12.01.2001

Absolutistische Allüren

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Absolutistische Allüren

ZUR allgemeinen Überraschung ließ Abderrahmane Youssoufi, Marokkos sozialistischer Ministerpräsident, am 2. Dezember 2000 drei Tageszeitungen „unwiderruflich“ verbieten: „Le Journal“, „Assahifa“ und „Demain“. Die drei Blätter hatten einen Brief publiziert, den Youssoufi 1974 an Mohammed „Fqih“ Basra, eine Führerfigur der marokkanischen Linken, geschrieben hatte. Dieser Brief könnte ein Beleg dafür sein, dass einige Figuren der damaligen sozialistischen Opposition in den Putschversuch verwickelt waren, den General Oufkir 1972 gegen König Hassan II. unternommen hatte. Von ABOUBAKR JAMAÏ *

Das Verbot von drei Zeitungen, die durchaus unterschiedliche Einschätzungen eines dunklen Kapitels der jüngeren marokkanischen Geschichte (das der frühen Siebzigerjahre) publiziert hatten, war ein Schock für die Öffentlichkeit des Landes.1 Auch die Repräsentanten der Zivilgesellschaft, von denen die meisten Vertrauen in den Ministerpräsidenten Abderrahmane Youssoufi gesetzt hatten, reagierten fassungslos. Der Vorgang macht deutlich, welchen Einfluss im inneren Zirkel der Macht unerfahrene Neulinge ausüben, aber auch jene Funktionäre, die im Sicherheitsapparat über viele Jahre leitende Funktionen innehatten und die eindeutig kein Interesse an einer demokratischen Entwicklung haben.

Das Neue und Besondere an dieser Maßnahme der Regierung ist die – letztlich schlüssige – Komplizenschaft zwischen der erwähnten Fraktion des höfischen Machtapparats (dem machsen) und gewissen Führungszirkeln in den Parteien der Regierungskoalition, speziell in Youssoufis Union Socialiste des Forces Populaires (USFP). Aus dieser „Heiligen Allianz“ zwischen der königlichen Macht, die sich gerade in einer Phase der Erneuerung befindet, und politischen Führern, die den Kontakt zur Parteibasis verloren haben, hat sich ein neues politisches Lager gebildet: eine Parteien und Institutionen übergreifende Koalition demokratiefeindlicher und sicherheitspolitisch orientierter Kräfte.

Um den Einfluss dieser „Geheimpartei“ einzudämmen, die mit Hilfe ihrer politischen Hebel ihre Privilegien zu sichern vermag, wären institutionelle Reformen vonnöten: Kontrollinstanzen bei den Wahlen, eine echte innerparteiliche Demokratisierung und eine Neugewichtung der Machtverhältnisse zwischen Monarchie und Parlament.

Der politische Wandel von 1977 (der zu Unrecht als „demokratisch“ qualifiziert wurde) war Ergebnis eines Kompromisses zwischen König Hassan II. und der Opposition. Doch große Teile der marokkanischen Führungsschichten, die vor drei Jahren noch glaubten, auf diese Weise könne das Land auf den Weg zu einer echten Demokratie gebracht werden, haben dem Experiment inzwischen aufgrund seiner Misserfolge und inneren Widersprüche ihre Unterstützung entzogen.

Die Bilanz der Regierung Youssoufi ist niederschmetternd. Sie hat kaum etwas zustande gebracht. Im sozialökonomischen Bereich sollten einige politische Maßnahmen, die aber halbherzig blieben, einen Wirtschaftsaufschwung einläuten. So hat die Linke etwa den Gewerkschaften Lohnerhöhungen gewährt, die den sozialen Frieden sichern sollten, sich aber am Ende in einer nicht einkalkulierten Aufblähung der staatlichen Gehälter niederschlugen. Gleichzeitig sorgten die ungünstigen internationalen Bedingungen für eine erhebliche Gefährdung des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts.

Schlimmer noch: Die autoritären USFP-Parteibonzen und ihre neuen Verbündeten in den Geheimdienstkreisen machten es sich rasch in den frisch erworbenen Machtpositionen bequem und rechtfertigten dies mit dem Argument, nur so seien die angeblichen Gefahren des islamischen Extremismus zu bekämpfen. Ihr neuer Autoritarismus äußerte sich in einer Vorliebe für Anweisungen von oben, in einer ausgeprägten Abneigung gegen alle Formen von Gegenmacht, wie sie sich vonseiten der Zivilgesellschaft artikuliert, und in ihrer Unterdrückung all derjenigen Bestrebungen, die auf mehr Freiheitsrechte drängen.

