12.01.2001

Reise um die Welt in einem Tag

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Reise um die Welt in einem Tag

EINE Reise um die Welt in einem Tag“! Welch eine Verheißung dieser Slogan Anfang der Dreißigerjahre gewesen sein muss! Doch es war nicht etwa der Werbespruch einer Reiseagentur, sondern eine Einladung in das „Größere Frankreich“ vor den Toren von Paris, zum Besuch der internationalen Kolonialausstellung von Vincennes! 1931 war für die Franzosen das Jahr des Kolonialismus par excellence, Apotheose und Höhepunkt einer Republik, die damals nach dem Britischen Empire das zweitgrößte Weltreich war.

Millionen von Franzosen ließen sich seinerzeit von der Atmosphäre der größten Kolonialausstellung begeistern, doch das selektive Gedächtnis der französischen (Kolonial-)Geschichte hat das Ereignis in Vergessenheit geraten lassen. Die Weltausstellung 1900 und der Erste Weltkrieg 1914, die Befreiung 1944 und der Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 – all das sind Ereignisse und Orte, die sich in unsere Geschichte eingeschrieben haben. Doch trotz der vierunddreißig Millionen Eintrittskarten, die in knapp sechs Monaten verkauft wurden, redet niemand davon. Dabei markierte die internationale Kolonialausstellung (und Ausstellung der Überseeländer) einen Höhepunkt der imperialen Propaganda.

Es war in der Tat ein gigantisches Projekt: Die Metro-Linie 8 wurde eigens zu diesem Zweck verlängert, bei der Porte Dorée wurde das Museum der Kolonien errichtet, der Tempel von Angkor Wat wurde maßstabsgetreu nachgebaut (55 Meter hoch auf einem Gelände von über 5 000 Quadratmeter), außerdem wurde die Moschee von Djenné errichtet, für jede vertretene Kolonie und jedes eingeladene Land wurde ein Pavillon gebaut, und in einem eigens konzipierten Tiergarten wurden Tiere aus den fernen Regionen versammelt.

Dass Staatspräsident Gaston Doumergue und sein Minister für die Kolonien, Paul Reynaud, der Eröffnung beiwohnten, unterstrich die Bedeutung des Unternehmens. In den einzelnen „Avenuen“ der Ausstellung ergötzten die „Eingeborenen“ die Besucher mit diversen Schauspielen, und ein nicht abreißender Strom von Schaulustigen drängte in die Rue de Djenné zu den 1 500 rekrutierten Afrikanern. Tagsüber und abends entführten großartig inszenierte Spektakel die Zuschauer in den nachgebauten Hof von Behanzin, zu den rituellen Prozessionen aus Annam oder in den Zauber südlicher Nächte. Das Publikum konnte sich in Kleinzügen über das Gelände bewegen, den Daumesnil-See mit den verschiedenen Beförderungsmitteln der „Eingeborenen“ überqueren oder sich bei exotischen Gerichten an Kamelrennen ergötzen. Allen Sinnen wurde etwas geboten.

Dank der Kolonialpropaganda wurde die Ausstellung ein riesiger Erfolg. Doch der erste große Vergnügungspark Europas stand nur sechs Monate: Im November 1931 wurde die im Mai eröffnete Ausstellung bereits geschlossen und die Kulissen abgebaut. Neben dem spektakulären wie spekulativen Charakter hatte das Ganze vor allem didaktische Motive: Die Franzosen sollten ihr Kolonialreich kennen und lieben lernen. Entsprechend bot die Ausstellung von 1931 eine Synthese der französischen Kolonialleistungen; im Verhältnis zu den anderen auf der Ausstellung vertretenen Nationen stachen die Franzosen heraus: durch ihren „Geist“ wie ihre „zivilisatorische Mission“.

