12.01.2001

Polnische Ängste

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Polnische Ängste

VIELE Polen hatten nach 1990 erwartet, nun würden sie die „ökonomische Dividende“ einstreichen, die sie sich mit ihrem politischen Wagemut redlich verdient zu haben glaubten. Schließlich hatten sie als erste dem Kommunismus abgeschüttelt und maßgeblich zur Befreiung von der sowjetischen Bedrohung und zur Wiedervereinigung Deutschlands beigetragen. Doch seit klar ist, dass der Nato-Beitritt und die Übernahme des „acquis communautaire“ immense Kosten verursachen, erscheint vielen Polen die Öffnung nach Westen und die Abschottung nach Osten als ein Sprung ins Ungewisse. Von BRUNO DRWESKI *

Polen ist das einzige Land des ehemaligen Ostblocks, das sein Bruttoinlandprodukt gegenüber 1989 gesteigert hat. Deshalb gilt das Land den meisten westlichen Kommentatoren als der „Musterschüler“ in einer „schwierigen Klasse“, wie man die Transformationsländer Ost- und Mitteleuropas zu nennen pflegt. Die neu entstandene Unternehmerschicht geht zwar mit großem Engagement zu Werke, doch die Mehrheit der Bevölkerung wirkt nach den zehn Jahren Umstrukturierung eher verdrossen. Die Desillusionierung hat mittlerweile auch die Erben der Solidarność ergriffen, die derzeit die Regierung stellen, während die „Exkommunisten“ neben den Nostalgikern, die der Polnischen Volksrepublik nachtrauern, auch gewisse Wirtschaftskreise ansprechen.

Um zu verstehen, warum Aleksander Kwaśniewski am 8. Oktober 2000 bereits im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mit 53,9 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt wurde, während Lech Wałesa nur 1,1 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, muss man wissen, dass 44 Prozent der Polen die Zeit der Volksrepublik positiv bewerten. Eine andere Umfrage hat ergeben, dass 47 Prozent der Befragten den Sozialismus für eine gute Theorie halten, die lediglich schlecht umgesetzt wurde; und dass demgegenüber nur 41 Prozent den Kapitalismus für das bessere System halten.1

Diese politischen Einschätzungen lassen sich mit der realen Bilanz der sozialen Kosten der „Transformation“ erklären. Kwaśniewski hat genau in den Regionen am besten abgeschnitten, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten liegt. Da mag man in Warschau noch so sehr auf die makroökonomischen Zahlen verweisen, die fast durchweg positiv sind – die Skepsis der Polen bleibt. Zumal die Globalisierung und der Zwang zur Erfüllung der Maastricht-Kriterien (die für den Beitritt zur Eurozone qualifizieren) bei der Durchsetzung der „Reformen“ keine Atempause zulässt, sondern vermehrte Anstrengungen fordert. Nicht von ungefähr konstatierte die sozialistische Abgeordnete und Referentin im Europäischen Parlament Pervenche Berès, dass die „neuen EU-Mitglieder nach ihrem Beitritt für die ersten Jahre mit einem spürbaren ökonomischen Schock“ rechnen müssten.2

DIE russische Krise von 1998 hat das Wirtschaftswachstum3 in Polen nicht merklich abschwächen können; auch der Zloty geriet nicht unter den Druck von Spekulationsgeschäften. Die Inflation schwächt sich ab, die Industrieproduktion wächst, und das Gesundheitsniveau steigt.4 Von den ausländischen Direktinvestitionen, die 1998 nach Mittel- und Osteuropa flossen, konnte Polen 40 Prozent für sich verbuchen. Ende 1999 hatten diese Investitionen ein Gesamtvolumen von über 22 Milliarden Dollar erreicht.5 Man schätzt, dass die Wachstumsrate inden nächsten Jahren auf Dauer bei fünf bis sechs Prozent liegen wird.

Dieses Bild weist jedoch einige dunkle Flecken auf. Die Arbeitslosenrate ist auf über 13 Prozent geklettert. Die weiteren Umstrukturierungen, die in der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Stahlindustrie, in der Telekommunikationbranche, im Energiesektor (Erdölverarbeitung und Stromerzeugung) bevorstehen, machen verständlich, warum die Politiker den wachsenden Unmut mit Sorge betrachten. Denn das Wirtschaftswachstum hat zu einer sozialen Polarisierung und zu regionalem Ungleichgewicht geführt. In einzelnen Landesteilen liegt die Arbeitslosenquote bereits bei über 20 Prozent.

