15.12.2000

Der lange Marsch der Bauern in die Stadt

zurück

Der lange Marsch der Bauern in die Stadt

Von ROLAND LEW *

ZWANZIG Jahre nach Beginn der Wirtschaftsreformen steht China vor dem Beitritt zur Welthandelsorganisation und wird somit bald zur schönen neuen Welt des freien Handels dazugehören. Die Führung in Peking sieht dies als entscheidende Etappe auf dem Weg in die Marktwirtschaft und erhofft sich davon, dass das Umfeld für den chinesischen Außenhandel stabilisiert, das Wachstum angekurbelt und die „reformistische“ Koalition um Staatspräsident Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji gestärkt werde. Aber der Einsatz ist hoch, die sozialen Kosten sind enorm. Die chinesische Volkswirtschaft ist alles andere als gerüstet für die internationale Konkurrenz, der sie sich nach der vorschnellen wirtschaftlichen Öffnung stellen muss. Selbst wenn sich China so manchem formalen Zwang, der mit dem Beitritt verbunden ist, entziehen kann – bestimmte strukturelle Folgen der Öffnung werden sich nicht vermeiden lassen. Dazu zählen vor allem die verstärkte Landflucht, eine unvorstellbare Massenarbeitslosigkeit in den Städten, der Zusammenbruch der landeseigenen Agrarproduktion und eine unsinnige Spezialisierung in Sektoren mit geringer Wertschöpfung wie der Textilindustrie. Während Deng Xiaoping einst für den schrittweisen Übergang zur „sozialistischen Marktwirtschaft“ plädiert hatte, haben seine Nachfolger dem Riesenland nun eine Schocktherapie verordnet. Sie riskieren damit eine tief greifende soziale Spaltung – und setzen nicht zuletzt ihre eigene Macht aufs Spiel.

Die Millionenstadt Chengdu, Hauptstadt der bevölkerungsreichen Provinz Sichuan in der geografischen Mitte Chinas (offiziell ist es der Südwesten), wirkt nicht gerade wie ein großes Industriezentrum. Chengdu ist eine moderne Stadt, die noch nicht von der Hektik und dem Trubel der großen Küstenstädte erfasst wurde, der Besucher glaubt sich weitab vom Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Und doch vollziehen sich auch in Chengdu erhebliche Veränderungen. Die soziale Polarisierung ist nicht zu übersehen. Da genügt schon ein Gang durch die neuen Wohngebiete für die Reichen oder durch die Arbeiterviertel in der Bahnhofsgegend im Norden der Stadt. Hier stehen lauter Wohnblocks aus den Sechziger- und Siebzigerjahren nebeneinander, außen bereits schmutzig grau und innen in winzige Wohnwaben aufgeteilt.

Wer die nahe gelegenen, ungesicherten Eisenbahnschienen überquert, steht plötzlich mitten auf dem Land – obwohl er sich noch innerhalb des eigentlichen Stadtgebiets befindet. Es gibt unbefestigte Wege und Eisenbahntrassen, die als Spazierweg genutzt werden. Hier fließt ein munterer, wenn auch übel riechender Bach, man findet einen kleinen, beschaulichen Markt und Teehäuser in groben Holzverschlägen oder im Freien, wo sich den ganzen Tag lang mehr oder weniger junge Majong- und Kartenspieler treffen, immer freundlich und niemals in Eile. Hier findet sich ein China mit liebenswertem und entspanntem Antlitz, das eine ländliche Ruhe ausstrahlt, wie man sie sich im gehetzten, oft aggressiven Alltag der Ballungszentren an der Küste kaum vorstellen kann.

Szenenwechsel. Im Süden der Stadt entstehen Wohnviertel für die „neuen Reichen“, für Wirtschaftsbosse und Führungskräfte, die, man weiß nicht genau wie, zu Wohlstand gekommen sind. Die lange, wenig belebte Straße wird von einer riesigen Baustelle beherrscht. Hier entstehen moderne Wohnanlagen von zweifelhaftem Geschmack, aber mit allerlei Komfort ausgestattet: Einbauküche, mehrere Badezimmer, manche sogar mit Whirlpool, das Ganze mit Blick auf Wasserbassins und Springbrunnen. Die Umgebung ist nicht gerade spektakulär: ein großes, klobiges Krankenhaus und hohe Wohnbauten jüngeren Datums – wenn auch bereits verwohnt–, versperren die Aussicht. Aber das stört nicht weiter, denn hier ist die neue Elite unter ihresgleichen, abseits vom gemeinen Volk.