Jetzt, wo sie an der Regierung ist, fürchtet sich die Linke vor Veränderungen in genau den Bereichen, in denen sie zuvor als Oppositionskraft Kritik geübt und Reformen gefordert hatte. Dafür gibt es unzählige Beispiele. So zeigt etwa das unverhältnismäßig harte Vorgehen gegen vereinzelte öffentliche Protestkundgebungen, auf welch billige Weise sich die angebliche islamistische Gefahr instrumentalisieren lässt: Zum einen kann man damit die bürgerliche Führungsschicht, die schreckhaft auf die Entwicklungen in Algerien starrt, so weit beeindrucken, dass sie ihre Forderungen nach mehr Demokratie vorsichtiger formuliert; zum anderen nährt man die Befürchtungen der westlichen Verbündeten bezüglich der Ausbreitung des Islamismus und kann somit die immer wieder vorgebrachte Kritik an Menschenrechtsverletzungen ausbremsen.

Als die Tageszeitung Le Journal im Oktober 1999 eine Diskussion über vorgezogene Neuwahlen eröffnete, stieß sie bei der kleinen Fraktion der bürgerlichen Elite, die sich der „offiziellen“ Haltung anschloss, auf einhelligen Widerstand. Das zentrale Argument lautete: Vorgezogene Wahlen würden unweigerlich den Islamisten zum Erfolg verhelfen. Bei dieser kurzsichtigen Betrachtung der politischen Landschaft bleiben allerdings zwei grundlegende Aspekte außer Acht. Zum einen ist ein nicht unbedeutender Teil der Islamisten durchaus bereit, die Institutionen und Regeln der Demokratie zu akzeptieren. Zum anderen besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem möglichen Triumph der Islamisten und dem Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Klasse Marokkos. Der strukturelle Verfall der Parteien rührt von ihrem Defizit an Legitimität: Zu oft wurden die Wahlen manipuliert und die Prinzipien missachtet, von denen einst der politische Kampf der Opposition getragen war.

Es ist also kein Wunder, dass das Verhältnis der Bürger zur Politik zunehmend von Zweifeln und Gleichgültigkeit gekennzeichnet ist. Die gemeinsamen Hoffnungen sind längst verflogen, und der Regierungschef bedient nur noch die Ansprüche einer Minderheit, die ihm den nötigen Rückhalt sichert. Völlig ungeniert leiert die bunt zusammengewürfelte Regierungskoalition immer wieder die Parole herunter, ihre Machtübernahme stelle die einzige Chance für einen Übergang zur Demokratie dar.

Dabei hatte Abderrahmane Youssoufi noch kurz nach den Parlamentswahlen vom 14. November 1997, aus denen die gegenwärtige Regierung hervorging, gemeinsam mit anderen Oppositionsführern eine Protesterklärung gegen die Manipulation dieser Wahlen unterzeichnet.

Die Haltung des Regierungschefs wird des Weiteren durch sein Schweigen in der Diskussion um eine Verfassungsreform belegt. Zu den Vorwürfen der Regierung gegen Le Journal gehörte nicht zuletzt, dass die Zeitung eine Reform der Verfassung gefordert hat, die Marokko den Übergang zu einer echten Demokratie und nicht nur zu scheindemokratischen Lösungen gewährleisten soll.

TATSÄCHLICH hatte ja auch die Koalition von Oppositionsparteien namens Kutla („Das Bündnis“), die 1997 die Wahlen gewann, König Hassan II. eine Denkschrift vorgelegt, die eine Neuverteilung der Macht zwischen der Monarchie und dem Parlament forderte. Damit sollte ein System überwunden werden, in dem das Parlament nicht den Volkswillen repräsentiert, sondern lediglich längst getroffene Entscheidungen absegnet. Wenn das Kutla-Bündnis diese Position nunmehr aufgegeben hat, bestätigt dies natürlich die Parolen der Islamisten. Und deren Ideologie werden die Massen anziehender finden, solange keine andere glaubwürdige Alternative in Sicht ist.