Aufgrund der sinkenden staatlichen Zuschüsse für das Transportwesen wird es für viele Pendler immer schwieriger, tagtäglich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Arbeitsplätze in den großen Wirtschaftszentren zu erreichen. Andererseits ist der Umzug in diese Zentren fast unmöglich geworden, weil mangels staatlicher Förderung kein zusätzlicher billiger Wohnraum entsteht. Zudem müssen die Polen erfahren, dass die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität, die zunächst von den Kommunisten und später von Solidarność propagiert wurden, heutzutage nichts mehr zählen und dass die nationale Souveränität im Zuge der Globalisierung inhaltslos wird.

Heute sind im Banksektor 76,9 Prozent des Kapitals in ausländischer Hand. Die leistungsfähigsten Unternehmen wurden häufig unter Wert verkauft; es kam sogar vor, dass ihr Maschinenpark einfach abgewrackt wurde. In Sufczyn unweit von Warschau meint die Verkäuferin in einem Dorfladen: „Die Hortex-Säfte haben heutzutage eine schlechte Qualität. Die Fabrik wurde von Amerikanern aufgekauft, die von den 3 000 Beschäftigten nur 300 behielten. Das Fruchtkonzentrat, das sie zur Herstellung benötigen, wird aus den USA importiert; unsere Bauern werden ihr Obst nicht mehr los.“

Solche Entwicklungen erklären, dass sich etliche Leute nach den alten sozialistischen Prinzipien zurücksehnen oder mit nationalistischem Gedankengut liebäugeln. Der Sozialhaushalt ist stark beschnitten worden, dagegen steigen die staatlichen Ausgaben für den Kauf von „Nato-kompatiblen“ westlichen Waffen, für die Übernahme des acquis communautaire, also aller rechtlichen und administrativen Bestimmungen der Europäischen Union, und für die Sicherung der Grenzen nach Osten, zu der sich Polen gegenüber der EU verpflichtet hat. Nach zehn Jahren „Transformation“ wird man das Handelsbilanzdefizit – das von 2,955 Milliarden Dollar im Jahre 1992 auf 18,522 Milliarden Dollar in 1999 anstieg – kaum noch allein mit den notwendigen Investitionen in die Infrastruktur rechtfertigen können. Dazu meint ein früherer Berater von Lech Wałesa, der jetzt im Arbeitsministerium sitzt: „Wir machen es mit den Krediten wie zu Giereks Zeiten, doch im Unterschied zu heute wurde damals einen Teil davon investiert. Heute sind nur 15 Prozent des Handelsbilanzdefizits den Investitionen in die Infrastruktur zuzuschreiben, aber keiner wagt, das laut zu sagen, aus Angst, den Westen zu erschrecken.“

Viele Polen sind verarmt und bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Krediten, wodurch das makroökonomische Gleichgewicht gefährdet wird. Demgegenüber wird die Summe, die für die Schuldentilgung aufgebracht werden muss, von 2,8 Milliarden Dollar 2000 auf 4 Milliarden im Jahre 2004 steigen. Alle großen polnischen Parteien wollen die Integration beschleunigen, denn sie erscheint ihnen als Garant für die Stabilität sowohl der neu entstandenen Institutionen als auch der wirtschaftlichen Eliten. Die EU gilt allgemein als ein schützender Schirm. Man verspricht sich von ihr erweiterte Absatzmöglichkeiten, den Zugang zum westlichen Arbeitsmarkt und die Hoffnung auf massiv ins Land fließendes Kapital, das von billigen und gut ausgebildeten Arbeitskräften angelockt wird.

Bleibt die Frage, ob die Rechnung aufgeht. Zwar befürworten 59 Prozent der Polen den Beitritt (während 25 Prozent ihn ablehnen), doch 44 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass hauptsächlich die EU davon profitiert, während 8 Prozent glauben, vor allem ihr Land werde profitieren. 29 Prozent sind der Meinung, dass der Schritt für beide Seiten von Vorteil sein wird.6

Auch die Künstler machen sich Gedanken über die „Öffnung der Kultur“ gegenüber dem Weltmarkt. Während Filmregisseur Wojciech Siemion einer Ausnahmeklausel für die Kultur fordert, erklärt Geno Malkowski, Vorsitzender des Künstler-verbandes: „Ich war schon immer der Meinung, dass eine Kultur, die vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten ist, eine tote Kultur ist, die in der Geschichte keine Spur hinterlassen kann.“ Als der Chefredakteur der Tageszeitung Trybuna, Janusz Rolicki, die Idee eines Kongresses der Intellektuellen zur Verteidigung der Kultur sondierte, musste er unter dem Druck der Exkommunisten (SLD) zurücktreten, die in dieser wie in anderen Fragen eine sozialliberale Linie vertritt.