In dieser Straße kann man seinen Kaffee schon in einem Café westlichen Stils trinken – eine Seltenheit –, es gibt einen Supermarkt und ein Geschäft für Haushaltsgeräte. Es gibt nur wenige Autos hier, ausschließlich westliche Modelle, manche mit Fahrer. Die Musterwohnung in einem niedrigen Haus erstreckt sich über fast 200 Quadratmeter und zwei Stockwerke. Sie enthält auch eine Nische im japanischen Stil, wo man sich hinter verschiebbaren Wänden von allen Blicken abschirmen kann. Hier herrschen Schick und Kitsch von der modernen, westlichen Sorte. Wie in vielen Neubauten werden alle möglichen Stilrichtungen zusammengemischt – Hauptsache, es macht Eindruck und es ist Neo-Irgendwas. Der Mietpreis für eine Dauer von siebzig Jahren – Grund und Boden in der Stadt wie auf dem Lande sind nach wie vor in staatlicher Hand – liegt bei 900 000 Yuan1 . Wohnungen von mehr als 300 Quadratmeter Fläche kosten teilweise rund 1,5 Millionen Yuan, bar zu entrichten. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Wohnfläche pro Einwohner in der Stadt betrug Ende der Siebzigerjahre etwa vier Quadratmeter, heute vielleicht das Doppelte. Diese Luxusobjekte (die noch nicht einmal an der Spitze liegen) werden von einer staatlichen Organisation angeboten. Der Mietpreis entspricht einem Betrag, für den ein normaler Bauer jahrhundertelang arbeiten müsste. Und auch ein arbeitsloser Arbeitnehmer mit der jämmerlichen Unterstützung, die ihm – falls überhaupt – ausbezahlt wird, bräuchte mehrere lange Leben, bis sich seine Einkünfte zu einer solche Summe addiert hätten.

Nur wenige Kilometer entfernt zeigt sich im Stadtzentrum der Übergang zwischen damals und heute. In den zahlreichen Kaufhäusern gibt es geradezu alles zu kaufen, selbst teure Schönheitsprodukte aus Paris, die für die meisten Geldbeutel viel zu kostspielig sind. Mittendrin erhebt sich die riesige weiße Mao-Statue, deren erhobener Finger auf die Leuchtreklamen in der Umgebung weist. 1999 warben sie für ausländische Produkte wie Philips, Samsung und andere große Marken des internationalen Kapitalismus – sobald es dunkel wurde, schien es, als sendeten sie spöttisch leuchtende Zeichen in Richtung des verstorbenen großen Steuermanns. Die darin verborgene Ironie dürfte kaum einem Passanten entgangen sein, schließlich war hier ja einst der Versammlungsplatz für die großen maoistischen Aufmärsche. Wenn in diesem Jahr nun auch einige Reklameschilder Werbung für chinesische Firmen machen, so ist dies gleichsam eine nachgetragene Respektsbekundung für den Herold der nationalen Unabhängigkeit. Denn der heimische Kapitalismus kann allmählich Punkte gutmachen und sich schon besser behaupten.

Weitab vom Zentrum, neben einer Brücke in der Nähe der Universität Sichuan, die vor nicht allzu langer Zeit noch an der ländlichen Peripherie der Stadt lag, wird unter freiem Himmel ein Markt für Arbeitssuchende abgehalten. Der Markt ist in der ganzen Provinz bekannt, er entstand bereits in den Achtzigerjahren und wurde lange Zeit inoffiziell toleriert. Heute läuft er geregelt ab, unter Kontrolle der lokalen Behörden, einschließlich der Polizei. So hat die Stadtverwaltung hier einen Informationsdienst eingerichtet, der die freien Stellen in den kleineren Unternehmen vor Ort anzeigt. Sie stehen all jenen offen, die zumindest vorübergehend eine Aufenthaltsgenehmigung in der Stadt haben oder diese über den Arbeitgeber erhalten. 200 bis 300 Yuan im Monat kann ein unqualifizierter Arbeiter verdienen, 500 bis 800 Yuan bekommen qualifizierte Arbeiter wie Mechaniker oder Köche, 600 bis 1 200 Yuan ein guter Schreiner.

