Der Rechtsstaat als Mythos
DER Rechtsstaat ist im Laufe der letzten Jahre weltweit zum Richtmaß der Demokratie geworden. Die internationalen Organisationen – von der UNO über die EU bis zur Weltbank – messen und bewerten die Demokratisierungsfortschritte in Osteuropa oder Afrika daran, wie weit rechtsstaatliche Prinzipien durchgesetzt sind, die sie auch zur Bedingung für ihre Finanzhilfe machen. Rechtsstaatlichkeit gehört auch zu den „Kopenhagener Kriterien“, die ein Staat erfüllen muss, um der Europäischen Union beitreten zu können. Diese umfassen eine ganze Reihe klar definierter Grundsätze, wie korrekt durchgeführte Wahlen, Schutz der Menschenrechte, Unabhängigkeit der Justiz und eine „funktionierende“ Marktwirtschaft. Erst wenn ein Land diese Kriterien – zumindest annähernd – erfüllt, kann es hoffen, in den exklusiven, aber zunehmend attraktiven „Club der modernen Demokratien“ aufgenommen zu werden.
Der Rechtsstaat, der als Begriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist, eröffnet die Möglichkeit, die Gesellschaft vor Machtkonzentrationen innerhalb des Staates und vor Übergriffen der Machthaber zu schützen. Er setzt der Staatsmacht Grenzen und gewährleistet den Schutz der bürgerlichen Grundrechte und -freiheiten, indem diese in Verfassungstexten und internationalen Verträgen festgeschrieben werden.
„Rechtsstaat“ ist jedoch kein neutraler Begriff. In den letzten zwanzig Jahren hat das Wort eine neue, ideologisch eingefärbte Bedeutung angenommen: Indem „Rechtsstaat“ von philosphischen Kritikern totalitärer Systeme wie André Glucksman und Blandine Kriegel zunehmend mit dem Begriff der Demokratie gleichgesetzt wurde, entwickelte er sich in der politischen Debatte zu einer Art Mythos.
Jacques Chevallier, Juraprofessor an der Universität Pantheon-Assas in Paris, sieht hier eine neue Doktrin des Rechtsstaates entstehen, die sich radikal von den bisherigen – von Juristen formulierten – Doktrinen und von der Terminologie des positiven Rechts löse. „Das Konzept des Rechtsstaates wird genutzt, um einen ganz bestimmten Staatstypus zu definieren und diesen zugleich als einzig legitime Staatsform darzustellen. In dieser Sichtweise dient der Begriff des Rechtsstaates in der Tat nicht einfach der historischen Analyse, er gewinnt vielmehr eine höchst wirkungsvolle ideologische Funktion: Die Legitimität eines Staates wird danach beurteilt, wie weit er sich dem Recht unterwirft.“1
Das Bestreben, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten zu schützen, artikuliert sich hier als radikale Kritik des Staates, der von vornherein im Verdacht steht, ein potenzieller Feind individueller Freiheiten zu sein. Aus dieser Sicht ist die Machtergreifung des Rechtsstaates eine logische Folge des Sieges der liberalen Philosophie oder, anders formuliert: Der politische Zweig des Liberalismus konnte sich in dem Raum entfalten, den ihm der wirtschaftsliberale Zweig eröffnet hatte.
Insofern, meint Jacques Chevallier, „passt der ständige Hinweis auf den Rechtsstaat bestens zum neuen ideologischen Trend, der auf die Krise des Wohlfahrtsstaates reagiert und zu einem Comeback des Liberalismus geführt hat: Der Markt wird als das wirksamste, vernünftigste und gerechteste Mittel zur Harmonisierung des menschlichen Zusammenlebens verherrlicht, die ‚Zivilgesellschaft‘ zum Inbegriff des Guten aufgewertet“.
Dementsprechend wird der Rechtsstaat in Zukunft die Verteilung der politischen Gewichte wie auch auf die traditionelle Auffassung von Staat und Demokratie erheblich beeinflussen. Die legitime Sorge um den Schutz der bürgerlichen Rechte wird dazu führen, dass das Recht in der Gesellschaft eine immer größere Rolle spielt, ebenso wie die Aufgabe des Richters, der über die Einhaltung der Grundrechte zu wachen hat. Und zwar auf Kosten des Politischen, das an Legitimität einbüßt.
