12.01.2001

Empire – das höchste Stadium des Kapitalismus

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Empire – das höchste Stadium des Kapitalismus

WAS unterscheidet die Herrschaftsordnung des globalisierten Kapitalismus vom Imperialismus, wie ihn die marxistische Tradition definiert hat? Welche wirtschaftlichen, technologischen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Welt haben diesen Übergang ermöglicht und begleitet? Welche Mechanismen der Kontrolle, welche der Konsensfindung werden sich im globalen Maßstab etablieren? Und welche Konsequenzen hat das für die sozialen Auseinandersetzungen in den Staaten des Westens, in den Schwellenländern und in der Dritten Welt? Dies sind einige der zentralen Fragen, denen in dem Buch „Empire“ nachgegangen wird, das Toni Negri und Michael Hardt geschrieben haben. Ihre Thesen sind eigenwillig, anregend, bisweilen provozierend und verdienen eine nähere Betrachtung. Von TONI NEGRI *

Zwei grundsätzliche Überlegungen bilden den Ausgangspunkt des Buches „Empire“, das Michael Hardt und ich gemeinsam geschrieben haben, und zwar zwischen Golf- und Kosovo-Krieg. Die erste Überlegung besagt, dass es einen Weltmarkt (in dem Sinn, den man dem Begriff seit dem Fall der Berliner Mauer geben kann, also nicht bloß als makroökonomisches Modell, sondern als politische Kategorie) nicht ohne eine Form rechtlicher Regulierung geben kann. Diese Rechtsordnung wiederum kann nicht ohne eine Macht existieren, die ihre Durchsetzung garantiert.

Die zweite Überlegung besagt, dass die Rechtsordnung des globalisierten Markts (den wir „imperial“ nennen) nicht nur eine neue höchste Form der Macht abbildet, die durch sie organisiert werden soll; in dieser Rechtsordnung schlagen sich auch neuartige Kräfte des Alltagslebens und des Widerstandes, der Produktion und des Klassenkampfes nieder.

Seit dem Fall der Berliner Mauer haben die Ereignisse der internationalen Politik unsere Grundannahmen im Großen und Ganzen bestätigt. Nun ist es an der Zeit, sie zur Diskussion zu stellen und die Begriffe (oder besser die Kategorien), die wir vorschlagen, im Lichte dieser Erfahrung zu überprüfen. Wir verfolgen damit auch das Ziel, die Politik- und Rechtswissenschaften angesichts der veränderten Organisationsform der globalisierten Macht zu erneuern.

Es wäre töricht, heute die Existenz eines globalisierten Markts zu leugnen. Im Internet zu surfen mag genügen, um sich zu überzeugen: Die globale Dimension des Markts stellt nicht nur eine genuine Form des Bewusstseins dar, auch nicht nur den Horizont einer über einen langen Zeitraum entstandenen praktischen Vorstellung (wie ihn Fernand Braudel für das Ende der Renaissance beschreibt), sie repräsentiert vielmehr eine zeitgenössische Organisationsform, mehr noch, sie ist eine neue Ordnung.

Der globalisierte Markt gewinnt seine politische Einheit durch die Attribute, die immer schon die Souveränität gekennzeichnet haben: durch militärische, monetäre, kommunikative, kulturelle und sprachliche Macht. Die militärische Macht rührt aus der unumschränkten Verfügungsgewalt über ein umfassendes Rüstungsarsenal, inklusive Nuklearwaffen. Die monetäre Macht beruht auf der Existenz einer hegemonialen Währung, der die Finanzwelt trotz ihrer Vielgestaltigkeit vollständig untergeordnet ist. Die Macht der Kommunikation zeigt sich im Triumph eines einzigen kulturellen Modells oder gar einer einzigen universellen Sprache. Dieses Machtdispositiv ist supranational, global und total: Wir nennen es „Empire“ (Imperium).

Zugleich muss man diese „imperiale“ Regierungsform von der unterscheiden, die lange Zeit „Imperialismus“ genannt wurde. Denn in diesem Begriff klingt die grenzüberschreitende Expansion des Nationalstaates an; er steht für die Durchsetzung kolonialer Verhältnisse (häufig unter dem Vorwand der Modernisierung) auf Kosten jener Völker, denen bis dahin eine weitgehend auf Europa beschränkte Entwicklung kapitalistischer Zivilisation fremd war. Und nicht zuletzt steht Imperialismus für staatliche, militärische und ökonomische, für kulturelle oder gar rassistische Aggression starker Staaten gegen ärmere Länder.