Das Hauptgeschäft spielt sich jedoch nebenan unter freiem Himmel ab. Hier treffen täglich mehrere tausend Menschen ein (noch mehr sind es beim Frühlingsfest, dem wichtigsten Fest der Chinesen). Zahlreiche Migranten strömen nach Chengdu, vor allem Bauern ohne Wohnrecht, die sich häufig im Umland ansiedeln. Manche sind auch Arbeiter aus der Stadt, die entlassen und von ihrem Unternehmen oder der Stadt nicht wieder eingegliedert wurden. In zwei Reihen stehen Männer und Frauen an und bieten ihre Arbeitskraft feil. Manche preisen ihre Qualifikation auf einem großen Blatt Papier mit roten Zeichen an – weniger Schreibkundige lassen sich dies von den anwesenden öffentlichen Schreibern für ein oder zwei Yuan mit ein paar Pinselstrichen anfertigen.

Die Frauen hoffen auf eine Stelle als Putzfrau, Verkäuferin oder Bedienung im Restaurant für 200 bis 300 Yuan im Monat, von den Männern arbeiten viele als Koch. Einer, er ist noch jung, zeigt Fotos von seinen kulinarischen Produkten und rühmt sich, 2 000 Yuan im Monat mit seinen Kochkünsten erwirtschaften zu können (ein wirklicher Spitzenkoch kann deutlich mehr erzielen). Manche halten sich tagelang in der Umgebung des Marktes auf, übernachten in billigen kleinen Unterkünften ohne jeden Komfort, manchmal auf der Straße – und ergattern die begehrte Arbeitsstelle am Ende doch nicht, auch wenn sie noch so wenig Lohn dafür erwarten. Für sie ist jeder Städter von vornherein ein Privilegierter. Immerhin beläuft sich das magere Arbeitslosengeld für einen staatlichen Arbeiter in den Städten auf rund 200 Yuan im Monat. Dies ist unwesentlich weniger als der Lohn, den viele Bauern mit ihrer mühseligen Arbeit erzielen.2

Nach Angaben von Professor Yuan Yayu, Soziologe an der Universität Sichuan, sind die in Chengdu versammelten Menschen jung, dynamisch und besser ausgebildet als die übrige Landbevölkerung. 90 Prozent der Zuwanderer kommen nicht über irgendeine Vermittlung hierher, und die meisten von ihnen müssen sich mit einer völlig unsicheren Stelle zufrieden geben. Dies allerdings gilt für ganz China.

Sichuan, das eine Agrarprovinz mit wenig Industrieansiedlung geblieben ist, war über lange Zeit hinweg eine der Kornkammern Chinas. Die Hungersnöte, die der „Große Sprung nach vorn“ ausgelöst hatte, haben sie besonders stark getroffen, gegen Ende der Mao-Ära war sie verarmt. Deng Xiaoping, der aus dieser Region stammt, machte sie zum Vorreiter bei der Erprobung neuer Strukturen in der Landwirtschaft, die eine Privatisierung der Ländereien und die Rückkehr zum kleinen Familienbesitz bedeuteten. Dank hoher finanzieller Unterstützung seitens der Regierung zur Verbesserung der Infrastruktur bemüht sich Sichuan heute um eine aktivere Teilnahme an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und der Industrialisierung der Region.3

Für die Bauern ist die Lage jedoch hier wie überall in China alles andere als zufrieden stellend. Viele Leute auf dem Land müssen sich außerhalb ihres Dorfes nach Broterwerb umsehen, manchmal weit weg von zu Hause. Die Bebauung des eigenen Bodens wirft zu wenig Ertrag ab. Eine solche Existenz ist ohnehin weit davon entfernt, den Lebensstandard und das Konsumniveau eines Städters sichern zu können.4 Die Kluft zwischen Stadt und Land, die selbst in der maoistischen Vergangenheit beträchtlich war, hat sich in den letzten Jahren noch weiter vertieft.

