12.01.2001

Wenn die Justiz befindet

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Wenn die Justiz befindet

IMMER häufiger intervenieren Richter im politischen Geschehen, und dies oft in spektakulärer Weise. Am 13. Dezember entschied der Supreme Court der Vereinigten Staaten über den zukünftigen Präsidenten. In Europa beeinflussen Richter das öffenliche Geschehen über den Umweg strafrechtlicher Verfolgungen gegen Personen in Wirtschaft und Politik. Und die Verhaftung des chilenischen Generals Pinochet in Londen führte zu einer breiten Debatte über die Notwendigkeit internationaler Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen. Von JEAN-PAUL JEAN *

Im Finanzskandal um die Bank Crédit Lyonnais, die Anfang der Neunzigerjahre in Zahlungsschwierigkeiten geraten war, wird gegen den damaligen Leiter der Finanzverwaltung, Jean Claude Trichet, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht ermittelt. Trichet ist derzeit Leiter der Banque de France und designierter Nachfolger des Niederländers Wim Duisenberg als Präsident der Europäischen Zentralbank. Der französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn sah sich zum Rücktritt gezwungen, weil er für eine studentische Krankenversicherung, für die er gelegentlich als Berater tätig war, nachträglich Leistungsbelege ausgestellt hatte. General Augusto Pinochet wurde in Großbritannien 1998 mehrere Monate in Haft genommen, nachdem der spanische Richter Baltasar Garzón ein Ermittlungsverfahren wegen Menschenrechtsverletzung gegen ihn eingeleitet hatte.

Man könnte noch viele andere Beispiele nennen. Sie alle zeigen, dass die Entscheidungen von führenden Politikern und Wirtschaftsvertretern neuerdings zunehmend von einer Justiz angefochten werden, die noch vor kurzem als Quantité négligeable galt.

Das Zusammenspiel von Medien und Strafverfolgern, das in diversen „Affären“ zutage trat, gehört seit einiger Zeit zum normalen Geschehen der „Meinungsdemokratien“. Dieser augenfällige historische Bruch datiert vom Anfang der Neunzigerjahre.1 Der Machtzuwachs der Justiz ist dabei weit mehr als ein banales Gesellschaftsphänomen. Vielmehr handelt es sich um eine tief greifende Entwicklung in allen westlichen Demokratien.

Der Terminus „Verrechtlichung“ bringt zum Ausdruck, dass bei der Lösung gesellschaftlicher Fragen mehr und mehr auf rechtliche Mittel zurückgegriffen wird. Dieser Trend ist ein ambivalentes Phänomen, bedeutet er doch für das Funktionieren der Demokratie teils einen Fortschritt, teils aber auch einen Rückschritt.

Wenngleich das Verfahren gegen General Pinochet in Großbritannien letztlich nicht zum Ziel führte, so hat es doch die Perspektive eröffnet, dass Verstöße gegen die Grundfreiheiten in Zukunft ohne Rücksicht auf den politischen Status der Täter verfolgt werden können. Doch die wachsende Bedeutung des Rechts in internationalen Angelegenheiten weist die unterschiedlichsten Facetten auf. Sie gestattet nicht nur die strafrechtliche Verfolgung von Diktatoren und Kriegsverbrechern, sie ermöglicht auch die souveränitätsbeschränkende Einbindung souveräner Staaten in marktwirtschaftliche Rahmenabkommen wie die Römischen Verträge der Europäischen Gemeinschaft oder ein Multilaterales Investitionsabkommen (MAI). Und sie eröffnet auch die Möglichkeit, ungerechte Sanktionen gegen bestimmte Staaten wie etwa den Irak2 zu verhängen.

Die Tätigkeit des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und des UN- Kriegsverbrechertribunals für Ruanda in Aruscha (Tansania) ist ein entscheidender Fortschritt im Kampf gegen die Straffreiheit von Kriegsverbrechern. Gleichwohl repräsentieren beide internationalen Rechtsinstanzen nur erste Ansätze zu einer echten internationalen Strafgerichtsbarkeit.

Die UN-Generalversammlung hatte die Gründung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs bereits in einer Resolution vom 27. Juni 1950 angeregt.3 Doch erst mit der Unterzeichnung der Vereinbarung von Rom im Juli 1998 wurde die Schaffung eines International Criminal Court (ICC) beschlossen. Die USA (unter Vorbehalten), Israel und der Iran unterschrieben das Dokument erst am 31. Dezember 2000, nur wenige Stunden vor Ablauf der Unterzeichnungsfrist. China hat dagegen nicht unterschrieben.