In der aktuellen imperialen Phase gibt es keinen Imperialismus mehr. Und wo er weiterbesteht, ist er eine Übergangserscheinung, die auf eine Zirkulation der Werte und der Machtverhältnisse im Rahmen des Empire hintendiert. Und auch der Nationalstaat hat aufgehört zu existieren. Ihm sind drei wesentliche Felder der Souveränität – Militär, Politik, Kultur – abhanden gekommen, die durch die zentralen Mächte des Imperiums aufgesogen und abgelöst wurden. Die Unterordnung der alten Kolonialländer unter die imperialistischen Nationalstaaten ist verschwunden oder im Schwinden begriffen und mit ihr die imperialistische Hierarchisierung der Kontinente und Nationen. Alles reorganisiert sich und richtet sich auf den neuen und einheitlichen Horizont des Empire aus.

Warum der Begriff „Empire“ (der auf die Neuartigkeit der Rechtsform abhebt, die er impliziert), für etwas, was man auch schlicht als US-Imperialismus nach dem Fall der Mauer bezeichnen könnte? Unsere Antwort auf diese Frage ist klar: Im Gegensatz zu dem, was die letzten Verfechter des Nationalismus behaupten, ist das Empire nicht etwa ein US-amerikanisches – wie übrigens die USA im Lauf ihrer Geschichte auch weniger imperialistisch war als England, Frankreich, Russland oder Holland. Nein, das Empire ist schlicht kapitalistisch. Es ist die Ordnung des „Gesamtkapitals“, also der Kraft, die den Bürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen hat.

Wer das Empire im Namen des Nationalstaats bekämpfen will, verkennt völlig die Realität seiner supranationalen Befehlsstruktur, seiner imperialen Gestalt und seines Klassencharakters. So zu handeln wäre eine Mystifikation. Am Empire des „Gesamtkapitals“ sind etwa US-amerikanische und europäische Kapitalisten gleichermaßen beteiligt, russische Kapitalisten, die durch die korrupten Verhältnisse in ihrem Lande reich geworden sind, ebenso wie arabische, asiatische und afrikanische Großverdiener, die ihre Kinder zum Studium nach Harvard und ihr Geld um der Vermehrung willen an die Wall Street schicken.

Es stimmt zwar, dass sich die US-amerikanischen Führungskader nicht von der Verantwortung für die imperiale Herrschaft lossprechen können. Dennoch glauben wir (Michael Hardt und ich), dass man diese Aussage differenzieren sollte. Die Formation der US-amerikanischen Eliten wird künftig ihrerseits weitgehend von der multinationalen Struktur der Macht abhängen. Die „monarchische“ Macht des US-Präsidenten unterliegt dem Einfluss der „aristokratischen“ Macht, die bei den großen multinationalen Finanz-, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen konzentriert ist. Gleichzeitig muss sie den Druck aus armen Ländern oder auch von gewerkschaftlichen Organisationen in Rechnung stellen, also kurz gesagt die „demokratische“ Macht, welche die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen repräsentiert.

Dies würde einer Definition der imperialen Macht entsprechen, wie sie bereits Polybius1 formuliert hat: Demnach könnte die US-amerikanischen Verfassung ihren Wirkungsbereich derart ausweiten, dass es ihr möglich wird, im Weltmaßstab eine Vielzahl von Regierungsfunktionen zu etablieren und im Zuge ihrer eigenen Entwicklungsdynamik einen globalisierten öffentlichen Raum aufzubauen. Das berühmte „Ende der Geschichte“ meint genau dieses Gleichgewicht monarchischer, aristokratischer und demokratischer Funktionen, das sich in einer amerikanischen Verfassung niederschlägt, die sich in imperialer Weise auf den Weltmarkt ausgedehnt hätte.

In Wirklichkeit sind die Herrschaftsphantasien eines solchen Empire zum großen Teil völlig illusorisch. Dennoch sind aber seine Rechtsordnung, sein politisches System und seine souveräne Gewalt effektiver als die vorangegangener Regierungsformen (und durchaus mit totalitären Zügen ausgestattet). In einem fortschreitenden Prozess der Durchdringung aller Regionen der Erde nutzt das Empire die weltweiten ökonomischen und finanzpolitischen Verhältnisse zur Durchsetzung des imperialen Rechts. Ja, schlimmer noch: Es intensiviert die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens.

Deshalb betonen wir die neue „biopolitische“ Qualität der „imperialen“ Macht, deren Herausbildung durch einen Einschnitt markiert ist: durch den Übergang von der fordistischen Organisation der Arbeit zur postfordistischen, von einer auf die Fabrik konzentrierten Produktionsweise zu weit umfassenderen Verwertungs- und Ausbeutungsformen. Dabei handelt es sich um gesellschaftliche, immaterielle Formen, die auch das Leben in seinen intellektuellen und affektiven Äußerungen betreffen, die Reproduktionszeiten, die Wanderungen der Armen über die Kontinente usw. Das Empire schafft eine biopolitische Ordnung, weil die Produktion biopolitisch geworden ist.

