15.12.2000

Der Lidschlag des Konsumenten

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Der Lidschlag des Konsumenten

Von FRANK MAZOYER *

VIER Jahre ist sie her, die Meldung aus der Rubrik „Vermischtes“: Zwei Kaufhausdetektive ertappen einen Zehnjährigen, der eine Playstation mitgehen lassen wollte. Aus erzieherischen Gründen schlägt die Kaufhausleitung einen harten Ton an, dann begleiten zwei Wachleute den Jungen nach Hause. Aus Angst davor, seinen Eltern Rede und Antwort stehen zu müssen, entwischt er im Treppenhaus und stürzt sich aus dem dritten Stock. Ein schrecklicher, gewaltsamer Entschluss, in einem Sekundenbruchteil getroffen, genauso schnell wie zwei Stunden zuvor der unselige Entschluss, die Hand nach der Konsole auszustrecken. Eine Triebhandlung mit dramatischen Folgen.

Die menschlichen Triebe allerdings gehören zum Grundkalkül jeder Marktstrategie. In den Fünfzigerjahren entstanden „Marktforschungsinstitute“, die das Konsumverhalten von Otto Normalverbraucher analysierten, um ihn unterschwellig zum Kauf bestimmter Produkte anzuregen. Man wollte das Unterbewusstsein „ausschalten“, Verhaltenstypen definieren und deren Schwachstellen kennen lernen, um die entsprechenden „Köder“ auszulegen. Der Zeitschrift Sales Management zufolge „gaben Hersteller wie Goodyear und General Motors im Jahr 1956 12 Millionen Dollar für derartige Studien aus“.

Die ersten Ergebnisse lassen nicht lange auf sich warten. Um mögliche Kaufhemmnisse auszuschalten, muss das Produkt acht verborgene Bedürfnisse ansprechen: Es muss die narzisstische Ader des Konsumenten treffen, emotionale Sicherheit bieten, ihn in seiner Selbstachtung bestärken, dem Zeitgeist entsprechen und dem möglichen Käufer das Gefühl von Macht, Unsterblichkeit, Authentizität und Kreativität vermitteln. Vertriebs- und Werbeleute spielen gekonnt auf dieser Klaviatur und bewirken, dass die Produkte immer weniger aufgrund ihres realen Nutzwerts gekauft werden, sondern weil sie eine „Marktlücke“ schließen. Als Ergebnis dieser Analysen wird der Supermarkt konzipiert: Riesenauswahl, endlose Regalreihen sowie Farben- und Lichterpracht sorgen dafür, dass der Verbraucher sich schwer zurechtfindet und ein impulsives Kaufverhalten an den Tag legt: „Im Einzelhandel mit seinen Verkäufern gibt es nicht halb so viele Triebkäufe wie im Kaufhaus. Einem Verkäufer gegenüber überlegt der Kunde, was er wirklich braucht.“

Im Supermarkt dagegen befindet sich der Kunde in einem Reich, wie er es aus der Märchenwelt seiner Kindheit kennt; alles, was er sich wünscht, ist zum Greifen nahe. Verschiedene Versuche, bei denen mit einer Kamera die Häufigkeit der Lidbewegungen aufgezeichnet wurde, ergaben, dass Supermarktkunden in einen hypnoseähnlichen Zustand geraten. Der Lidschlag – normalerweise 32 Mal pro Minute – verringerte sich während des Einkaufs um die Hälfte und beschleunigte sich deutlich an der Kasse, um sich dann wieder zu normalisieren. Ein solcher Trancezustand mit geschwächter Widerstandskraft öffnet dem Spontankauf Tür und Tor.