Die Migration in die Städte setzte in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre ein, als Deng Xiaoping seine Reformen auf den Weg brachte, und nahm bis zum Ende des Jahrzehnts beträchtliche Ausmaße an. Man schätzt, dass damals 50 bis 60 Millionen Bauern in die Städte gezogen sind.5 Sichuan, wo 10 Prozent der chinesischen Gesamtbevölkerung leben, stellte schon damals den größten Teil dieser Arbeitsmigranten. In den Neunzigerjahren setzte sich die Bewegung mit unregelmäßigerer Tendenz fort. Zwischen 1989 und 1991 versuchte die Regierung, den Strom einzudämmen, seit 1992 bemüht sie sich, ihn zu kanalisieren und zu kontrollieren, allerdings mit geringem Erfolg. Diese Migration wurde zwar durch die Liberalisierung der Wirtschaft motiviert und verstärkt, sie liegt aber auch darin begründet, dass die Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und der persönlichen Einflussnahme auf die Bevölkerung seitens der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) nicht allzu drastisch, aber doch in beträchtlichem Maße abgenommen haben.6 Heute ist diese Migration mit inzwischen 80 bis 100 Millionen Menschen stärker als je zuvor und kommt einem wahren Exodus aus den ländlichen Gebieten gleich.

Das maoistische China war ein recht untypischer Fall in der Dritten Welt. Da man die Bauern mit autoritärer Macht in den Dörfern hielt, vollzog sich die rasche Industrialisierung in den ersten drei Jahrzehnten der Volksrepublik ohne größeren Zustrom in die Städte. Die so genannte nichtbäuerliche Bevölkerung belief sich 1980 auf nur 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Aufgrund der bewussten Entscheidung des Regimes, die mit eiserner Hand durchgesetzt wurde, war die Volksrepublik fast ebenso bäuerlich wie das traditionelle China. In der darauf folgenden Periode, als die Wirtschaft „entmaoisiert“ wurde, ergriffen die Bauern selbst die Initiative. Die Machthaber versuchten sie in Schranken zu halten, indem sie kleine Städte oder ländliche Siedlungen schufen oder weiterentwickelten, die den Beginn einer blühenden Industrialisierung auf dem Lande darstellten. Diese Proto-Urbanisierung sollte das gefährliche Wuchern der Städte verhindern.

In den Büchern liegt das Gold

EIN wichtiger Aspekt dieser Politik, die auch heute noch von den Machthabern proklamiert wird, war die Furcht vor sozialer Instabilität. Dennoch gelang es ihnen nicht, die Migrationen einzudämmen. Viele Millionen Bauern befinden sich in ständiger Wanderschaft, sie sind eine fluktuierende Bevölkerung, die auf der Suche nach Gelegenheitsarbeiten dem Arbeitskräftebedarf hinterherzieht. Die Zahl derjenigen, die wegziehen vom Land, übersteigt die Zahl der neu Hinzukommenden, und ein Teil der „Nomaden“ hat sich inzwischen dauerhaft niedergelassen, nicht nur in den kleinen Städten und Siedlungen, die für sie vorgesehen waren, sondern in den Großstädten, wo sie eine neue Kategorie der Arbeiter bilden.7

Diese Bewegung ist ein Spiegel der wirtschaftlichen Realität und ihrer Probleme. Einerseits ist der landwirtschaftliche Boden oft weniger ertragreich als früher oder zumindest nicht ausreichend für die neuen Ansprüche. Zum anderen steht die bescheidene Agrarindustrie, die vielen Millionen Bauern Arbeit gegeben und sie an ihre Dörfer gebunden hatte, unter dem harten Druck der Konkurrenz von Produkten aus den Städten und aus dem Ausland. Dieser Druck wird sich mit dem bevorstehenden Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (siehe dazu den Artikel von Marc Mangin) noch verstärken.

So suchen die Bauern in den Küstenprovinzen nach ergiebigeren Einnahmequellen. Hier erhoffen sie zudem ein besseres Umfeld für die Ausbildung ihrer Kinder und weitere Annehmlichkeiten, die außerhalb der Städte kaum zu finden sind. Verliefen diese Migrationen früher in einer Pendelbewegung, weil sich alle ihrem Heimatort, ihrem Grund und Boden eng verbunden fühlten, so geht es heute zunehmend ums endgültige Abschiednehmen. Allerdings wird der Boden nicht ganz aufgegeben – auch Dorf und Haus stehen nicht ganz verlassen – er wird an einen Verwandten verpachtet und von ihm bebaut. Das kann auch die Frau des Bauern sein. Diese rasche Entwicklung wird von den Statistiken bestätigt, wobei die Zahlen vielleicht sogar zu niedrig angesetzt sind: 1980 waren 84 Prozent der Menschen auf dem Lande direkt in der Landwirtschaft tätig. Heute leben zwar immer noch 70 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, aber weniger als einer von zwei Chinesen bearbeitet noch seinen Boden.

