15.12.2000

Mikroepidemien

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Mikroepidemien

IN den Regionen südlich der Sahara, wo sich Aids rasch ausbreitet, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Verbreitung von HIV und der Art, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt sichern. Am stärksten betroffen sind die Gebiete mit den meisten Bodenschätzen, wie vor allem Gold, Diamanten, Kobalt, Chrom, Eisen und Uran.

Anders als häufig behauptet, ist Aids nicht in den ärmsten, sondern gerade in den reichsten Ländern am meisten verbreitet: genauer gesagt, in den weniger armen, die dank ihrer Rohstoffvorkommen erste Anzeichen eines wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts verzeichnen. Bei den neun afrikanischen Ländern, deren Infektionsgrad 15 Prozent übersteigt, handelt es sich zugleich um die Länder mit den größten Rohstoffvorkommen, nämlich Botswana, Swasiland, Simbabwe, Lesotho, Südafrika, Sambia, Namibia, Demokratische Republik Kongo und Malawi. Südafrika, wo nahezu ein Fünftel der Bevölkerung HIV-positiv ist und das damit an fünfter Stelle in Afrika liegt, nimmt im Human Development Report des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) den 103. Rang ein.1 In Swasiland, das an 113. Stelle liegt, sind 25,25 Prozent der Bevölkerung an Aids erkrankt. Botswana (122. Rang) mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 7 690 Dollar ist nicht nur im afrikanischen Vergleich, sondern weltweit das am schlimmsten von der Epidemie heimgesuchte Land: Der Anteil der HIV-Infizierten liegt hier bei 35,8 Prozent der Bevölkerung. Hinsichtlich des allgemeinen Entwicklungsstandes liegt Botswana jedoch vor 36 anderen afrikanischen Staaten.2

In Afrika wandern viele Männer in die Bergbaugebiete und die dort entstandenen Industriezentren ab. Sie wohnen dann fern von ihren Familien in primitiven Unterkünften für Alleinstehende. Die in der Gegend lebenden Frauen, die ihre sexuellen Dienste anbieten, tragen in außerordentlich hohem Maß zur Übertragung von Geschlechtskrankheiten und Aids bei. Viele von ihnen prostituieren sich, weil sie machtlos und der ländlichen Armut ausgeliefert sind. Diese ohnehin schon höchst gefährliche Situation führt rasch zur weiteren Ausbreitung, wenn die Männer zu gelegentlichen Besuchen nach Hause kommen.

Eine 1997 in der Provinz Kwazulu Natal (Südafrika) durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass die Zahl der HIV-infizierten Personen alarmierend gestiegen ist, bis zu 26 Prozent bei schwangeren Frauen. Die Partner der betroffenen Frauen sind meist ausgewandert, um sich im Bergbau ihren Lebensunterhalt zu sichern. Frauen, deren Ehemänner vor Ort geblieben sind oder die mit einem festen Partner zusammenleben, waren seltener infiziert. In Carletonville, dem Zentrum des Goldabbaus, arbeiten 88 000 Bergleute, 60 Prozent stammen aus verschiedenen Landesteilen bzw. Nachbarstaaten (Mosambik, Malawi und Lesotho). Hier leben etwa 500 Prostituierte, ein Drittel davon HIV-positiv.3 Von den Bergarbeitern sind 22 Prozent infiziert.

Während Aids früher in den Städten stärker konzentriert war, hat der Kreislauf von Arbeitskräftemobilität – Ansteckung der Arbeiter – Übertragung auf die Lebenspartnerinnen – Mutter-Kind-Übertragung zur verstärkten Ausbreitung der Infektion auf dem Land geführt. So erklärt sich die überraschende Verbreitung der Epidemie in ländlichen Gebieten und in immer entlegenere Regionen, aber auch der Ausbruch von Mikroepidemien, d. h. räumlich begrenzten Infektionsherden in unmittelbarer Nähe von Gegenden, die praktisch keine Krankheitsfälle aufweisen – auch dies eine Besonderheit von Aids. Solche Mikroepidemien treten im Umkreis der südafrikanischen Bergbauzentren auf, aber auch von Ballungsräumen wie San Pedro Sula in Honduras, wo sich maquilas (kleinere Zulieferbetriebe) ansiedelten, oder in Bevölkerungszentren, die in vielen Ländern entlang der großen Handelsrouten entstanden.

PILAR ESTÉBANEZ

Fußnoten: 1 Der „Human Development Index“ (HDI) erlaubt die Klassifizierung von 174 Ländern nach ihrem Entwicklungsniveau, gemessen an Fortschritten im Gesundheits- und Sozialbereich. In Afrika liegen nach dem HDI nur Libyen (72. Platz) und Tunesien (101. Platz) vor Südafrika. Human Development Report 2000, United Nations Development Programme, UNO-Verlag, Bonn 2000). 2 Die Liste geht von Gabun (123) über Lesotho (127), Ghana (129) und Simbabwe (139) bis Burundi (170), Äthiopien (171), Burkina Faso (172), Niger (173) und Sierra Leone (174), das auf dem letzten Platz dieser Weltrangliste liegt. 3 UNAIDS, Genf 1998; www.unaids.org.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von PILAR ESTÉBANEZ