„Erst verzaubern, dann verführen!“ – das funktioniert besonders gut bei den kleinen Lieblingen der Marktforscher: den Kindern. Einer der Spezialisten auf diesem Verführungsgebiet, Claude Myller, erklärt, was an dieser Zielgruppe so lohnend ist: „Es braucht viel Zeit, aber wenn Sie längerfristig im Geschäft bleiben wollen, zahlt es sich aus, wenn Sie eine beziehungsweise zehn Millionen Kinder zeitlebens auf ein bestimmtes Produkt einschwören können. Wie Soldaten, die losmarschieren, wenn der Marschbefehl ertönt.“

Zur langfristigen Bindung dieser Klientel werden Spielzonen und spielerische Teilnahmemöglichkeiten integraler Bestandteil des Geschäfts. Dadurch wird im emotionalen Gedächtnis der Kinder eine positiv konnotierte Atmosphäre gespeichert, die sie als erwachsene Konsumenten wieder abrufen. Fünfzig Jahre später zahlt sich diese Marketingpolitik für Ikea oder McDonald’s aus. Auch Fnac, eine große französische Musik- und Buchhandelskette, sorgt sich um seine junge Kundschaft. Umgerechnet rund 30 Millionen Mark wurden pro Niederlassung für das „Klangumfeld“ bereitgestellt. Im Eingangsbereich von Fnac Junior werden die Kids von einem Himmel-und-Hölle-Spiel magisch angezogen. Sanfte Musik umrauscht sie. In der Mitte des Eingangs gibt es eine kleine Klangbrücke. Jede Stufe löst beim Betreten einen Ton aus. Die Kinder sind hell begeistert. „Selbst mit geschlossenen Augen soll man wissen, dass man in diesem Geschäft ist und nicht bei der Konkurrenz“, erklärt Michael Boumendil, der Klangverantwortliche. In einigen Jahren wird diese Bindung Früchte tragen.

Auch in Supermärkten wird auf die Auswahl der Hintergrundmusik geachtet. Hier zählt zu allererst das Tempo. Langsame, romantische Musik verlangsamt den Gang: Je länger sich ein Kunde im Geschäft aufhält, desto mehr kauft er ein. In Fastfood-Restaurants wird ein schnellerer Rhythmus unterlegt, was die Bewegungen der Menschen beschleunigt. Eine Frage der Rentabilität also. „Musik kann sich sehr stimulierend auf das Kaufverhalten auswirken“, bestätigt auch Thierry Lageat, Leiter der Marketingabteilung von Brime Technologies. In diesem Unternehmen (Schwerpunkt: Sensormarketing) werden Produkte durch Experten „abgehört“, bevor sie auf den Markt kommen. Deren Aufgabe ist es, die Töne einer Werbung für ein neues Produkt mit synthetischen Klängen zu vergleichen, die ein positives Image vermitteln.

„Wir versuchen Kriterien zu entwickeln, mit denen sich ein angenehmer Klang definieren lässt, der zugleich eine bestimmte Bedeutung vermittelt. Zum Beispiel symbolisiert ein kurzes, sattes Klicken Sicherheit. Deshalb setzt man es bei dem Verschluss von Duschgel oder bei Autotüren gerne ein. Bei anderen Klängen denkt der Konsument an Dynamik, Frische oder Luxus.“ Dadurch, dass das Ohr wiederholt mit so gezielt eingesetzten Geräuschen konfrontiert wird, tritt ein Konditionierungseffekt ein. In einem Nachbarraum testet Sensormarketing-Ingenieurin Christel ein Frühstücksgetreide. Sie reißt die Tüte auf, schüttet Milch dazu, kaut. „Wir versuchen, für jeden Schritt das Geräuschpotenzial, das den Appetit wecken soll, zu optimieren“, erklärt Christel. „Beim Aufreißen der Tüte soll bereits ein sinnliches Erlebnis erzeugt werden. Wenn das Kaugeräusch nicht stimmig ist, muss das Getreideprodukt gegebenenfalls eine andere Form bekommen.“ Mit einer eigenen Software, die Form und Materialbeschaffenheit des getesteten Produkts berücksichtigt, ist es möglich, die gewünschte Klangqualität zu entwickeln.

Im Kampf gegen die Konkurrenz bleibt nichts unerforscht. Brime Technologies untersucht auch den Tastsinn, analysiert die mehr oder weniger rauhe, harte oder haftfähige Oberflächenstruktur eines Produkts, um dessen taktiles Profil zu erstellen. Das gilt für Handys genauso wie für Duschvorhänge. Sobald ein Produkt im Supermarkt oder im Kaufhaus ausliegt, kann die haptische Wahrnehmung zum zusätzlichen Kaufanreiz werden.

