16.02.2001

Video-Boom in Nigeria

zurück

Video-Boom in Nigeria

Von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT *

NOCH immer ist Nigeria ein zerrissenes Land: Der Verteilungskampf um die Gewinne aus der Ölförderung spaltet die Gesellschaft. Angesichts blutiger, religiös motivierter Revolten im Norden und der Ausbreitung privater Milizen im Süden hat die Regierung große Mühe, ihre Autorität in dem Riesenland durchzusetzen. Aber inmitten der sozialen Krise entwickeln einige Bereiche eine erstaunliche Dynamik, so etwa die Produktion von einheimischen Filmen, die als Videokopien vermarktet werden und den importierten Heimvideo-Schmonzetten den Rang abgelaufen haben.

Amaka Igwe ist begeistert: „Das Potenzial ist fantastisch“, ruft sie aus, „in Nigeria gibt es heute 45 Millionen Videorecorder. Von zehn Schwarzafrikanern sind vier Nigerianer. Wir könnten das Indien Afrikas sein. Wir sind fast so etwas wie Hongkong in der Zeit, als die Amerikaner noch nichts von John Woo oder Jackie Chan gehört hatten!“ Amaka Igwe, die Chefin der Filmfirma Moving Pictures, hat selbst drei Videofilme gedreht, von denen über 100 000 Kopien verkauft wurden.

Seit zehn Jahren werden in Nigeria (36 Bundesstaaten, 120 Millionen Einwohner) Filme produziert und vertrieben, die speziell auf den Videomarkt zugeschnitten sind. Dieser hauptsächlich auf den heimischen Bedarf ausgerichtete Markt expandiert ständig und ist mittlerweile der größte im subsaharischen Afrika. Schon bei den Zahlen würde einem europäischen Programmdirektor schwindelig werden: Seit 1997 wurden insgesamt 1 080 Videoproduktionen vertrieben, so die Angaben des Nigerian Censor Board, das die Videoproduktionen sichtet, bevor sie auf den heimischen Markt kommen. Von einem erfolgreichen Film lassen sich mindestens 300 000 Kopien absetzen, und selbst die bescheidenste dieser Produktionen, die meist in Pidgin, Ibo, Yoruba oder Haussa – den wichtigsten Sprachen der 250 Ethnien Nigerias – gedreht und englisch untertitelt werden, verkauft noch an die 30 000 Exemplare. Entscheidend für solche Erfolge sind eifriges Plakatieren, gute Beziehungen zu den Fernsehanstalten und die durchschlagende Wirkung der Mundpropaganda. Kurz gesagt steht Nigeria gerade im Begriff, seine Meister aus Hollywood und Hongkong einzuholen.

Angefangen hat alles gegen Ende der Achtzigerjahre. Der Aufschwung des nigerianischen Kinos und seiner internationalen Koproduktionen – Filme wie„Kongi’s Harvest“ oder „Black Freedom“, die mit Hilfe brasilianischer oder afrikanischer Partner realisiert wurden – brach mit dem Ende des Erdölbooms ab. Vor dem Hintergrund des Golfkrieges begann sich das Land unter der Herrschaft von General Ibrahim Babangida von der Welt abzuschotten.1 „Damals geriet unsere Außenhandelsbilanz erstmals aus dem Gleichgewicht“, erzählt der Schauspieler Albert Egbe, der das goldene Zeitalter des nigerianischen Films und die große Epoche des nationalen Theaters noch miterlebt hat. „Es wurde zu kostspielig, Filme im Zelluloidformat zu produzieren. Und dann, unter der Militärdiktatur, gingen immer mehr Filmemacher und Schauspieler ins Ausland, um ihr Glück in London oder New York zu versuchen. Die jüngeren, die es zu etwas bringen wollten, hatten also nur eine Möglichkeit: Sie mussten im Videosektor arbeiten.“ Heute leitet Albert die Kurse der „Independent Television Producers Association Of Nigeria“ (Itspan), in denen Anfänger und Fortgeschrittene sich mit der „spontanen Entstehung des Bildes“ auseinandersetzen. Die meisten Macher von Homevideos hatten nämlich, bevor sie dieses Medium entdeckten, noch nie eine Kamera in der Hand gehalten.