Das fundamentale Prinzip des Rechtsstaates ist in Wahrheit die Unterwerfung von Staat und Politik unter das Recht. Dieses legitime Prinzip soll die politische Willkür bekämpfen und die Grundfreiheiten schützen. Seine Überbetonung impliziert jedoch die Gefahr, dass die Politik als dem Wählerwillen unterworfener Gestaltungsbereich des Gemeinwohls in Frage gestellt wird. Der Rechtsstaat ermöglicht zum Beispiel die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die von den gewählten Vertretern des Volkes beschlossen wurden. In Frankreich stand man dieser Überprüfung bis 1958 misstrauisch gegenüber, da man den Gesetzen eine der Verfassung übergeordnete Bedeutung beimaß (Begriff des Etat légal).2 Die politische Instabilität der Vierten Republik (1944 bis 1958) und die „Diktatur“ der politischen Mehrheiten hatten dann aber zur Folge, dass durch die Verfassung der Fünften Republik von 1958 mit dem Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) eine Kontrollinstanz etabliert wurde, die der Opposition eine neue Einspruchsmöglichkeit eröffnete.3
Im Gegensatz zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, der mit seinen Entscheidungen zum Beispiel die New-Deal-Politik der Roosevelt-Ära bekämpfte hat, widerstand der französische Verfassungsrat stets der Versuchung, die Rolle einer „Regierung von Richtern“ zu übernehmen. Dennoch ist die Grenze zwischen Recht und Politik zuweilen fließend. So verwarf etwa der Verfassungsrat 1982 das erste Gesetz zur Verstaatlichung mit der Begründung, es habe nicht ausreichend die „gerechte und vorrangige Entschädigung“ berücksichtigt, die Artikel 17 der Erklärung von 1789 für enteignete Eigentümer vorgeschrieben hat. Auch die Kontroverse über die Zuständigkeiten des französischen Staatschefs illustriert die Schwierigkeit, Recht und Politik scharf voneinander abzugrenzen.
Die ständige Berufung auf das Recht wertet den Rechtsstaat zu einem Mythos auf und trägt damit dazu bei, die Rechtsnormen zu unfehlbaren Regeln zu verklären. Damit stilisiert man diese zum Ausdruck einer objektiven Wahrheit, also von Werten, die der „Realität“ immanent und insofern unbestreitbar sind. Aber selbst wenn man Prinzipien anerkennt, die über der Gesetzgebung, ja sogar über der Verfassung stehen, so müssen diese Prinzipien doch von den Menschen und – in einem demokratischen System – von ihren gewählten Vertretern in Rechts- und Gesetzestexte überführt werden. Schon die Naturrechts-Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, die diese Prinzipien entdeckten und formulierten, haben diese Notwendigkeit erkannt und betont.
In der Tat sind die im Naturrecht festgesetzten Normen sehr weit gefasst und ohne nähere Präzisierung nicht anwendbar. So verbietet das Grundprinzip der Gleichheit der Menschen den Rassismus und jegliche Hierarchisierung ethnischer Gruppen. Aber die konkrete Frage, wie die Einhaltung dieses fundamentalen, unantastbaren, nahezu heiligen Prinzips zu gewährleisten sei, macht gelegentlich schwierige Entscheidungen erforderlich. Die Kontroverse über das Gayssot-Gesetz von 1990, das die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt,4 ist dafür ein Beispiel; desgleichen die Frage, welche Haltung der Staat gegenüber revisionistischen Hochschullehrern einnehmen soll. (Sollen sie entlassen werden, soll Geschichtsfälschung als strafbare Handlung gelten?)
Dieselbe Schwierigkeit entsteht bei allen Prinzipien, die mit der Frage der menschlichen Freiheitsrechte zusammenhängen. Wäre es zum Beispiel eine Verletzung der Vereinsfreiheit, wenn jeder Verein zunächst richterlich überprüft würde? An dieser Frage entzündete sich eine Debatte, die 1971 durch den Conseil constitutionnel entschieden wurde: Eine solche „Vorprüfung“ sei ein Angriff auf die Freiheitsrechte; folglich seien Vereine in keiner Weise verpflichtet, ihre Ziele zu deklarieren oder eine richterliche Genehmigung einzuholen. Ein Richter kann also erst im Nachhinein intervenieren, wenn ein Verein die öffentliche Ordnung gefährdet. Im Bereich der Meinungsfreiheit gibt es zahlreiche Beispiele für solche Fragestellungen, die mit der rasanten Entwicklung des Internets besonders brisant werden.
Die Prinzipien des Naturrechts stellen zwar die unantastbare und unumstößliche Grundlage jeder freien und demokratischen Gesellschaft dar, doch die aktuell gültigen Rechtsnormen bringen nur die Entscheidungen eines Gemeinwesens in einem bestimmten historischen Moment zum Ausdruck. Sie geben ein Bild vom Fortschritt einer Gesellschaft hinsichtlich der Grundrechte und -freiheiten und reflektieren den erreichten gesellschaftlichen Konsens in Hinblick auf bestimmte Fragen. Nun wird aber, wenn vom Rechtsstaat die Rede ist, häufig unterstellt, dass es eine „objektive“ Definition der Rechtsnormen gebe, die man nur anzuwenden brauche.
Man denke zum Beispiel an die Tendenz, die fast magisch zu nennende Legitimität des Rechtsstaates an die Stelle von demokratisch legitimierten Rechtsnormen zu setzen. Letztere sind nur in dem Maße legitim, in dem sie von den Vertretern des Volkes oder durch das Volk selbst beschlossen wurden, und zwar nach einer gründlichen Debatte, bei der das Thema sowohl kontrovers diskutiert als auch in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden kann. Erinnert sei hier unter anderem an die großen Kontroversen, die der Definition der 17 Artikel der Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 vorangegangen waren.
