16.02.2001

Das Prinzip Mabuse

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Das Prinzip Mabuse

Von PHILIPPE DUBOIS *

DER Filmgigant Fritz Lang hat Konjunktur: Die Retrospektive der diesjährigen 51. Berlinale ist ihm gewidmet. Und auch in Frankreich kommt sein 1922 entstandenes Meisterwerk „Dr. Mabuse, der Spieler“ erstmals in der vollständig wiederhergestellten, fünfstündigen Originalfassung zur Aufführung – einschließlich der von Michael Obst kongenial komponierten Stummfilmmusik, die vom Ensemble InterContemporain einstudiert worden ist. Lang war ein Visionär der Moderne: sein „Spieler“ ist ein Börsenmakler, der mit seinen hypnotischen Fähigkeiten spielt und manipuliert und auf den die andern hören, wenn er die Devise „Kaufen!“ oder „Verkaufen!“ ausgibt.

Die drei Mabuse-Filme, die Fritz Lang (1890-1976) im Laufe seiner Karriere gedreht hat, markieren seine Entwicklung als Regisseur. Am Anfang steht das Dyptichon „Dr. Mabuse“ von 1922 (Teil eins „Der große Spieler“, Teil zwei „Inferno“), am Ende „Die tausend Augen des Dr. Mabuse“ (1960), gleichzeitig sein letzter Film. Dazwischen liegt die faszinierende Arbeit „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933).

Diese drei Meisterwerke, die in einem Zeitraum von 40 Jahren entstanden sind, lassen sich – weit auseinander gezogen – als eine Geschichte lesen. Sie zeigen die Figur des Mabuse in einer Expansions- und Migrationsbewegung, eine Metapher, ein Virus, das seinen Wirtskörper verlässt, um ein anderes Feld zu erobern. Das Prinzip der Expansion findet sich nicht nur in diesen drei zentralen Werken, sondern auch in den meisten Filmen, die Fritz Lang zwischen 1920 und 1933 gedreht hat. Überdies charakterisiert es eine ganz bestimmte Richtung des deutschen Films, die lange vor der Machtergreifung Hitlers und auch danach noch präsent war.

Natürlich ist der Film ein „Reißer“, doch der zugleich wahnsinnige und realitätsbesessene Dr. Mabuse ist auch eine Figur, die sich vor dem sozialen Hintergrund einer Epoche und eines Landes ausgeformt hat – der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, während der Weimarer Republik. Das verbindet seine Arbeit mit anderen Filmen jener Zeit. Nicht so sehr mit expressionistischen Werken, wie den Filmen Murnaus oder dem „Kabinett des Dr. Caligari“ (1919, von Robert Wiene), als vielmehr mit den realistischen Filmen von Georg Wilhelm Pabst („Abwege“, 1928), „Die Dreigroschenoper“ (1931) und „Tagebuch einer Verlorenen“ (1930). Hier seien auch genannt:„Menschen am Sonntag“ (1929), eine Gemeinschaftsarbeit von Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Fred Zinnemann, „Geschlecht in Fesseln“ (1928) von William Dieterle, ein zu wenig beachteter Film, der sich mit dem Gefängnis und seinen Auswirkungen auf den menschlichen Körper befasst, oder auch „Berlin Alexanderplatz“ (1931), ein beeindruckendes Werk von Phil Jutzi.

Die deutschen Emigranten, die vor den Nazis nach Hollywood geflohen waren, waren von dieser Zeit tief geprägt, und in ihren amerikanischen Filmen wird sie immer wieder heraufbeschworen. Auch in den Arbeiten Fritz Langs hat sie ihre Spuren hinterlassen, vor allem in seinen gegen die Nazis gerichteten Filmen wie „Man Hunt / Menschenjagd“ (1941), „Ministry of Fear / Ministerium der Angst“ (1944) und „Hangmen / Auch Henker sterben“ – 1942 in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht realisiert. Auch in bestimmten amerikanischen Produktionen von Curt Siodmak, George Ulmer, Billy Wilder, Otto Preminger, Fred Zinneman und anderen klingt diese Zeit an.