Über den Erfolg des von der EU finanzierten Phare-Hilfsprogramms wurde noch keine öffentliche Bilanz gezogen. Aber immerhin lässt sich sagen, dass die Kosten, die mit der Umsetzung der europäischen Normen verbunden sind, inzwischen die bereitgestellten Mittel übersteigen.7 Bis zum Jahre 2002 muss Warschau 100 000 Seiten der aus Brüssel kommenden Direktiven in landeseigenes Recht überführen und mehr als 180 Gesetze verabschieden. Einige Polen fragen sich, warum ihr Land (ohne nennenswerte EU-Mittel) heute im Großen und Ganzen besser dasteht als die ehemalige DDR. In die neuen Bundesländer sind bekanntlich große Summen geflossen, und doch hatten ihre Bewohner unter den Folgen der Anpassung an den europäischen Binnenmarkt zu leiden – wie auch unter der Weisungsgewalt ihrer westlichen „Landsleute“.

Angesichts dessen kommt vielen Polen die deutsche Forderung nach einem raschen EU-Beitritt ihres Landes eher suspekt vor. Und dies umso mehr, als die Beitrittsverhandlungen mit Polen im nächsten Stadium schwieriger sein dürften als die mit „kleinen“ Ländern wie Tschechien und Slowenien. Um seine Handelsbilanz auszugleichen, hatte Polen 1999 die Einfuhrzölle erhöht, was von dem Brüsseler Beamten, der für die landwirtschaftlichen Beziehungen zwischen EU und Beitrittsländern zuständig ist, prompt gerügt wurde: „Die Polen verfolgen eine falsche Politik. Anstatt die notwendigen Umstrukturierungen vorzunehmen, versuchen sie, sich der Realität des Wettbewerbs zu entziehen.“8 Nach langwierigen Verhandlungen konnte schließlich im September 2000 ein Übereinkommen erzielt werden. Es sieht vor, dass ab 2001 bei 75 Prozent der Agrareinfuhren die Zölle entfallen.9

Im Juni 2000 wurden in den Verhandlungen mit der EU-Kommission elf Kapitel des acquis „vorläufig“ abgeschlossen; achtzehn weitere Themenkomplexe stehen noch auf der Tagesordnung. Dazu gehören insbesondere folgende Kapitel: freier Waren-, Personen- und Kapitalverkehr, Unternehmensrecht und Wettbewerb, Steuerrecht, Landwirtschaft, Fischfang, Zollfragen, Energiewirtschaft, Kultur, Umweltschutz und last, but not least die leidige Frage des Schengener Abkommens.

Denn die Polen lehnen es ab, zum „Polizisten“ des europäischen Kontinents zu werden, der die „Migrationsströme filtert“: hie das “schlechte Europa“ und die Dritte Welt, da der „harte Kern der Wohlhabenden“.10 Gegen diese Politik haben Geschäftsleute in Bialystok demonstriert. Der frühere Solidarność-Vorsitzende Henryk Wójec meint: „Die EU-Politiker wollen schlicht und einfach, dass wir die Grenze dichtmachen.“11 Und Jacek Saryusz-Wolski, der für Polen mit Brüssel verhandelt, versichert seinerseits: „In der Randposition zu bleiben, an der Peripherie der EU, das ist nicht unser Interesse. [...] Die östliche Grenze muss eine Brücke sein und keine Mauer.“12

DIE Polen wissen tatsächlich sehr gut, dass Europa eine Halbinsel des eurasischen Kontinents ist. Für sie kann es einen realen Fortschritt deshalb nur geben, wenn eine mutige Politik auf koordinierte Entwicklung setzt, wenn sichere, schnelle und offene Verbindungswege gebaut werden, die von Paris über Berlin, Warschau, Minsk und Moskau bis Peking führen. Im Übrigen wird die Organisation für industrielle Entwicklung der Vereinten Nationen (Unido) in diesem Jahr in Warschau ein Büro errichten, das Ländern wie der Ukraine, Weißrussland, Rumänien u. a. „Entwicklungshilfe“ leisten soll.

