15.12.2000

Aids und Armut

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Aids und Armut

Von ANATOLE AYISSI *

AM 14. Juli ging im südafrikanischen Durban die 13. Internationale Aidskonferenz zu Ende. Obwohl das Treffen von einem Klima des Argwohns überschattet war, das der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki mit seinen umstrittenen Stellungnahmen erzeugt hatte, gab es am Ende einen Hoffnungsschimmer. Die Welt scheint sich der globalen Dimension des Problems endlich bewusst zu werden.

Immerhin stehen erhebliche finanzielle Mittel in Aussicht: Die USA kündigten an, Darlehen in der Höhe von einer Milliarde Dollar für die Länder südlich der Sahara zur Verfügung zu stellen, damit diese sich die extrem teuren Medikamente leisten können. Und die Weltbank hat für nationale Anti-Aids-Kampagnen Mittel in Höhe von 500 Millionen Dollar zugesagt. So ermutigend diese Zahlen auch sein mögen, sie geben wenig Anlass zu Jubel. Wie Peter Piot, der Leiter von UNAIDS, am 10. Januar vor dem UN-Sicherheitsrat betonte, müssten „zwischen einer und drei Milliarden Dollar jährlich“ aufgebracht werden, um der Ausbreitung der Krankheit in Afrika effizient begegnen zu können.1 Mark Malloch-Brown, Chef des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), verwies vor demselben Gremium darauf, dass die USA bei jährlich 40 000 Neuansteckungen zehn Milliarden Dollar zur Bekämpfung von Aids ausgeben, während in Afrika, wo sich im selben Zeitraum vier Millionen Menschen infizieren, nur 165 Millionen Dollar zur Verfügung stehen.

Die G-8-Staaten haben sich verpflichtet, im Rahmen einer intensiveren Partnerschaft mit den Regierungen, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen internationalen Institutionen, mit der Industrie (insbesondere pharmazeutischen Unternehmen), universitären Einrichtungen und Verbänden zusammenzuarbeiten, um „bis zum Jahr 2010 die Zahl der jungen Menschen, die sich in Afrika mit HIV/Aids infizieren, um 25 Prozent zu reduzieren“.

Dennoch herrscht keine Einigkeit darüber, wie die Epidemie am wirksamsten bekämpft werden kann. Erhebliche Profite sind im Spiel, aber auch moralische Einstellungen und Rivalitäten unter Wissenschaftlern erschweren eine Einigung. Im Zentrum der Kontroverse steht dabei die schwere Krise, die der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki im März 2000 auslöste. In einem Brief an US-Präsident Bill Clinton unterstrich Mbeki den engen Zusammenhang, den er in gewissen Regionen der Welt wie Afrika zwischen dem krankheitsbedingten Massensterben und der erdrückenden Massenarmut zu erkennen glaubt.

Zum Schluss wagte der südafrikanische Präsident einen Vorschlag: Jede Strategie, die Aids ausrotten wolle, könne nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie objektiv und realistisch den Armutsfaktor berücksichtige. Wörtlich schrieb Mbeki: „Fest steht, dass ungeachtet der Lehren, die wir aus den im Westen gewonnenen Erkenntnissen über Aids und HIV ziehen müssen, die schlichte Übertragung westlicher Erfahrungen auf die afrikanische Realität absurd und irrational wäre. Ich bin davon überzeugt, dass es unsere dringlichste Aufgabe ist, gezielt auf die spezifischen Gefahren zu antworten, die uns Afrikaner bedrohen. Wir werden vor dieser Verpflichtung nicht zurückweichen und nicht einfach einen ‚Katechismus herunterbeten‘, der – so tauglich er für die Aidsbekämpfung im Westen sein mag – auf die Situation in Afrika nicht anwendbar ist.“ Die vorliegenden Zahlen über das Ausmaß der Tragödie seien nur mehr oder weniger genaue Schätzungen. Die Realität sähe zweifellos noch tragischer aus, wenn die afrikanischen Staaten über einigermaßen zuverlässige Statistiken verfügten.