Sobald 60 Staaten das Übereinkommen ratifiziert haben, wird der ICC seine Tätigkeit aufnehmen. Für die internationale Staatengemeinschaft ist dies der einzige gangbare Weg, um zu einem kohärenten juritischen Regelwerk zu kommen, damit sich die Richter in Zukunft darauf beschränken können, die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Vorerst scheint der Fortschritt im Bereich der internationalen Justiz jedoch weitgehend in den Händen der Richter selbst zu liegen, während die Regierungen und die gewählten Volksvertreter sich damit begnügen, auf die Entwicklung zu reagieren.

Viel zu schnell wurde denn auch die politisch-juristische Debatte beendet, die sich an den Umständen der Verhaftung General Pinochets in Großbritannien entzündete, nachdem der spanische Untersuchungsrichter Baltazar Garzón ein Verfahren gegen den früheren chilenischen Diktator eingeleitet hatte. Der erste Entscheid des britischen Oberhauses, das Pinochet am 25. November 1998 das Recht auf Immunität verweigerte, stellte sich mit Blick auf die weltweite Verfolgung politischer Krimineller als ein entscheidender Fortschritt dar. Doch dann folgte ein Spektakel, das sich über siebzehn Monate hinzog. Diese Justizsaga in mehreren ineinander verschachtelten Verfahrensetappen, in deren Verlauf die juristischen Formalien alle inhaltlichen Rechtsfragen in den Hintergrund drängten, diente allein dem Zweck, zunächst den über den Diktator verhängten Hausarrest zu rechtfertigen und anschließend die Bedingungen für dessen Freilassung aus „humanitären“ Gründen zu schaffen. Diese Freilassung erfolgte dann mit dem Ausweisungsentscheid vom 2. März 2000.

NUR wenige haben damals vermerkt, dass die juristische Zunft die Debatte nur deshalb an sich ziehen konnte, weil die politische Führung sich aus der Verantwortung gestohlen und die Entscheidungslast der britischen Justiz aufgebürdet hat. Bereits kurz nach der Verhaftung des Generals hatte Premierminister Tony Blair erklärt, die Inhaftierung sei das „Ergebnis eines Rechtsverfahrens, nicht einer Regierungsentscheidung“. Der britische Innenminister spiele dabei nur eine quasi justizielle Rolle: „Er wird nicht als Politiker, sondern als Richter handeln müssen, und er wird ausschließlich Tatsachen beurteilen, nichts anderes.“4 Die Politiker greifen zur Maske des Richters, um ihren Entscheidung einen „neutralen“ Anschein zu geben.5 Der Richter macht sich zum Politiker und der Politiker zum Richter.6 Doch der britische Premier blieb die Antwort auf die nahe liegende Frage schuldig, warum er den Exdiktator im Gegensatz zu anderen Regierungschefs überhaupt zur medizinischen Behandlung einreisen ließ.

Eine völlig andere Problematik ist der Bedeutungszuwachs des Rechts bei der Regulierung wirtschaftlicher Verhältnisse. Wird die Globalisierung der Wirtschaft eine Globalisierung des Rechts mit sich bringen? Bezeichnenderweise waren es die Juristen und nicht die öffentlichen Institutionen, die als Erste erkannten, welche neuen Probleme die Entwicklung aufgeworfen hat. Und so sind es denn auch vor allem die großen angloamerikanischen Kanzleien, die auf diesem neuen juristischen Markt tätig wurden.

Bei einer Tagung im Rahmen der „Entretiens Friedland“ 7 , die von der Pariser Industrie- und Handelskammer ausgerichtet werden, gaben führende Unternehmer und internationale Anwälte eine sehr klare Linie vor: „Richterliche Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen entsprechen der Logik des Markts. Verrechtlichung ist die Alternative zur Bürokratisierung. Während die legislative Entwicklung in verwaltungswirtschaftlicher, dirigistischer Perspektive auf einen Gesetzesstaat hinausläuft, in welchem das Gesetz allein Pflichten begründet, entspricht die Verrechtlichung einem Rechtsstaat, in dem das Gesetz sowohl Rechte als auch Verantwortlichkeiten begründet. Die dirigistische und verwaltungswirtschaftliche Tradition Frankreichs folgt einem Rechtsverständnis, in dem Gesetze als Ausdruck hoheitlicher Gewalt gelten. Unter dem Einfluss der Internationalisierung und Deregulierung gewinnt der Richter in Frankreich größere Bedeutung. [. . .] Was die Prozesskosten betrifft, die oft als Schreckgespenst dienen, so muss man im Vergleich dazu auf die Kosten der staatlichen Bürokratie hinweisen.“