Die gegenseitige Durchdringung von machsen (dem höfischen Machtapparat) und gegenwärtiger Regierung hat nicht die erhoffte „dynamische Kohabitation“ hervorgebracht, sondern sie hat zu einer Erstarrung des gesamten öffentlichen Lebens geführt. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, um das Land zu demokratisieren und damit zu stabilisieren, ist zweierlei unabdingbar: eine Verfassungsreform und freie, unmanipulierte Wahlen.

Genau so hat es schon 1998 Professor Rémy Leveau formuliert: „Erst wenn die Monarchie die Gelegenheit eines Thronwechsels nutzt, um sich aus der unmittelbaren Ausübung der Regierungsmacht zurückzuziehen, wird eine vernünftige Relation zwischen Wahlrisiken (also einem Vormarsch der Islamisten) und Bestellung der politischen Führung auf lokaler und nationaler Ebene möglich sein. Der künftige Herrscher muss sich auf eine starke symbolische Rolle beschränken, um einen neutralen Wettbewerb um die Macht unter den Kräften zu erlauben, die sich auf die Grundsätze der konstitutionellen Monarchie verpflichten.“2

Es ist also unumgänglich, dass die Monarchie zu einer neuen Rolle findet. Sobald sie nicht mehr unmittelbar in die Regierungsgeschäfte eingreift, wird sie ihre anderen Qualitäten umso besser entfalten können: als ausgleichende Instanz, die aufgrund ihrer religiösen und sozialen Bedeutung ein Gegengewicht gegen den Vormarsch der Islamisten schafft, und als Geburtshelferin einer neuen politischen Elite, die letztlich effizienter sein wird, weil sie sich gegenüber den Bürgern verantworten muss.

Die seit Jahrzehnten gängige Praxis der Wahlmanipulation hat Marokko in eine Art permanenten Ausnahmezustand versetzt, der es dem Regime erlaubte, die Staatsgeschäfte nach eigenem Gutdünken zu führen. Aber die Globalisierung, das Ende des Kalten Krieges und die allmähliche Konsolidierung einer „Festung Europa“ haben dieser Methode der Machtausübung nach und nach die Grundlage entzogen. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht: Seit zwanzig Jahren schrumpfen die entscheidenden Einnahmen des machsen, die Gewinne aus den Vermögenswerten, wie das berühmte Chagrinleder.

Indem die Oppositionskräfte, die an die Regierung gekommen sind, alle Reformanhänger in ihren Reihen zum Schweigen gebracht haben, zeigt sich um so deutlicher die Analogie zwischen der frivolen Liaison dieser Parteien mit der Monarchie und dem internen Ränkespiel dieser ehemaligen Oppositionskräfte, und dort vor allem der USFP.

In der wichtigsten Partei der Linken herrscht längst eine Art offizieller Ausnahmezustand: Seit 1989 hat die USFP keinen Parteitag abgehalten; ihr Vorsitzender Youssoufi wurde nach dem Kooptationsprinzip berufen, und zwar von einem Politbüro, das sich seit über zehn Jahren keiner Wahl mehr stellen musste. Da war es natürlich ein schwerer Fehler, dass die Jugendorganisation der Partei, Schabiba Ittihadia, sich an die Parteistatuten erinnerte und 1998 einen eigenen Parteikongress einberief. Weil sie sich bei dieser Gelegenheit auch noch von der Regierungspolitik distanzierte, wurden ihr von der USFP kurzerhand die Parteizuschüsse gestrichen.

DIE rechtliche Form, in der das Verbot dreier unabhängiger Zeitungen verhängt wurde – nicht durch Gerichtsentscheid, sondern durch ein Regierungsdekret – macht deutlich, wie wenig sich die gegenwärtige Regierung um demokratische Gepflogenheiten schert. Noch mehr Anlass zur Besorgnis gibt allerdings die Begründung dieser Entscheidung: Sie zeigt die zunehmend absolutistischen Allüren einer politischen Führung, die zwar nicht von einer echten Wählermehrheit getragen ist, sich aber mit „fortschrittlichen“ Projekten schmückt und sich in der Öffentlichkeit als das einzige Bollwerk gegen den religiösen Extremismus darstellt.