Die chronische Unsicherheit, die in den großen Metropolen Südnigerias – vor allem in Lagos – abends auf den Straßen herrscht, hat die Entwicklung dieses Marktes begünstigt. Mit der Zeit wurden immer mehr Kinosäle in Kirchen oder Sektenräume umgewandelt. „Der Nigerianer“ meinte Egbe, „ist ein begeisterter Konsument der lokalen Kultur: Straßentheater und Oral history haben bei uns eine lange Tradition. Und das Fernsehen ist hier noch nicht allgemein zugänglich. Und wenn es dann plötzlich noch Videorecorder gibt, haben Sie alle Elemente beisammen, die eine solche Videomanie auslösen können! Man brauchte nur abzuwarten.“

1995 wurde, unter der Diktatur von General Sani Abacha, eine Ibo-Produktion zum großen Publikumsrenner: „Living In Bondage“. Auf diese Geschichte eines Mannes, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, um reich zu werden, fuhren die Bewohner der Ghettos und der endlosen Vorstädte völlig ab. Zu dieser Zeit boomte auch der Markt für Horrorvideos. Am laufenden Meter wurden Geschichten von unheilvollen Sekten, Zaubereien und schwarzer Magie verfilmt, die auf alltägliche Begebenheiten oder Fälle von Hexerei zurückgreifen, wie sie in den Massenblättern stehen: ein schrumpfender Penis, in Hunde verwandelte Kinder, Schüler als Menschenopfer . . . Damit entwickelte sich ein neues Genre, das mit am Computer entworfenen Spezialeffekten zwischen Bühnenverfilmung und Billigstserie angesiedelt ist. Das so genannte Juju-Video (Juju = Magie auf Yoruba) orientiert sich am Vorbild mexikanischer Horrorfilme, italienischer giallos oder indonesischer gore und ist mit Elementen der brasilianischen Telenovela“ angereichert.

Innerhalb kürzester Zeit entstand ein organisatorischer Verbund von Produzenten, Schauspielern, Filmemachern, Kassettenverleihern, Zeitungen, Kritikern, Filmvorführern, Raubkopierern. An der Spitze der Pyramide: die so genannten marketers (Schieber). Diese marketers sind Verleiher – und häufig Produktionsmanager –, die sich um den Weiterverkauf der Kassetten kümmern. Sie sitzen in den Schlüsselpositionen einer ökonomischen Struktur, „die auf der Straße und für die Straße entstanden ist“. Ohne das Netzwerk der Wiederverkäufer der Ibo, die seit dreißig Jahren von Kano (im Norden) bis Lagos (am Golf von Guinea) die wichtigsten kommerziellen Zentren des Landes dominieren, hätten die Videobänder kaum ihre Abnehmer gefunden. Auch kursiert das Gerücht, die marketers hätten sich für den Absatz der Videoproduktionen vor allem deshalb interessiert, weil sie – auf der Suche nach einer neuen Goldgrube – in den Handel mit Leerkassetten aus Südostasien einsteigen wollten. Damit hatten sie sich die Möglichkeit erschlossen, ihre Bestände an Videobändern gleich zweifach zu amortisieren. Zur Hochburg dieser Videoproduktion avancierte Onitsha, das traditionelle Wirtschaftszentrum der Ibo. Die Stadt war schon in den Siebzigerjahren Dreh- und Angelpunkt der landesweit exportierten Populärliteratur gewesen, die letzten Endes ja nichts anderes ist „als eine abgewandelte Form des Geschichtenerzählens“ – mit der sich außerdem noch Geld machen lässt.