Dank neuer Technologien setzen die Hersteller heute auch auf den Geruchssinn. Bei der nächsten Generation der Elektrospiele wird man die quietschenden Reifen riechen können, ebenso wie den Atem eines Drachens oder den Pulvergeruch beim Schießen. Die beiden amerikanischen Start-ups DigiScents und AromaJet haben sich bereits in dieses lukrative Abenteuer digitaler Geruchstechnologie gestürzt und bieten Geruchsgeneratoren an, die man direkt an seinen Computer anschließen kann und die über mehrere Grundessenzen verfügen und daraus Mischungen und verschiedene Geruchsnuancen erzeugen können. Erste Industriekonzerne, darunter Procter & Gamble und Nestlé, für die der olfaktorische Aspekt der Produkte ein Verkaufsargument darstellt, haben in diese Unternehmen investiert, um damit via Internet für ihre Produkte zu werben. Die ersten Geruchssites werden in weniger als zwei Jahren technisch ausgereift sein.

Da der Geruchssinn am leichtesten manipulierbar scheint, wendet sich das Geruchsmarketing zur Entwicklung dieser künstlichen Aromata an Experten der organischen Chemie. „Gerüche prägen sich dem menschlichen Gehirn sehr lange ein“, erklärt Aurélie Duclos. „Sie werden im limbischen System als situativ-kontextuelle Emotionen gespeichert. Wenn man später denselben Duft riecht, wird die ursprüngliche Situation abgerufen.“

Der Verbraucher ahnt von all dem natürlich nichts. Die Stimulierung vollzieht sich unterhalb seines Bewusstseins und ist eine große Versuchung für die Warenhäuser. Grüne Früchte könnte man mit dem Duftstoff reifer Früchte und Plastikhandtaschen mit einem Ledergeruch versehen. Noch effektiver wäre der Einsatz von Ledergeruch im Gebrauchtwagenhandel, um die Vorstellung vom Neuwagen zu simulieren. Natürlich handelt es sich dabei um Irreführung, aber wie will man das kontrollieren?

In der Pariser Ingenieurschule École des mines hat das erste virtuelle Geschäft zur Erforschung von Verbraucherverhalten eröffnet. Der Testverbraucher befindet sich in einem Raum, dessen Wände in Wahrheit riesige Projektionsflächen sind, und bewegt sich durch virtuelle Gänge. Hinter einer Spiegelwand notieren Wissenschaftler seine Reaktionen. Dem Verhaltensforscher Alain Sivan zufolge „kann damit die optische Wirkung der Produkte erfasst werden, ohne dass sie tatsächlich hergestellt werden müssen“. In den USA wird zusätzlich noch ein Pupillometer benutzt: Je weiter die Pupille, desto interessierter ist der Kunde. Ein anderes Unternehmen, Capita Research Group, erstellt Elektroenzephalogramme von Versuchspersonen, die Werbespots sehen. Über die Auswertung der Gehirnströme lässt sich – unabhängig von subjektiven Stellungnahmen der Testperson – messen, ob ein Produkt auf Anklang stoßen wird oder nicht.

In einem derart gestalteten Zusammenhang steht jeder Käufer unter Einfluss. Jede seiner Gesten ist vorausgesehen, jede seiner Entscheidungen das Ergebnis einer Studie. Zur großen Freude der Marketingexperten haben sich die äußeren Einflussfaktoren in einen inneren Trieb verwandelt, der ähnlich wie Alkohol unter die Suchtphänomene und Verhaltensstörungen fällt. Die beiden Psychiater Jean Adès und Michel Lejoyaux beschreiben das Phänomen an einem Fall: „Beim Einkaufen empfand Eléonore eine intensive Erregung, sie hatte den Eindruck, nicht mehr sie selbst zu sein, jegliche Kontrolle zu verlieren. An einem einzigen Tag konnte sie mehrere Hüte sowie Dutzende Kleider und Schuhe kaufen. Eléonore, die seit sechs Monaten keine Miete mehr bezahlt hatte, wurde nach einem Selbstmordversuch in die Psychatrie eingeliefert.“

Fröhliche Weihnachten ...

dt. Michael Tillmann

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von FRANK MAZOYER