Die Logik der neuen Regulierungsinstanzen auf dem Gebiet der Wirtschaft, aber auch in der Politik, bringt also Markt und Richter zusammen. Und zwar im Rahmen eines Verständnisses von Liberalismus, das die rechtlichen Beziehungen zwischen Individuen auf eine Vertragslogik reduziert, die das staatlich repräsentierte Gemeinwohl ins zweite Glied verweist. Wie weit diese Entwicklung innerhalb weniger Jahre fortgeschritten ist, lässt sich am Abenteuer des russischen Schulschiffs „Sedov“ im Juli 2000 ermessen. Der größte Windjammer der Welt war in öffentlicher Mission unterwegs. Auf Ersuchen eines Schweizer Gläubigers und auf Grundlage der Entscheidung einer schwedischen Schiedsinstanz konnte daraufhin in Frankreich beantragt werden, das Eigentum der russischen Botschaft in Paris zu konfiszieren. Der Großsegler wurde in Brest daraufhin mehrere Wochen lang festgesetzt, was einen klaren Verstoß gegen die Regeln diplomatischer Immunität bedeutete. In der mündlichen Verhandlung war diese Grundregel zwischenstaatlicher Beziehungen nur ein Gesichtspunkt unter anderen.

Dabei bildete die Einführung diplomatischer Immunität eine wesentliche Etappe im Aufbau vertrauenswürdiger Beziehungen und stabiler, friedlicher Kontakte zwischen souveränen Staaten. Die Sedov-Affäre – in der der sich französische Außenminister gegenüber der russischen Regierung auf die Auskunft beschränkte, die Justiz sei in Frankreich unabhängig – erhellt schlaglichtartig die Zweischneidigkeit der wachsenden Bedeutung des Rechts in der internationalen Gesellschaft.

Rechtliche Komplikationen kamen vor kurzem auch der französischen Regierung in die Quere. Die wollte die diplomatischen Beziehungen mit Libyen wieder aufnehmen, obwohl am 8. September 2000 die Untersuchungskammer am Pariser Berufungsgericht dem Ersuchen der Vereinigung „SOS Attentats“ stattgegeben hat, gegen Oberst Ghaddafi eine Untersuchung wegen „Beihilfe zur vorsätzlichen Tötung“ einzuleiten. Die Festlegung der rechtlichen Regeln darf künftig nicht von der konkreten Einzelfallentscheidung eines Richters abhängen, egal wie klarsichtig die auch ausfallen mag. Es muss vielmehr den Politikern als Repräsentanten des Volkes überlassen bleiben, das allgemeine Interesse wahrzunehmen und entsprechende Regeln festzulegen.

Wie sehr die Grenzen zwischen Recht und Politik in den westlichen Demokratien mittlerweile verschwimmen, zeigt sich zumal an der wachsenden „Pönalisierung“ des öffentlichen Lebens. Fast überall mehren sich die strafrechtlichen Verfahren gegen Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik. Genannt seien das Verfahren gegen Helmut Kohl in der Parteispendenaffäre oder die Verurteilung des ehemaligen spanischen Innenministers und Mitglieds der sozialistischen Partei, José Barrionuevo, der wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder eine zehnjährige Gefängnisstrafe verbüßt.

Frankreich bildet hier keine Ausnahme.8 Wobei das öffentliche Echo noch größer wird, wenn – wie bei Skandalen im Gesundheitsbereich und bei tödlichen Unfällen – die Opfer aus der Anonymität heraustreten und ihr Leid von den Medien wirkungsvoll in Szene gesetzt wird.

Dabei handelt es sich häufig ganz ohne Zweifel um einen legitimen demokratischen Anspruch, auf den die Politik eine Antwort finden muss, um zu verhindern, dass die Bürger die Justiz nicht nur als bequemes Ventil sehen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Symptomatisch ist – in Frankreich mehr als in anderen Ländern –, dass die Strafjustiz, insbesondere im Gesundheitsbereich, immer öfter nachträglich über politische Entscheidungen zu befinden hat, deren Sinn und Zweck der Öffentlichkeit nicht hinreichend oder falsch vermittelt wurden. Der Aids-Blutskandal war hier sicher ein – recht außergewöhnlicher – Anfang; doch weitere Affären sind bereits absehbar, Stichwort: Hepatitis, Asbest, Impfpraxis. Die Art und Weise, wie Frankreich gegenüber seinen europäischen Partnern mit der BSE-Krise umgeht, ist nur das Ergebnis dieses neuen Bewusstseins der Öffentlichkeit.