Ein Produkt von kurzer Lebensdauer

IN Nigeria begnügt man sich so wenig wie anderswo mit kleinen Profiten. Die Devise lautet kaufen und verkaufen, und zwar so schnell wie möglich. Gedreht wird in Rekordzeit, unter anarchischen und oft riskanten Bedingungen, aber zugleich mit ungeheurer Energie und einem schier unerschöpflichen Reservoir an Ideen. Die Filme werden oft in einer Woche mit einer gemieteten Betacam abgedreht und mit Schauspielern besetzt, die erst dann zu ihren Gagen kommen, wenn sich der Streifen als Erfolg erwiesen hat. In ebenso kurzer Zeit werden die Videos an ebenfalls gemieteten Schneidetischen montiert. Ein solches Produkt hat nur eine sehr kurze Lebensdauer. Innerhalb von drei Monaten muss der Film die Investitionskosten für den Produzenten eingespielt haben.

„Wir sind keine Romantiker. Viele Nigerianer haben sich nur aus einem einzigen Grund ins Videogeschäft gestürzt: um Geld zu verdienen. Aber diese Mentalität beginnt sich zu ändern“, meint Steve Ayorinde, Kulturredakteur der Tageszeitung The Comet. Die Zeitung ist die neueste Erscheinung auf dem nigerianischen Pressemarkt, die wöchentlich zwei Seiten mit Videonachrichten bringt. Nach seiner Einschätzung ist eine Industrie „ohne Regulierung, ohne Berufsgenossenschaft oder ein Netzwerk von Verleihern und ohne staatliche Unterstützung“ entstanden. Und auch ohne kulturellen Background: „Die Techniker, Schauspieler oder Filmemacher, die eine Schulbildung und dazu auch noch eine Ahnung vom Kino haben, können Sie an fünf Fingern abzählen. Aber so verdient man hier eben sein Geld: Man springt einfach ins kalte Wasser.“

Und den Sprung riskieren heute viele. In der noch kaum gefestigten Demokratie unter Präsident Olusegun Obasanjo2 erlebt das Heimvideo so etwas wie seine Pubertätskrise. Zum Publikum der Vorstädte ist eine mittelständische Klientel hinzu gekommen, die sich für alle Arten von Filmen begeistert: für Liebesfilme, für die von religiösen Sekten finanzierten und leicht verdaulichen Unterhaltungsfilme, oder neuerdings auch für die blutrünstigen Abenteuer der Milizen – der „Vigilante“ –, die im Süden aufgetaucht sind. Hauswände und Straßenbrücken dienen häufig als illegale Reklameflächen für Plakate, die neue Titel mit direktem, eindeutigem Bezug zur Tagesaktualität anpreisen: „Bakassi Boys“, „Baka Boys“, „Jungle Justice“ verweisen auf die Miliz des Oodua People’s Congress (OPC) in Lagos, die auf Schnelljustiz spezialisiert ist, und auf die Bakassy Boys aus Onitsha, die in der Hauptstadt der Ibo für Ordnung sorgen.

Tatsächlich ist die Produktion von Homevideos dabei, in einen fatalen Teufelskreis zu geraten. „Viele Leute haben sich ins Videogeschäft gestürzt, einfach nur um Geld zu machen, und das hat den Markt in eine Krise gestürzt“, meint die Produzentin und Filmemacherin Amaka Igwe über die aktuelle Situation. Resultat: Die Produzenten fahren die Herstellungskosten drastisch herunter. Wurden Videos früher mit einem Budget von 3 Millionen Nairas (etwa 70 000 DM) produziert, so müssen sie heute oft mit der Hälfte auskommen. Und das geht natürlich auf Kosten der Qualität. Immer häufiger kommt es so zu Filmproduktionen, die nicht mehr montiert sind und bei denen die Dialoge im Dröhnen des Generators untergehen, der die Ausfälle der staatlichen Stromversorgungsbetriebe kompensieren muss. Die Gagen der Stars wurden von 700 000 auf 300 000 Nairas zusammengestrichen. Die Diagnose von Amaka Igwe lautet, dass diese Krise dazu beitragen werde, „die Spreu vom Weizen zu trennen, die wahren Werte der Zukunft zu finden und ein Gleichgewicht zwischen Kunst und Profit herzustellen. Denn beides ist notwendiger denn je: sowohl Inhalt als auch Cash“.