Der Fall Pinochet verdeutlicht diesen Konflikt zwischen zwei Prinzipien der Legitimität, indem er das Einvernehmen, das die politischen Kreise Chiles über das Schicksal des ehemaligen Diktators erzielt hatten, in Frage stellte. Der Kompromiss, der den Diktator vor gerichtlicher Verfolgung schützte, hat gleichzeitig das Ende der Diktatur ermöglicht. Man folgte damit der Einsicht, dass die Berufung auf höhere Prinzipien nicht das konkrete Schicksal jetzt lebender Menschen gefährden dürfe.
Dieser Fall zeigt ganz klar, dass das Recht nicht als feste, geheiligte Größe gelten kann – ohne Bezug zu den spezifischen Bedingungen, unter denen es zur Anwendung kommen soll. In solchen Konfliktsituationen müssen Entscheidungen getroffen werden, und genau dies ist die Aufgabe der durch den Wählerwillen legitimierten Politiker.
Um eben diese Fragen geht es bei der Schaffung eines Internationalen Gerichtshofes (IGH). Zwar ist es durchaus erfreulich, dass Diktatoren und ihre Folterknechte in Zukunft gerichtlich verfolgt werden können, aber es stellt sich doch die Frage, welche Rechtsinhalte hier zur Anwendung kommen und welcher Gesetzgeber diese Inhalte in konkrete Formen überführen soll. Die entsprechenden Konventionen der Vereinten Nationen und die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte sind allgemein gehaltene Texte, die der Interpretation bedürfen.
Ein Beispiel: Die USA haben dem französischen Staat Menschenrechtsverstöße vorgeworfen, insofern das Prinzip des Laizismus angeblich zu einer Diskriminierung der Kirchen, insbesondere der Scientology Church führte. Und ob ein ehemaliger französischer Staatschef jemals vom Internationalen Gerichtshof vorgeladen und wegen der Atomversuche im Pazifik zur Verantwortung gezogen werden kann, wird letztlich wohl auch eine Frage der Interpretation bleiben.
In Europa zeigen sich schon jetzt Divergenzen in der Rechtsprechung zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und den verschiedenen nationalen Verfassungsgerichten. Die umstrittenen Fragen betreffen vor allem das Eigentumsrecht, die Definition von Regierungshandlungen, die dem Schutz des Staatsgeheimnisses unterstehen sollen, sowie das Staatsbürgerschaftsrecht (Abstammungsprinzip oder Territorialprinzip).
Die Rede vom Rechtsstaat geht also von der Vision eines demokratischen Prozesses aus, ohne die konkreten Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen sich dieser Prozess abspielt. In dieser Sichtweise kommt der Demokratie, die auf ein Netz von Institutionen reduziert wird, nur mehr die Aufgabe zu, die Rechtsnormen anzuerkennen und umzusetzen. Die Art und Weise, wie sich die großen internationalen Institutionen auf die Marktwirtschaft beziehen, führt uns immer wieder vor Augen, dass Freiheit in ihrem auf den Rechtsstaat beschränkten Sinne nichts zu tun hat mit sozialer Gerechtigkeit oder gar wirtschaftlicher Umverteilung. Der amerikanische Philosoph Michael Walzer bedauert dieses begrenzte Denken zu Recht, weil in seinen Augen die Verteilung der Güter den Kernpunkt der demokratischen Frage darstellt.
Die Demokratie wird derzeit im Wesentlichen als eine Angelegenheit juristischer Mechanismen angesehen. Das erklärt die Umwandlung der meisten sozialen Forderungen in rechtliche Ansprüche. Auf diese Weise ist der Rechtsstaat jeglicher Reflexion über eine echte oder soziale Demokratie enthoben und lässt den staatsbürgerlichen Raum völlig brachliegen.
Damit bleiben die Bürger und ihr gesellschaftlicher Zusammenhalt der Selbstorganisation durch die so genannte Zivilgesellschaft überlassen, obwohl sich in den meisten Ländern weder eine politische Tradition noch eine demokratische Kultur entwickelt haben. Im Namen des Rechtsstaates wird es also möglich, dass in manchen Ländern eine demokratische Transformation stattfindet, während gleichzeitig die Geldgeschäfte und die sozialen Verhältnisse von der ungeheuerlichsten Brutalität geprägt sind. Die Entwicklung in den osteuropäischen Ländern, insbesondere in Polen und Russland, macht das beispielhaft deutlich.5
Im Zuge der Globalisierung setzt sich der Begriff des Rechtsstaates als alleingültige Definition der Demokratie durch – auf Kosten anderer demokratischer Traditionen.
dt. Dorothea Schlink-Zykan