In diesen Werken, ob Stumm- oder Tonfilm, ob deutsche oder amerikanische Produktion, kommt eine Figur immer wieder vor: die des größenwahnsinnigen Menschen. Und exemplarisch ruft Dr. Mabuse aus: „Nun wird die Welt erfahren, wer ich bin. Ein Gigant, der weder Gott noch Gesetz achtet.“ Dabei geht es auch um die sozialen und ideologischen Folgen. Der Name Mabuse steht für eine Kraft, die allgegenwärtig ist – in den Menschen, in den Filmen, in den Gesellschaften. Eine entsetzliche Kraft, die in der Weimarer Republik erstmals ihren geschichtlichen Ausdruck fand: Chaos und Terror. Eine Kraft, die in der weiteren Geschichte Deutschlands andere, weit tragischere Formen annahm. Diese Kraft findet sich heute wieder in dem Medienwahnsinn einer Gesellschaft, die alles im Blick haben will.

Mabuse ist ja nicht nur eine Figur – ein berühmter Arzt, ursprünglich Doktor der Psychopathologie –1 , er steht nicht nur für eine bestimmte Motivtradition (das „Genie des Bösen“), sondern Mabuse ist zunächst einmal ein Wort, so transparent wie undurchsichtig, ein Prinzip, etwas Abstraktes. Ein Konzept. Ein absolutes Konzept, das einerseits den Willen zur Macht jenseits von Gut und Böse verkörpert, und andererseits ein entsetzlich konkretes, materialistisches Konzept. Ein Konzept, das einem ganz bestimmten soziohistorischen Zusammenhang angehört. Denn Mabuse ist ein deutsches Phänomen, denkbar nur als eine deutsche Figur.

Als Verkörperung einer immateriellen Kraft, die in jedem von uns wirkt, kann Mabuse jede Gestalt annehmen. Er steht für eine unpersönliche Kraft, die auf allen sozialen Ebenen operiert, in jeder Gesellschaft, die diese Kraft aufgrund einer Reihe von Umständen wahrscheinlich werden lässt. So zum Beispiel in Deutschland, dem zerrütteten Deutschland zu Beginn der Weimarer Republik, dem Deutschland des jungen Fritz Lang (er war 32 Jahre alt, als er den ersten Mabuse-Film drehte). Dem Land, das der aus Wien stammende Regisseur von 1919 bis 1933 bereiste und beobachtete, unter einer Perspektive, die dem Blick seines Landsmanns Sigmund Freud nicht unähnlich war.

Lotte Eisner berichtet, dass Fritz Lang von einer heute verschollenen Eröffnungssequenz in „Dr. Mabuse, der Spieler“, erzählt habe, die aus einer Montage von Bildern des Zeitgeschehens bestand: „Der Spartakistenaufstand, die Ermordung Rathenaus, der Kapp-Putsch und andere Bilder der Gewalt.“2 Die beiden Episoden dieses Werks trugen denn auch die Untertitel „Ein Bild der Zeit“ und „Ein Spiel von Menschen unserer Zeit“.

Diesen tragischen zeitgenössischen Szenen sollte, so Lang, der Zwischentitel „Wer steckt hinter alledem?“ folgen und darauf ein weiterer, mit den immer fetter gedruckten Buchstaben des Wortes „Ich“. Von diesem sich vergrößernden „Ich“ wurde man dann in die erste Filmszene geleitet, in der Dr. Mabuse ein Blatt Spielkarten in der Hand hält, die menschliche Gesichter zeigen. Was Langs Mabuse damals so glänzend vorführte, war nicht nur das Bild einer Welt im Verfall (die von Sergej Eisenstein montierte russische Fassung des Films trug den Titel „Der Goldglanz des Verfalls“). Er zeigte auch, dass das Kino selbst, bis in seine Form hinein, einem sozialen und politischen Akt gleichkommt: Weniger ein Reflex als vielmehr ein Faktor, weniger ein widerspiegelndes Werk als ein aktives Konzept, weniger ein Abbild als eine Form, die denkt.