Als Spiegel der Gesellschaft reflektiert das nigerianische Video leider auch die Brüche und Widersprüche des Landes, das bekanntlich Afrikas größter Erdölproduzent ist. „Ein Ibo-Regisseur wollte einen Film über Odudua, die Urgottheit der Yoruba, drehen“, erinnert sich Albert Egbe. „Die Yoruba-Aktivisten vom OPC drohten mit Schwierigkeiten, falls ein Ibo die Rolle spielen würde. Daraufhin blieb das Filmprojekt in der Schublade.“

„Das Video muss die Grenzen aufbrechen, die es noch in unseren Köpfen gibt“, sagt demgegenüber Balaraba Ramat Yakubu, die Drehbuchautorin des Films „Sai A Lahira“, der mit dem Arewa Film Award 2000 (eine Art Oscar für Haussa-Produktionen) ausgezeichnet wurde. Der Werdegang der heutigen Videofilmproduzentin macht deutlich, welchen kulturellen Pressionen besonders ambitionierte Projekte ausgesetzt sind. Yakubu, die man mit zwölf Jahren zur Heirat gezwungen hatte, wurde vor vier Jahren von ihrem Mann verstoßen, weil sich dieser nicht mit ihrem Status als „Frau in der Öffentlichkeit“ abfinden wollte. Aber sie gibt sich keineswegs geschlagen. „Ich habe nur die Grundschule besucht. Aufgrund der islamischen Prägung unserer Kultur können wir uns nicht dieselben Gewalttätigkeiten erlauben, wie man sie in den Ibo- oder Yoruba-Filmen erlebt. Außerdem kann ich mit dem Video zur Zeit noch kein Geld verdienen. Aber ich bin stolz darauf, Videofilme zu machen. So kann ich einerseits die Rechte meiner Schwestern, der Frauen, verteidigen. Und eines Tages wird – inschallah – ein Ausländer eine Kopie meiner Filme entdecken und Kontakt zu mir aufnehmen wollen. Dann werde ich mein Ziel erreicht haben – dass man Nigeria mit anderen Augen betrachtet.“

Wird sich das nigerianische Video eines Tages weltweit durchsetzen können? Wird es Themen aufnehmen, die den ganzen afrikanischen Kontinent betreffen, ja vielleicht sogar die Schwarzen insgesamt? Innerhalb der nigerianischen Diaspora in den USA (etwa drei Millionen Menschen) hat es jedenfalls schon einige inspiriert. Der amerikanische Rapper Master P., einer der Stars des HipHop3 , der aus dem stark von Yoruba geprägten New Orleans stammt, hat beispielsweise nach nigerianischem Vorbild seine eigenen Videos auf den Markt gebracht, die in den amerikanischen Ghettos reißenden Absatz finden. Und die Bilder aus den nigerianischen Traumfabriken beginnen auch die afrikanischen Nachbarregionen zu faszinieren – von Südafrika bis nach Ghana.

dt. Matthias Wolf

* Journalist, Cotonou.

Fußnoten: 1 Siehe Marc-Antoine Pérouse de Montclos, „Staatliche Beschaffungskriminalität“, Le Monde diplomatique, Juni 1998. 2 Siehe Joëlle Stolz, „Les multiples fractures du géant nigérian“, Manière de voir Nr. 51, „Afriques en renaissance“, Mai/Juni 2000, S. 42. 3 Siehe Jean-Christophe Servant, „Der Sound der Straße“, Le Monde diplomatique, Dezember 2000. 4 Literatur: Jonathan Haynes (Ed.), „Nigerian Video Film“, Ohio University Press, 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von JEAN-CHRISTOPHE SERVANT