Anders ausgedrückt: Der Nationalstaat verfügt über die Dispositive der Disziplinargesellschaft, um Machtausübung und Konsensfindung zu organisieren und zugleich eine soziale und produktive Integration samt den entsprechenden Staatsbürgerschaftsmodellen zu etablieren. Das Empire hingegen entwickelt Kontrolldispositive, die sämtliche Aspekte des Lebens besetzen und diese nach dem Muster von Produktion und Staatsbürgerschaft ummodeln, was auf eine totalitäre Manipulation aller Aktivitäten, der Umwelt, der sozialen und kulturellen Verhältnisse usw. hinausläuft.

So wie die räumliche Dezentralisierung der Produktion zur gesellschaftlichen Mobilität und Flexibilität beiträgt, so verstärkt sie auch die Pyramidenstruktur der Macht und die weltweite Kontrolle über die Aktivierung der betroffenen Gesellschaften. Der Prozess ist offenbar irreversibel geworden und macht sich allenthalben geltend: in der Entwicklung von den Nationen zum Empire, in der Verlagerung der Wertschöpfung von der Fabrik in die Gesellschaft, in der Ablösung von Arbeit durch Kommunikation und schließlich auch im Übergang von disziplinarischen Herrschaftsformen zu Kontrollprozeduren.

WAS sind die Ursachen für diese Prozesse? Unserer Ansicht nach sind sie das Resultat der Kämpfe der Arbeiterklasse, des Proletariats der Dritten Welt und der Emanzipationsbewegungen in den Ländern des ehemaligen Realsozialismus. Das ist genau die Herangehensweise von Marx: Die Kämpfe sind der Motor der Entwicklung, die proletarischen Bewegungen machen die Geschichte.

Die Arbeiterkämpfe gegen die taylorisierte Arbeit haben die technologische Revolution beschleunigt, die dann zur Vergesellschaftung wie zur Computerisierung aller Produktion drängte. In gleicher Weise sorgen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den postkolonialen Gesellschaften Asiens und Afrikas mit ihrem unwiderstehlichen Druck dafür, dass die Produktivität sich sprunghaft erhöht und Migrationsbewegungen entstehen, welche die nationalen Schranken der Arbeitsmärkte einreißen. In den früher so genannten sozialistischen Ländern schließlich war es der Freiheitswunsch des neuen technischen und intellektuellen Proletariats, der die überholte sozialistische Disziplin ins Wanken gebracht und zugleich die stalinistische Verzerrung der Weltmarktbedingungen aufgehoben hat.

Die Entstehung des Empire ist die kapitalistische Reaktion auf die Krise der Methoden, die einst dazu dienten, die Arbeitskraft im Weltmaßstab zu disziplinieren. Damit beginnt zugleich eine neue Periode im Kampf der Ausgebeuteten gegen die Macht des Kapitals. Der Nationalstaat, der zugleich den Klassenkampf einhegte, verschwindet – wie vor ihm der koloniale oder der imperialistische Staat.

In den Arbeiterbewegungen, der Klasse, dem Proletariat die Ursache für diese Veränderung im kapitalistischen Machtsystem zu sehen heißt, darauf zu bestehen, dass die Menschen ihrer Befreiung von der kapitalistischen Produktionsweise näher kommen. Und sich zugleich von Leuten zu distanzieren, die Krokodilstränen über das Ende der korporativen Kompromisse vergießen, wie sie für den Sozialismus und die nationalen Gewerkschaftsstrategien bezeichnend waren. Das bedeutet zugleich eine Distanzierung von denen, die den wunderbaren alten Zeiten nachtrauern – also einem sozialen Reformismus, der durchtränkt ist von den Ressentiments und Neidgefühlen, die nur allzu häufig unter der Utopie schwelten.

Machen wir uns nichts vor: Wir befinden uns inmitten des Weltmarkts. Doch wir bemühen uns noch immer, dem Traum Gestalt zu geben, eines Tages die ausgebeuteten Klassen im Schoß der kommunistischen Internationale zu vereinigen. Denn wir sehen neue Kräfte heranwachsen.