Im Verleihkatalog von 1922 heißt es über „Dr. Mabuse der Spieler“: „Die Welt, die dieser Film zeigt, ist die Welt, in der wir alle leben: konzentriert, mit vergrößerten Details, in einer Verdichtung des Ganzen. Alles, was geschieht, ist inspiriert vom Fieberhauch jener Jahre zwischen Krise und Gesundung, der Jahre des halbwachen Taumelns am Rande des Abgrunds, auf der Suche nach einer Brücke. Dieser Dr. Mabuse, ,der Spieler‘, war 1910 nicht möglich, und er wird vielleicht – man möchte sagen ,hoffentlich‘ – 1930 nicht mehr möglich sein. Doch für die Zwanzigerjahre ist er ein überlebensgroßes Abbild, fast ein Archetypus, und ganz gewiss ein Symptom.“

Man weiß, was aus den enttäuschten Hoffnungen „jener Jahre des halbwachen Taumelns“ geworden ist, die dann doch im Albtraum versanken: Die Dreißigerjahre brachten keine Gesundung, sondern Verschlimmerung, und endeten in den düstersten Abgründen der Naziherrschaft. Es brauchte etwas über zehn Jahre, bis sich dieser Wandel in Langs zweitem Mabuse-Film (1933) niederschlagen konnte. Mabuse (der Spieler, der Stumme, der Körper) ist tot und begraben, doch seine infektiöse Kraft ist nicht mehr an einen Körper gebunden und hat nun von einer vor Machtgier trunkenen Gesellschaft Besitz ergriffen. Der Schrecken ist absolut geworden. Jetzt handelt es sich nicht mehr nur um ein Symptom, sondern durchaus um einen Archetypus. Es ist nun nicht mehr nur das Chaos, es ist das blanke Nichts, das sich hier zeigt. Als Fritz Lang aus dem Deutschland Hitlers flieht, flieht er genau vor diesem Nichts, vor diesem Archetypus des absoluten Schreckens.

Zweifellos hat Lang deshalb während seiner gesamten „amerikanischen Periode“ die Figur des Mabuse nicht (jedenfalls nicht offen) verwendet. Nicht, dass die Figur nicht mehr präsent wäre, doch sie scheint keinen wirklichen Ort im amerikanischen Film zu haben. In Hollywood ist eine direkte Aussage nicht möglich. Eine zutreffende Feststellung, obwohl Lang schon 1941 in der berühmten Anfangssequenz von „Menschenjagd“ Hitler genau im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigt – einer der besten Schützen der Welt hält das Gewehr, er braucht nur noch abzudrücken. Doch bekanntlich kommt es zu einer Art Fehlleistung, das Gewehr ist nicht geladen, ein neuer Versuch – zu spät, um den Lauf der Geschichte zu verändern.

In den Hollywood-Filmen von Fritz Lang tauchen immer wieder Figuren auf, die entfernt an Mabuse erinnern, vor allem Verbrecher, die in ihren sozialen Verflechtungen gezeigt werden: Es gibt das individuelle Verbrechen mit seinen pathologischen Tätern und mit allem, was man sich in diesem Zusammenhang an Pseudo-Erklärungen augenzwinkernd von der Psychoanalyse ausleihen kann, so etwa in „The Woman in the Window / Gefährliche Begegnung“, „Secret Beyond the Door / Geheimnis hinter der Tür“; und es gibt das organisierte Verbrechen, die Mafia („The Big Heat / Heißes Eisen“) oder das gesellschaftliche, die Lynchjustiz des Mobs („Fury / Blinde Wut“), die Todesstrafe als Verbrechen der Justiz („Beyond a Reasonable Doubt / Jenseits allen Zweifels“) und das Verbrechen mit Hilfe journalistischer Manipulation („While the City Sleeps / Die Bestie“). Aber diese Darstellungen sind nur ein schwacher Widerhall – niemals erscheint der Terror als absolut, als Wille zur Macht. Es handelt sich lediglich um Funktionsstörungen, die politisch oder sozial zu bewältigen sind.