Man schätzt, dass landesweit mehr als 50 Prozent der Arbeitskräfte auf dem Land ohne Beschäftigung sind. Der größte Teil von ihnen wandert in die weiter entwickelten Küstenregionen ab8 , so auch nach Peking, das auf Arbeit suchende Bauern große Anziehungskraft ausübt. Meistens werden sie dort von einem Netz lokalen oder regionalen Ursprungs aufgenommen, Leute aus dem Süden von einem Clan. Dieses Netz verschafft ihnen Arbeit und eine sehr bescheidene Unterkunft. Es sorgt dafür, dass die Bauern zuverlässig und fügsam arbeiten, und kümmert sich um sie, wenn sie krank sind (eine Krankenversicherung haben nur wenige von ihnen). Manchmal müssen die Bauern für diese Zugehörigkeit auch zahlen.

In den Städten gibt es einen beziehungsweise mehrere informelle Arbeitsmärkte, die sich teilweise sogar zunehmend spezialisieren. Im Herzen Pekings, in der Nähe des Hauptbahnhofs und der großen Hotels, trifft man beispielsweise auf einen Markt nur für Frauen. Meist junge Bäuerinnen suchen dort nach einer Arbeit als Putzfrau oder Dienstmädchen (ein wichtiger Bestandteil in den Haushalten der neuen Mittelklasse), als Verkäuferin oder Bedienung in den zahllosen Restaurants, von den weniger ehrenhaften Beschäftigungen ganz zu schweigen.

Dieser Markt spielt sich öffentlich, vor aller Augen und dennoch unauffällig ab. 1999 wurde er wegen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik von der Polizei aus den großen Avenuen in die umliegenden Seitenstraßen verdrängt. Hier herrscht eine vertrauliche Atmosphäre – was man von dem Markt für Männer nicht direkt behaupten kann. Er liegt weiter außerhalb, an einem weniger belebten Platz, in der Nähe des Westbahnhofs in Höhe der dritten Ringautobahn. Die Qualifikationen der jungen Männer – auch sie aus abgelegenen Landstrichen – sind hier nicht so genau definiert, die Grenze zwischen Arbeitssuche und Kriminalität ist fließend. Hier sind die Spannungen spürbar, die Polizei ist nicht weit. Für diese unkontrollierte Zuwanderung gibt es kein wirkliches Aufnahmenetz. Und dies sind nur zwei Beispiele von vielen im unendlich großen Peking, der Stadt, die so viele Menschen ins Träumen bringt.

Häufig ist es der Chef oder der Baustellenleiter, der die Landflüchtlinge über Beziehungen anwirbt. Man findet sie überall, die Männer meist auf Baustellen, die jungen Frauen in allen Restaurants, sie arbeiten auch in „schmutzigen“ Berufen mit geringer Qualifikation und schlechter Bezahlung. Selbst diese niedrigen Tätigkeiten stehen ihnen nicht immer offen. So vergibt unter anderem die Stadt Schanghai bestimmte leichtere Arbeiten als Liftboy oder Hausmeister, für die man nahezu keine Qualifikation benötigt, ausschließlich an die Bewohner mit städtischem Wohnrecht (die berühmten huku). Dies ist die Antwort auf den sozialen Druck, der mit der hohen Arbeitslosigkeit in den Städten ständig wächst.

Dies alles sind Anzeichen für die steigenden Spannungen zwischen den Arbeitern, die in den Städten fest etabliert sind, und den neuen Arbeitern ländlicher Herkunft, die sich ebenfalls in der Stadt niederlassen wollen. Noch treffen beide Gruppen nicht allzu oft aufeinander, allerdings machen sie sich vor allem in den Betrieben der Privatwirtschaft zunehmend Konkurrenz. Da diese geringeren staatlichen Zwängen unterliegen oder sich weniger um die Vorschriften kümmern, rekrutieren sie, ungeachtet der gesetzlichen Beschränkungen, lieber die Arbeitskräfte vom Land. Diese nämlich sind billiger und erhalten keine oder geringe Sozialleistungen.