Doch die Europäische Union und insbesondere Frankreich wollen schärfere Kontrollen durchsetzen, mittels elektronischer Datenerfassung, hochtechnologischer Überwachung aus der Luft und Auffanglagern.13 Eine solche Entwicklung würde zwangsläufig einen stärkeren nationalistischen Rückzug der Völker Eurasiens bedeuten – eine Gefahr, die Warschau übrigens mit seinem Nato-Beitritt und der Zustimmung zu den Bombenangriffen auf Restjugoslawien vergrößert hat.

Viele polnische Landwirtschaftsbetriebe überleben nur dank des grenzüberschreitenden Handels mit Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die Angebote von Händlern aus der gesamten GUS machen es vielen Polen möglich, sich mit billigen Waren zu versorgen. Und ohne die zehn Millionen GUS-Bürger, die jährlich nach Polen reisen, wären zahllose Geschäfte längst bankrott. Mit Einführung einer Visumpflicht würde somit auf beiden Seiten der Grenze eine komplette Subsistenzwirtschaft zusammenbrechen.

Eine Bäuerin aus der Region von Chelm meint empört: „Wer kommt denn noch unser Gemüse kaufen, wenn die Grenze geschlossen wird? Ich bin dagegen. Schließlich sind uns die Ruskis näher als die Deutschen, wir verstehen wenigstens ihre Sprache.“ („Ruski“ ist in der polnischen Umgangssprache die Sammelbezeichnung für Weißrussen, Russen und Ukrainer.)

In Polen ist es den Rechtsextremen nach 1989 nicht gelungen, festen Fuß zu fassen; doch gegenwärtig wird auch in staatlichen Sendern und in als liberal geltenden Zeitungen das Misstrauen gegen den Osten lanciert, auch mit dem Hinweis auf die Unsicherheit und die Seuchengefahr. Der real existierende Liberalismus bringt auf lange Sicht Ausländerfeindlichkeit hervor. Und die Kampagnen gegen Rassismus, die das eigene Gewissen beruhigen sollen, könnten am Ende das Misstrauen gegen „das Fremde“ nur noch verschärfen.

dt. Passet/Petschner

* Dozent am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco), Paris.

Fußnoten: 1 Le Point, 6. Oktober 2000, sowie CBOS-Umfrage, Le Sondoscope, Juli 2000. 2 „Avertissement au sujet du choc économique de l’adhésion“, Europolitique (Brüssel) Nr. 2111, 31. August 2000. 3 1992 betrug das Wirtschaftswachstum 2,6 Prozent, stieg 1995 auf 7 Prozent an und ging 1999 wieder auf 4,1 Prozent zurück. Siehe Patrick Lenain, „Pologne: une transition réussie“, L’Observateur OCDE, 5. Oktober 2000; UNO-Wirtschaftskommission für Europa, Economic Survey of Europe, Nr. 1006, Juni/Juli 2000. 4 Die Inflationsrate sank von 45,3 Prozent in 1992 auf 7,4 Prozent in 1999. UNO-Wirtschaftskommission,a. a. O. 5 Vgl. Patrick Lenain und UNO-Wirtschaftskommission, a. a. O. 6 CBOS-Umfrage, a. a. O. 7 Stephen Holmes, „L aide de l’Ouest à l’Est: une copie à revoir“, Le Courrier de l’UNESCO, November 1999. 8 Helmut Stadler, Europolitique, Brüssel, Nr. 2514, 5. Juli 2000. 9 „Accord agricole entre la Pologne et l’Union européenne“, Le Figaro économie, 28. September 2000. 10 Gilles Lepesant, „La Pologne et son Est“, in „Les confins de l’OTAN“, Nouveaux Mondes (Genf) Nr. 9, Herbst 1999, S. 241–256. 11 Nathalie Nougarèyde, „Les travailleurs au noir de l ex-URSS affluent en Europe centrale“, Le Monde, 12. Oktober 2000. 12 Jacek Saryusz-Wolski, „Nous voulons une vraie politique orientale de l Union européenne“, Le Monde, 8./9. Oktober 2000. 13 Robert Graham, John Reed, Michael Smith, „France talks tough line over Polish border security“, Financial Times, 18. Mai 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von BRUNO DRWESKI