Dieser Mission der Republik gegenüber den kolonialisierten Völkern war in der architektonischen Konzeption der Ausstellung allgegenwärtig und wurde unterstrichen durch die ebenso didaktisch konzipierten Ausstellungen in der „Cité des Informations“ und im Kolonialmuseum; die Darstellung des kolonialen „Wirkens“ folgte dabei dem üblichen Bild: „Aus der Dunkelheit (der Vergangenheit) in das Licht (von morgen).“ Überall waren die Großtaten aus Übersee präsent – neben Tabellen, die den Fortschritt belegen sollten, sah man Fotoaufnahmen von Brücken, Straßen und Verwaltungsgebäuden ebenso wie von Schulen und Krankenhäusern. Unterschlagen wurde, dass diese Errungenschaften nur einem verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung in den Kolonien zugute kamen. Vielmehr sollte sich der Eindruck aufdrängen, dass die „Aufklärung“ der westlichen Zivilisation und der französischen Republik sich im gesamten Imperium ausbreitete.

Vermittelt wurde auf diese Weise eine Vision des „Größeren Frankreichs“, verheißen wurde die Assimilation der „eingeborenen“ Kulturen ins Innere der französischen. Ist das etwa ein Indiz für einen „Rassen“-Konsens – Gleichheit für alle, auch für die von der Republik kolonisierten Völker? Die Inszenierung der kolonialen Welt entfaltete ihre Pracht unter dem Zeichen eines doppelten, ja zweideutigen Diskurses. An der Oberfläche wurde ein Interesse für fremde Kulturen demonstriert, die in Wirklichkeit längst dazu verurteilt waren, den Errungenschaften der Moderne zum Opfer zu fallen. Hinter der demonstrierten Anerkennung kultureller Differenzen war die Hierarchie der Rassen deutlich erkennbar.

Marschall Lyautey hatte zwar die Ausstellung von Frauen mit Lippenpflock untersagt, man konnte jedoch „kanakische Kannibalen“ sowie unterschiedliche koloniale Bevölkerungs-„Typen“ bestaunen. Es handelte sich also nicht so sehr um eine Reise um die Welt, sondern auch um ein Panorama der „Rassen“ des französischen Imperiums, vor allem aber um den schlagenden Beweis, dass man sie französischer Kontrolle unterstellt und „friedliche“ Menschen aus ihnen gemacht hat. Die beiden Ausstellungsplakate zeigten die Vertreter der zwei Welten – die der „Eingeborenen“ (Chinese mit Hut, Araber mit Wüstentuch, Rothaut mit langem Haar und Knochenkette, Afrikaner mit Goldkettchen) und die des Kolonialherren (mit Tropenhelm). Eine unmissverständliche Botschaft!

Erstaunlicherweise wurde die Ausstellung von der extremen Rechten bis zur Linken einhellig begrüßt, begleitet von einer enthusiastischen Presse, die täglich ausführlich über die Schau von Vincennes berichtete. Interessenkonflikte und ideologische Differenzen verblassten angesichts der Idee, einem höherem Interesse zu dienen. Denn die koloniale Ideologie, die hier als Spektakel inszeniert wurde, war fest in den Wertvorstellungen der III. Republik verwurzelt und besaß konsensbildende Kraft. Sie verkörperte perfekt die herrschenden politischen Werte und die Überzeugungen der Mehrheit, und dies erklärt auch, weshalb die Proteste kaum auf Resonanz stießen.

Weder die Demonstrationen von Studenten aus Indochina noch die Aufkleber, die sie in Paris verteilten, vermochten die öffentliche Meinung aufzurütteln. Der Aufruf der Surrealisten „Besuchen Sie die Kolonialausstellung nicht“1 blieb ebenso eine Einzelaktion wie die Gegenausstellung „Die Wahrheit über die Kolonien“, die von der CGTU und einigen Surrealisten veranstaltet wurde, oder das Flugblatt der kommunistischen Partei: „Gegen die kolonialistische Ausstellung von Vincennes! Für die Unabhängigkeit der Kolonien!“ Es war ein ungleicher Kampf: Auf der einen Seite ein von Staat und Medien orchestriertes Programm, auf der anderen Seite Flugblätter von geringer Auflage und eine Gegenausstellung, die ganze 5 000 Besucher mobilisierte.