Wenn sie keine Ausbildung haben, ist ihr Lohn im Vergleich zu den städtischen Normen meistens sehr niedrig. Er liegt für viele Kellnerinnen bei 300 Yuan im Monat und beträgt auf den Baustellen etwa das Doppelte. Den Beschäftigten gelingt es, sich mehr oder weniger gut zu ernähren, sie wohnen vor Ort, allerdings oft in improvisierten Verhältnissen, wo der Tisch im Restaurant nachts schon mal zum Bett umfunktioniert werden kann, oder in Schlafsälen. Den größten Teil ihres Lohns schicken sie nach Hause an ihre Familien. So sparen sie in mehreren Jahren harter Arbeit – zwölf Stunden am Tag, sechs, manchmal sieben Tage die Woche – die gewünschte oder erforderliche Summe für die Mitgift an, die der künftige Ehemann seiner Frau oder die Schwester ihrem Bruder erbringen muss, was ihr selbst wiederum die Heirat ermöglicht.

Manchmal ist das Geld auch für das Studium eines Verwandten bestimmt. Als Gegenleistung muss derjenige (manchmal diejenige), dem der Aufstieg gelingt, die Familie, vor allem die alt gewordenen Eltern, unterstützen, denn: Bauern bekommen keine Rente. Der Zugang zu einer soliden Ausbildung ist ein immer wichtigeres Motiv für den Zustrom der Landbevölkerung in die Stadt. In den ländlichen Gebieten gibt es keine oder nur mittelmäßige Hochschulen, und die inzwischen kostenpflichtigen Grundschulen sind meist privat. Die damit verbundene finanzielle Belastung ist groß, denn die Hochschulen sind meist teuer. Peking ist für die Vielfalt und die Qualität seiner Schulen auf allen Ausbildungsstufen bekannt und somit attraktiv für die Landbevölkerung, gemäß dem berühmten chinesischen Sprichwort „In den Büchern liegt das Gold“. Das verdiente Geld reicht manchmal, um ein kleines Geschäft im Heimatdorf zu eröffnen, sich am Aufbau eines kleinen Unternehmens zu beteiligen oder ein neues Haus zu finanzieren.

Wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der langfristig in der Stadt leben und die Vergangenheit hinter sich lassen will, weiß niemand. Die vielen kleinen Restaurants und einfachen Garküchen Pekings, in denen die berühmte Sichuan-Küche zu günstigen Preisen angeboten wird, weisen jedenfalls darauf hin, dass man sich auf längere Zeit einrichtet.

dt. Erika Mursa

* Mitherausgeber des Buchs „Le Siècle des communismes“, Paris (L’Atelier) 2000.

Fußnoten: 1 Etwa 10 Yuan entsprechen einem Euro. 2 Hinter dem nationalen Durchschnitt von monatlich 240 Yuan Arbeitslosengeld im Jahre 1999 verbergen sich je nach Region große Unterschiede: 140 Yuan in Sichuan, 400 Yuan in Schanghai oder Peking. Vgl. Jean Louis Rocca, „L’Evolution de la crise du travail dans la Chine urbaine“, Les Etudes du CERI, Paris, Mai 2000, S. 26. 3 Die Region im Westen genießt in der aktuellen Politik bei allen Großprojekten Priorität. Shanghai Daily, 17. Mai 2000, China Daily, Peking, 19. Mai 2000. 4 D. Davis (Hg.), „The Consumer Revolution in Urban China“, Berkeley (University of California Press) 2000. 5 Hein Mallee, „Migration, hukou and resistance in reform China“, in: E. Perry/M. Selden (Hg.), „Chinese Society: Change, Conflict and Resistance“, London 2000. 6 Ebenda, S. 84. 7 Jean-Philippe Beja, Les travailleurs itinérants, des immigrés de l’intérieur, Perspectives Chinoises, Hongkong, 21, Januar/Februar 1994. 8 Philip S. Golub, „Schanghai – Chinas globale Stadt“, Le Monde diplomatique, August 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von ROLAND LEW