten Qualitätskriterien nicht entsprach. Die Auswirkungen ließen nicht auf sich warten, und die meisten Indikatoren für die Produktion sind im Sinken begriffen. Beim Weizen wurde die Fläche für die Aussaat um 5 Prozent verringert, ohne dass sich die Produktivität erhöht hätte, im Gegenteil: nach offiziellen Angaben geht sie auf 3,64 Tonnen je Hektar zurück, gegenüber 3,8 Tonnen im Jahre 1999.5 Die Maisproduktion sinkt um 16 Prozent, und beim Reis hat die Sommerernte (ein Fünftel der Jahresproduktion) 7 Prozent weniger eingebracht.

Wiederum sollen die ländlichen Gebiete eine entscheidende Rolle spielen. Indem China die Unabhängigkeit bei der Nahrungsmittelproduktion seinem Auftritt auf der internationalen Handelsbühne opfert, erkennt das Land de facto an, dass seine Politik der letzten fünf Jahre gescheitert ist. Der Beitritt zur WTO ist zugleich der Eintritt in die Dritte Welt. Das Land dringt damit in ein Universum vor, in dem die Gesetze des Marktes ein unbarmherziges Licht auf die Armut werfen. Diese Revolution könnte, wenn nicht die Partei selbst, so zumindest die patriarchalische Natur einer Macht erschüttern, die sich stets auf die himmlische Erleuchtung berief und keinen gleichberechtigten Widerspruch duldete.

dt. Erika Mursa

* Journalist

Fußnoten: 1 Laut Schätzungen der Weltbank waren 1997 in China 736 Millionen Menschen beschäftigt. 2 Vgl. dazu „Chine“, Nord-Sud Export, Reihe „Perspectives“, Paris, Januar 2000. 3 Vgl. dazu die Dokumentation „Chine“, Nord-Sud Export Nr. 394, 10. März 2000. 4 Je nach Quelle werden die uneinbringlichen Forderungen auf eine Größe zwischen 860 Milliarden und 1 200 Milliarden Yuan beziffert. Vgl. Nicholas Lardy, „China’s Unfinished Economic Revolution“, Brookings Institution Press, Washington, D.C., 1998. 5 Ausländische Agrarwissenschaftler haben den chinesischen Ertrag für 1999 auf 3,5 Tonnen je Hektar geschätzt, gegenüber 7 Tonnen je Hektar in Frankreich.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von MARC MANGIN