Die wachsende Bedeutung der Strafjustiz äußert sich auch in einer wahren Inflation von Regeln: 13 000 der geltenden Gesetze und Vorschriften enthalten strafrechtliche Bestimmungen. Wenn die Durchleuchtung von Polikern die öffentliche Aufmerksamkeit besonders stark mobilisiert, muss es eine der künftigen Hauptaufgaben sein, die Korruption wirksam zu bekämpfen und das demokratische Leben grundlegend zu modernisieren (etwa durch Begrenzung der Ämterhäufung, Zugang zu transparenten Informationen, Schaffung lokaler Instanzen als Gegenmacht).

Die Debatte über die innere Sicherheit, die auf der politischen Prioritätenliste seit einiger Zeit ganz oben rangiert, hat dazu geführt, dass das Strafrecht auch den Alltag durchdringt. Die Justiz versucht dem durch vielfältige Initiativen gerecht zu werden (Einrichtung von Rechtsberatungsstellen, Täter-Opfer-Ausgleich, Unterstützung der Opfer, Bearbeitung von Strafsachen in „Echtzeit“). Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass der Legitimitätsverlust des Staats im wirtschaftlichen und sozialen Bereich – als Resultat seiner abnehmenden Handlungsfähigkeit – durch eine symbolisch äußerst wirksame Ausweitung des Straf- und Gefängniswesens9 kompensiert wird. Aber das kann nicht verhindern, dass parallel dazu die private Sicherheitsindustrie floriert.10

Zwar mag die Strafjustiz in der öffentlichen Diskussion dominieren, doch die dramatischen Folgen sozialer Verarmungsprozesse sind weit deutlicher an den zivilrechtlichen Konsequenzen abzulesen: Überschuldung, Zwangsräumung, Heimeinweisung der Kinder, Bestellung eines Betreuers. Vor allem die erstinstanzlichen Richter, die ständig mit solchen Situationen zu tun haben, geben sich jede erdenkliche Mühe, die Einhaltung der prozessrechtlichen Bestimmungen zu gewährleisten, Aufschub zu erwirken, Recht zu sprechen. Tag für Tag bearbeiten sie Fälle von Familien mit finanziellen Schwierigkeiten, deren Leben sie lediglich durch das kleine Fenster einer punktuellen Streitsache kennen.

Die an den Code Napoleon anknüpfende Zivilrechtspraxis verhalf historisch in erster Linie dem Ehemann, Arbeitgeber, Hauseigentümer und Gläubiger zu seinem Recht. Die Rechte der Frauen, Arbeitnehmer, Mieter und Schuldner hingegen fanden erst im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Anerkennung. Für diese Gruppen war die Intervention des Staates in privatrechtliche Verhältnisse und die daraus resultierende Verrechtlichung der Gesellschaft eine unerlässliche Voraussetzung ihrer rechtlichen Besserstellung. Diese Entwicklung schlug sich in fortschrittlichen Gerichtsurteilen nieder, die ihrerseits wieder die Realität beeinflussten. Man denke nur an den Abtreibungsprozess von Bobigny 1973, an die Anerkennung der Rechte nichtehelicher Lebensgemeinschaften, an die derzeitige Debatte über das Grundrecht auf Wohnung, an die Sozialgesetzgebung oder an die Überprüfung von Sozialplänen in Unternehmen.

Im Übrigen ersetzte die Anrufung der Gerichte auch und gerade im Bereich des Arbeitsrechts immer mehr die unmittelbare Konfliktaustragung, wobei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg eine wichtige Rolle spielte.11 Obwohl die Zahl der Entlassungen zurückgeht, sind die Sozialkammern der Berufungs- und Kassationsgerichte deshalb besonders überlastet.

Die Verrechtlichung der Gesellschaft hat also auch ihre „gute“ Seite. Sie eröffnet den am stärksten benachteiligten Personen die Möglichkeit, mit Unterstützung öffentlicher Beratungsstellen vor Gericht ihre Rechte einzuklagen. Die Hälfte der Zivilsachen bei Landgerichten, deren Zahl sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre (in Frankreich) verdreifacht hat, betreffen Familienangelegenheiten, vor allem Unterhaltszahlungen, wie in einer Periode wachsender sozialer Verarmung nicht anders zu erwarten. Die Zahl der unter Pflegschaft stehenden Personen wird mit dem Alterungsprozeß der Bevölkerung bald weiter ansteigen. Prozessrechtliche Neuerungen sind somit gerade im Bereich alltäglicher Angelegenheiten unerlässlich. Als erstes sollte man eine gütliche Einigung im Beisein von Rechtsmediatoren erproben; nur wenn sie scheitert, sollte der Weg zum Gericht offenstehen.