Es waren nicht so sehr diese Aussagen, die den heftigen Protest zahlreicher Wissenschaftler hervorriefen, als vielmehr Mbekis Zustimmung zur These einiger „abtrünniger“ Wissenschaftler, die nicht HIV, sondern eben die Armut für die Ursache von Aids halten. Die von über 5 000 Personen, darunter mehreren Nobelpreisträgern und anerkannten Aidsforschern unterzeichnete Durban Declaration2 übte an den Aussagen Mbekis scharfe Kritik.

Obwohl kaum jemand die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung der Immunschwächekrankheit ernsthaft anzweifeln wird, besteht dennoch ein enger Zusammenhang zwischen Armut und massenhaftem Aidstod.3 Die WHO hebt hervor: „Die Armut beeinflusst alle Stadien des menschlichen Lebens, von der Wiege bis zur Bahre. Sie verbündet sich mit den todbringenden und schmerzhaften Krankheiten und macht den Betroffenen das Leben zur Qual. In manchen Entwicklungsländern stehen pro Einwohner und Jahr weniger als vier US-Dollar für die Gesundheitsvorsorge zur Verfügung . . . Nach den Zahlen von 1993 liegt die Lebenserwartung von Menschen in den am wenigsten entwickelten Ländern bei 43 Jahren, in den entwickeltsten Ländern dagegen bei 78 Jahren . . . In fünf Ländern der Welt wird die Lebenserwartung bis zum Jahr 2000 sinken, während sie überall sonst ansteigt.“4 Während Aids in Afrika systematisch alle Menschen umbringt, die vom Virus befallen sind, gilt dies für die reichen Ländern Europas und Amerikas nicht. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung wäre es prinzipiell möglich, dass sich Aids von einer unmittelbar tödlichen Krankheit zu einer chronischen, zum Tod führenden Erkrankung entwickelt.

Der Medikamentencocktail, der für die Therapie entwickelt wurde, kostet pro Patient und Jahr rund 15 000 Dollar. Selbst in Südafrika, dem reichsten Land des Kontinents, stellt das Gesundheitsbudget für jeden Bürger nur etwa 40 Dollar zur Verfügung. Die intrauterine Ansteckung wird in Kürze zur Hauptübertragungsform der Krankheit auf afrikanische Kinder geworden sein, was bedeutet: Die meisten afrikanischen Kinder werden bereits im Mutterleib infiziert. Schätzungsweise ein Drittel aller weltweit vorkommenden Mutter-Kind-Übertragungen von HIV werden in Afrika verzeichnet.5 Laut Statistik hat sich etwa jedes dritte von einer kranken Mutter zur Welt gebrachte Kind während der Schwangerschaft angesteckt. Beim gegenwärtigen Stand des wissenschaftlichen Fortschritts weiß man, dass eine AZT-Behandlung diese Art der Übertragung um die Hälfte verringern könnte.

So unbestritten die Vorteile des Stillens sind – nach neueren Erkenntnissen der Vereinten Nationen stecken ungefähr 15 Prozent der Aids-kranken Mütter ihre gesund geborenen Babys während der Stillzeit an. Sechs Monate nach der Geburt steigt der Ansteckungsgrad offenbar wieder auf 30 Prozent, selbst wenn durch den Einsatz von AZT die intrauterine Übertragung zunächst auf 15 Prozent gesenkt werden konnte. Damit beginnt das Verhängnis wieder von vorne. Am besten sollten also alle gesund geborenen Kinder, deren Mütter HIV-positiv sind, mit der Flasche ernährt werden. Aber auch am Preis der Babynahrung in der Apotheke ist abzulesen, wie stark der (durch die Mutterbrust verursachte) Aidstod dieser Kinder mit der Armut zusammenhängt.6