Erst nachdem er Ende der Fünfzigerjahre nach Deutschland zurückgekehrt war, befasste sich Lang wieder mit dem Thema Mabuse. Die Wahl ist ihm nicht leicht gefallen. Einige Vorschläge seines Produzenten Artur Brauner hatte Lang abgelehnt, insbesondere das Projekt, ein Remake der „Nibelungen“ zu drehen. Die Mabuse-Figur rückte erst wieder in den Vordergrund, als Lang davon hörte, dass die Nationalsozialisten vorgehabt hatten, in Berlin ein Hotel für offizielle ausländische Gäste des Deutschen Reichs einzurichten, das bis in den letzten Winkel mit versteckten Mikrofonen und Überwachungskameras ausgerüstet sein sollte.

Fritz Langs Rückkehr nach Deutschland fand mitten im Kalten Krieg statt. In den USA, wo der Regisseur zwanzig Jahre lang Filme gedreht hatte, war die technologische Entwicklung deutlich mit der atomaren Bedrohung assoziiert. Im letzten Mabuse-Film, gleichzeitig Langs letzter Film überhaupt, ist Mabuse selbst zu einer subtilen Form von Technologie geworden – einmal mehr ein Konzept. Langs Grundidee, Mabuse als „Ausdruck einer Epoche“ zu zeigen, wird abermals deutlich: Diesmal sind die atomare Zerstörung und die Superwaffe die Sinnbilder des Schreckens, des Chaos und des Nichts.

Heute erscheint dieser letzte Mabuse, mit Fernüberwachung und Atomwaffe, in seiner klassischen Inszenierung wie eine erstaunlich weitsichtige Vorausschau auf etwas, das sich inzwischen heimtückisch über die ganze Welt verbreitet hat. Man könnte an eine Vorstudie zu Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ denken, nur ausgeweitet auf allgemeine soziale Zusammenhänge. Es handelt sich um die Vorahnung einer Welt, in der die Frage, wer die Macht und die Kontrolle hat, nicht mehr von der Drohung mit dem atomaren Potenzial abhängt, sondern von der Verfügung über die Verbreitungsmechanismen einer allgegenwärtigen Medientechnologie, die Grundlage einer letztlich totalitären wirtschaftlichen und ideologischen Macht bilden.

Hervorgegangen aus den Wirren am Beginn der Weimarer Republik, eng verbunden mit den Vorahnungen der Naziherrschaft, und schließlich eingeschrieben in den Kalten Krieg, könnte Dr. Mabuse, der negative Held des 20. Jahrhunderts, ohne weiteres neue Großtaten in der Ära des Internet, der planetarischen Vernetzung und einer bedrohlichen wirtschaftlichen Globalisierung vollbringen. Es gehört durchaus zu den Vorzügen dieser von Fritz Lang erdachten Figur, dass sie als Virus, als virtuelle Realität fortlebt. Und damit als aufschlussreiches Zeichen.

dt. Edgar Peinelt

* Filmhistoriker. Lehrt an der Universität Paris-III – Sorbonne nouvelle. Herausgeber eines in Kürze erscheinenden Sammelbands mit Arbeiten über Fritz Lang: „Fritz Lang. Nouvelles approches“, Paris, (De Boeck-Université).

Fußnoten: 1 Fritz Lang hat sich schon früh und eingehend mit den Arbeiten Sigmund Freuds beschäftigt. Sein Mabuse ist ein Meister der gedanklichen und psychischen Beeinflussung. 2 Lotte Eisner, „Fritz Lang“, Cahiers du Cinéma /Cinémathèque française, Paris 1984.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von PHILIPPE DUBOIS