Aber können die Kämpfe sich so massiv und durchschlagend entwickeln, dass sie die komplexe Ordnung des Empires zu destabilisieren, wenn nicht gar zu zerstören vermögen? Diese Hypothese veranlasst die „Realisten“ aller Schattierungen zu ironischen Kommentaren: Das System ist so stark! Doch für die Kritische Theorie ist eine vernünftige Utopie nichts Ungewöhnliches. Im Übrigen bleibt uns keine Alternative, denn wir werden in diesem Empire ausgebeutet und unterdrückt und nicht irgendwo sonst. Das Empire ist nun einmal die gegenwärtige Ordnung eines Kapitalismus, der nach einem Jahrhundert historisch beispielloser proletarischer Kämpfe eine neue Gestalt ausbildet. Unser Buch setzt also eine gewisse Sehnsucht nach dem Kommunismus voraus.

Das zentrale Thema, das durch all diese Analysen durchscheint, lässt sich in der Tat auf eine einzige Frage reduzieren: Wie kann innerhalb des Empire der Bürgerkrieg der Massen gegen das weltweite Kapital zu Ausbruch kommen? Hier liefern uns die ersten Erfahrungen aus – erklärten oder versteckten – Konflikten auf dem Terrain der neuen Machtverhältnisse bereits wertvolle Hinweise. In diesen Kämpfen wird – über ein garantiertes Einkommen hinaus – die Forderung artikuliert, dass die Demokratie eine neue Bedeutung gewinnt, und zwar als Kontrolle über die politischen Bedingungen der Reproduktion des Lebens.

Diese Kämpfe entwickeln sich aus Volksbewegungen, die den nationalstaatlichen Rahmen hinter sich lassen und auf universelle Bürgerrechte und die Abschaffung der Grenzen abzielen. Sie werden von Individuen und Gruppierungen geführt, die den aus Produktionsmitteln geschaffenen Reichtum zurückgewinnen wollen, Produktionsmittel, die dank der permanenten technologischen Revolution Eigentum der Subjekte geworden sind – mehr noch: die sozusagen als Prothesen ihrer Gehirne anzusehen sind.

Die hier vorgetragenen Gedanken entstanden weitgehend im Laufe der Demonstrationen, die im Winter 1995 in Paris stattfanden. Diese „Pariser Commune unter dem Schnee“ engagierte sich nicht nur für die Verteidigung des öffentlichen Transportwesens, sondern sie bedeutete viel mehr einen subversiven Prozess der Selbsterkenntnis von Bürgerinnen und Bürger in den großen Städten. Diese Erfahrung liegt nun bereits einige Jahre zurück. Gleichwohl hat sich in allen Kämpfen, die seitdem gegen das Empire stattgefunden haben, etwas manifestiert, was sie vor allem anderen auszeichnet: das neue Bewusstsein, dass im Leben wie in der Produktion das gemeinschaftliche Wohl entscheidend ist, und zwar weit mehr als das „Private“ oder das „Nationale“, um diese veralteten Begriffe zu verwenden. Gegen das Empire erhebt sich einzig und allein das „Gemeinschaftliche“2 .

dt. Thomas Atzert

* Autor, zusammen mit Michael Hardt, von „Empire“ (Harvard University Press, Cambridge 2000). Antonio Negri, der ehemalige Chef der linken Gruppe Arbeitermacht (Potere operaio), ist derzeit im römischen Gefängnis Rebibbia inhaftiert. Wegen „bewaffneten Aufstands gegen den Staat“ war er zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt worden und hatte wegen der „moralischen Verantwortung“ für die Zusammenstöße zwischen autonomen Militanten und der Polizei im Mailand der Jahre 1973 bis 1977 viereinhalb Jahre zusätzlich erhalten. Gegenwärtig ist er Freigänger. Bis zu seiner freiwilligen Rückkehr nach Italien 1997 lebte er 14 Jahre im Exil in Paris und war unter anderem Hochschullehrer an der Universität Paris VIII sowie am Collège International de Philosophie. Von Toni Negri liegen auf Deutsch unter anderem vor, zusammen mit Maurizio Lazzarato und Paolo Virno: „Umherschweifende Produzenten“, 1998; zusammen mit Michael Hardt: „Die Arbeit des Dionysos“, 1997, beide ID-Verlag, Berlin.

Fußnoten: 1 Polybius, geb. zwischen 210 und 202 v. u. Z., lebte nach dem Zusammenbruch Makedoniens im römischen Exil und erlangte Bedeutung als Geschichtsschreiber der Siege Roms über Karthago und der römischen Expansion in den vorderen Orient. Pragmatisch orientiert, war er bestrebt, die Ursachen der historischen Entwicklungen, die er miterlebte, zu ergründen. Er starb um das Jahr 120 v. u. Z. 2 Das „Gemeinschaftliche“ (le commun) – im Unterschied zum Gemeinwohl (le bien commun) – ist ein Konzept, über das Toni Negri arbeitet.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von TONI NEGRI