Auf zehn HIV-infizierte Männer kommen in Afrika zwölf HIV-infizierte Frauen. Besonders auffällig ist der erschreckend hohe Ausbreitungsgrad unter den Heranwachsenden und unter jungen Frauen zwischen 20 und 25 Jahren. Da die afrikanischen Frauen politisch wie sexuell praktisch rechtlos sind und wenig Handlungsmöglichkeiten haben, müssen sie Sexualität häufig einfach über sich ergehen lassen. Derzeit liegt es vor allem an den Kriegen – und ihren Folgeerscheinungen wie den Flüchtlingslagern –, dass sich Menschen auf dem afrikanischen Kontinent mit Aids anstecken, denn sie schaffen eine Alltagssituation, in der Vergewaltigung gewissermaßen zum banalen Ereignis wird.

Nachdem man Thabo Mbeki beschuldigt hatte, er wolle die Krankheit gar nicht bekämpfen, setzte sich dieser zur Wehr: Er sei äußerst überrascht über „den regelrechten Sturm“, den sein Bemühen ausgelöst habe, die tiefer liegenden Gründe für das Unheil zu begreifen, das den afrikanischen Kontinent heimsucht. Er verwies außerdem auf den Sechsstufenplan, den seine Regierung ausgearbeitet hat und der folgende Punkte enthält: Sensibilisierung der südafrikanischen Bevölkerung über die Tatsachen und die immense Gefahr, die von der schrecklichen Epidemie ausgeht; Beseitigung der Armut, die er als „unerbittlichste und wirksamste Mordwaffe“ bezeichnete; Kampf gegen opportunistische Erkrankungen wie Tuberkulose, Aids und andere Geschlechtskrankheiten; Garantie einer „menschlichen Antwort“ für alle, die mit der Krankheit leben, und für die Aidswaisen; Beteiligung an den internationalen Bemühungen zur Entwicklung eines Impfstoffes und Vertiefung der Forschung über die antiretrovirale Medikation.

Wahrscheinlich hatte es sogar sein Gutes, dass der südafrikanische Präsident eine Diskussion über diese gigantische Gesundheitskrise ausgelöst hat und auf die hohen Risiken und Kosten von Therapien hinwies, die sich woanders bewährt haben mögen, für den afrikanischen Kontinent jedoch wirkungslos bleiben könnten. So sieht es jedenfalls Thabo Mbeki: „Wir sind nach wie vor von der Notwendigkeit überzeugt, besser verstehen zu müssen, wie die angemessene Antwort für eine Situation aussieht, die sich durch große Armut und die Epidemie auszeichnet.“

Der südafrikanische Präsident hat ein vielseitig zusammengesetztes Team von Forschern und Experten berufen, die – aus ihren unterschiedlichen Perspektiven – verlässliche und wirksame Antworten auf diese brennenden Fragen geben sollen.7 In diesem Expertengremium haben die „abtrünnigen“ Wissenschaftler, die einen Zusammenhang zwischen HIV und Aids bestreiten, allerdings immer noch erstaunlich viel Gewicht.

dt. Birgit Althaler

* Institut für Abrüstungsforschung der Vereinten Nationen, Genf.

Fußnoten: 1 Le Monde, 12. Januar 2000. 2 Siehe „The Durban Declaration“, Nature, London, Nr. 406, S. 15f. und www.aidshilfe.de. 3 Lawrence Goldyn, „Africa Can't Just Take a Pill for Aids“, New York Times, 6. Juli 2000. 4 Weltgesundheitsorganisation, Weltgesundheitsbericht 1995 (Genf, WHO), S. 1. 5 Weltbank, „Confronting Aids. Public Priorities in a Global Epidemic“, Oxford UP 1999, S. 90. 6 Nach Schätzungen von Unicef sterben eineinhalb Millionen Kinder jährlich an den Folgen dieser Ernährung. 7 Rachel Swarns, „Dissent on Aids by South Africa's President: Thoughtfulness or Folly?“, The New York Times, 8. Juli 2000.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von ANATOLE AYISSI