Léon Blum verwies in seinem Leitartikel im Populaire vom 7. Mai 1931 auf die Grenzen dieser Selbstfeier und verwies auf die dahinter stehende Wirklichkeit, dass auf „der ganzen Welt die eroberten oder unterjochten Völker ihre Freiheit einzufordern beginnen“. Und Louis Aragon stellte in seinem Gedicht „Es regnet auf die Weltausstellung“ das koloniale Brimborium auf den Kopf, indem er vom „Nasenring der dritten Republik“ sprach.

Die Ausstellung vermittelte den Franzosen ein Gefühl der Überlegenheit sowie eines Besitzanspruchs auf die eroberten Gebiete und ihre Bewohner. Über die Selbstbeweihräucherung hinaus definierte die Ausstellung die französische Identität als Fähigkeit, die ihr unterstellten Völker zu zivilisieren und zu assimilieren. Die Ausstellung versinnbildlichte einen nationalen (und rassistischen) „Geist“, eine republikanische Mission; und auch: ein gemeinsames Schicksal. Zwischen dem kommunistischen Modell und dem sich abzeichnenden faschistischen Menschenbild kreiert sich die französische Republik ihr eigenes, an die koloniale Glanzzeit angelehntes Heldenepos vom „weißen Mann“ als Zivilisationsträger.

Von diesem Abweg möchte das heutige Frankreich nichts wissen. Die Kolonialausstellung, die damals gemeinschaftsstiftend wirkte, ist heute ein vergessener, weil verdrängter Erinnerungsort. Die gegenwärtigen Überlegungen über ein zukünftiges Integrationsmodell finden hier unbestreitbar eine Resonanz, der es sich eines Tages zu stellen gilt. Eine Kolonialmacht (gewesen) zu sein und gleichzeitig die Gleichheit aller Menschen zu propagieren ist zweifellos eine schwere Last.

Ein zweiter großer einheitsstiftender Augenblick in diesem Jahrhundert, der Sieg der französischen Fußballmannschaft – die als „gemischt“, „farbig“, „multiethnisch“, „kosmopolitisch“ oder auch „universell“ bezeichnet wurde –, steht seit kurzem als Symbol für ein „republikanisches Integrationsmodell“.2 Zugleich war die WM-Eröffnungszeremonie, bei der vier riesige Polyesterfiguren (Ho, der Gelbe, Pablo, die Rothaut, Roméo, der Weiße, und Moussa, der Schwarze) durch die Straßen getragen wurden, zweifelsohne die größte rassistische Show in Paris seit der Kolonialausstellung von 1931.

Die Rückbesinnung auf Hautfarbe und Rasse – wie gut gemeint auch immer – ethnisiert die Diskussion und schreibt einmal mehr die westliche Zweiteilung des Anderssein fest: auf der einen Seite der Weiße als Führer, auf der anderen Seite die Farbigen. Ein Nachdenken über die Ähnlichkeit der beiden historischen Momente – Weltausstellung und Weltmeisterschaft – ermöglicht es uns, unsere Geschichte besser erfassen und verstehen zu können.

dt. Andrea Marenzeller

* Vertreter der „Association connaissance de l'histoire de l’Afrique contemporaine“ (Achac [bdm@easynet.fr]). Autoren mehrerer Studien über die Frage der kolonialen Repräsentation.

Fußnoten: 1 Der Text wurde von André Breton, Paul Éluard, Louis Aragon, Yves Tanguy und René Char unterzeichnet. Sie bezeichnen die Ausstellung darin als Hochstapelei, fordern den Rückzug aus den Kolonien und erinnern an die Ereignisse in Indochina. 2 Vgl. den Artikel „United Colors of France qui gagne“ von Esmeralda in der Zeitschrift Quasimodo (Frühjahr 2000), der sich detailliert mit dem Diskurs befasst, der den Sieg der französischen Mannschaft begleitete. Da das Thema in Frankreich heute als Tabu gilt, hat der Verfasser ein Pseudonym gewählt.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von S. LEMAIRE und P. BLANCHARD / N. BANCEL