Die Gerichte sind auch deshalb stärker gefordert, weil die Justiz ungleiche soziale Beziehungen korrigieren kann (Aufhebung eines Sozialplans, Anfechtung einer institutionellen Entscheidung). Überdies wünschen immer mehr Bürger, dass die Justiz in öffentlichen Angelegenheiten, die sie betreffen, die Wahrheit aufdeckt. Symptomatisch ist dabei, dass Intellektuelle ihre Differenzen immer öfter über Verleumdungsklagen austragen oder dass die Gerichte als Ort des nationalen Gedächtnisses oder gar als Garant einer offiziellen „historischen Wahrheit“ dienen müssen. Genannt seien das Gesetz Gayssot vom 13. Juli 1990, das die „Infragestellung eines Verbrechens gegen die Menschheit“ unter Strafe stellt, oder der Prozess gegen Maurice Papon, in dessen Verlauf auch Historiker gehört wurden und der am Ende zu einem Streit zwischen Forschern und Juristen führte.

Als Korrektiv gegen die negativen Folgen wirtschaftlicher und sozialer Ungleichgewichte stellt die Verrechtlichung der Gesellschaft einen Fortschritt an Demokratie dar. Beunruhigend wäre es allerdings,würde diese Tendenz vor allem die verstärkte Durchsetzung individueller Ansprüche auf Kosten des sozialen Zusammenhalts bewirken. Rücksichtsloser Individualismus und Opfermentalität könnten vergessen machen, dass jede Gemeinschaft Pflichten mit sich bringt und gegenseitige Zugeständnisse voraussetzt. Ein enges Rechtsverständnis, eine übermäßig in Rechtsstreitigkeiten verstrickte Gesellschaft, die die Regelung ihres unvermeidlichen Konfliktpotenzials an die Justiz delegiert, würde dem republikanischen Gesellschaftsmodell großen Schaden zufügen.

Auf der anderen Seite geht die Schwächung des Politischen und des Staates mit einem Bedeutungszuwachs der Individualrechte und der richterlichen Tätigkeit einher. Diese Entwicklung wird durch die neue Legitimität der Richter zusätzlich verstärkt, gerade auch im Kontext der Korruptionsbekämpfung. Wenig sachdienlich wäre es, diese zunehmend wichtige Thematik im Sinne kommunizierender Röhren zu erörtern, als ob ein Mehr an Justiz stets ein Weniger an Politik bedeuten würde. Das Rechtsstaatskonzept darf nicht dazu führen, dass die Regierung von Politikern durch eine Regierung von Richtern ersetzt wird. Die Justiz soll nicht das Ventil der Demokratie sein, sondern ihr Garant. Die vielschichtige Debatte über die Verrechtlichung der Gesellschaft muss in eine vertiefte Demokratiediskussion münden.

dt. Bodo Schulze

* Leiter des Forschungsprojekts Recht und Justiz (Justizministerium und CNRS), Paris

Fußnoten: 1 Dazu „Die Politik gerät zum Politikersatz“, Le Monde diplomatique, Mai 1997. 2 Dazu Phyllis Bennis, „Im Geist des Imperiums“, Le Monde diplomatique, Dezember 1999. 3 Dazu Monique Chemillier-Gendreau, „Die internationale Rechtsunsicherheit“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. 4 Le Monde, 22. Oktober 1998. 5 Die quasirichterliche Gewalt des britischen Innenministers vor allem im Hinblick auf die Festlegung des Strafmaßes wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in zwei Entscheidungen vom 16. Dezember 1999 abgemahnt. Die Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in britisches Recht, die am 5. Oktober 2000 erfolgte, hat dieses Rechtsprivileg jedoch bereits in vielen Punkten beschnitten. 6 Die parlamentarischen Mitglieder des französischen „Gerichtshofs der Republik“ beschlossen nach eingehender Erörterung, während der Verhandlung gegen die im Aids-Blutskandal angeklagten Minister die Richterrobe zu tragen. Ihr Votum war allerdings höchst „politisch“ motiviert. 7 Chambre de Commerce et de l'Industrie, Entretiens Friedland, http://www.ccip.fr/etudes/themes/entret.htm. 8 Dazu Antoine Garapon u. Denis Salas, „La République pénalisée“, Paris (Hachette, coll. „Questions de société“) 1996. 9 Dazu Loïc Wacquant, „Les Prisons de la misère“, Paris (Raisons d'agir) 1999. 10 Philippe Robert, „Le citoyen, le crime et l'État“, Genf (Droz) 2000. 11 Dazu Anne-Cécile Robert, „Ce juge méconnu de Luxembourg“, Le Monde diplomatique, Juli 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von JEAN-PAUL JEAN