Wie dieses politische System funktioniert, das den Regierenden im Namen von willkürlich interpretierbaren sicherheitspolitischen Erfordernissen die rechtlichen Mittel für ihr Durchgreifen gegen die Presse liefert, hat der Essayist Pierre Rosanvallon sehr genau beschrieben.3 Im vorliegenden Fall ist die Verbotsverfügung gegen die drei Zeitungen wie eine Anklageschrift formuliert. Dabei wird vor allem, in übelster autoritärer Tradition, die Tendenz der Leitartikel verdammt. Statt konkreter Fakten gibt es nur eine Litanei vager Vorwürfe: „Demoralisierung der Streitkräfte“, „Infragestellung der territorialen Integrität“, „Kritik an der Verfassung“ – lauter Verstöße gegen äußerst vage umrissene Grundsätze.

Dass sich die Regierung bemüht, einen Gegensatz zwischen freier Presse und Armee zu konstruieren, ist allerdings ein sehr riskantes Unterfangen. Denn die Armee hält nach wie vor eine Schlüsselposition in der marokkanischen Politik. Sie allein ist in der Lage, die von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Revolten der städtischen Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen; und mit der fortschreitenden Verelendung der Neuzuwanderer in den Städten wird es solche Aufstände in Zukunft noch häufiger geben.

Im Spiel um die Macht hat die Armee die Trümpfe auf der Hand, zumal die politische Klasse dem Volk entfremdet ist. Dass der seit langem schwelende Westsaharakonflikt vermutlich bald ein Ende finden wird, schafft allerdings ein neues, schwieriges Problem: Was soll aus den über 200 000 Mann der Berufsarmee werden? Angesichts der geringen demokratischen Legitimation der politischen Führungsfiguren dürften die Militärs Anlass genug finden, sich in die Politik einzumischen.

Wie kann es mit der Monarchie weitergehen? Der neue König Mohammed VI. hat bereits im August 1999, kurz nach seiner Thronbesteigung, eine Reihe wichtiger Entscheidungen in Menschenrechtsfragen getroffen. So konnte der Regimegegner Abraham Serfaty aus dem Exil zurückkehren, Scheich Abdeslam Yassine, eine Führerfigur für die Mehrheit der Islamisten, wurde nach zehn langen Jahren aus dem widerrechtlich verhängten Hausarrest entlassen.

Von besonders hohem Symbolwert ist die Erlaubnis, dass Pilger wieder das berühmte Bad von Tazmamart aufsuchen dürfen. Da zudem die Bevölkerung dem König bei seinem Eintreten für die Armen und die Opfer der schlimmsten Repressionsjahre ehrliche Absichten unterstellt, hat der neue Herrscher die besten Voraussetzungen, zu einer politischen Liberalisierung beizutragen.

Innerhalb der Machtstrukturen spielt der König unter allen Akteuren zweifellos die entscheidende Rolle. Gerade jetzt, da er unangefochtene Legitimität besitzt, hat er die Chance, das überalterte System des machsen aufzubrechen und Marokko endgültig auf den Weg in die Demokratie zu bringen. Aber dieser König wird durch eine „Geheimpartei“ von der Realität abgeschottet, deren Aktivitäten nun die Gefahr heraufbeschwören, dass Marokko entweder zum islamischen Gottesstaat wird oder dass sein künftiges Schicksal in den Händen der Armee liegt. Der König könnte die herrschende Erstarrung lösen, wenn er bereit wäre, sich mit den Reformbestrebungen zu verbünden, die überall in der Gesellschaft und ihren Institutionen entstanden sind.

dt. Edgar Peinelt

* Herausgeber der Tageszeitungen „Le Journal“ und „Assahifa“ (beide Casablanca), die am 2. Dezember 2000 unwiderruflich verboten wurden.

Fußnoten: 1 Die Organisation Reporter ohne Grenzen (www.rsf.fr) hat die Verbote am 3. Dezember 2000 verurteilt und König Mohammed VI. aufgefordert, sie durch persönliches Eingreifen wieder aufzuheben. 2 Rémy Leveau, „Réussir la transition démocratique au Maroc“, Le Monde diplomatique, November 1998; siehe auch Ignacio Ramonet, „Marokko wartet“, Le Monde diplomatique, Juli 2000. 3 Pierre Rosanvallon, „La démocratie inachevée“, Paris (Gallimard) 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von Von ABOUBAKR JAMAÏ