16.02.2001

Kriminalisierung als Sozialpolitik

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Kriminalisierung als Sozialpolitik

Von LAURENT BONELLI *

AM 8. Januar 2000 stand in der französischen Tageszeitung Midi Libre zu lesen, dass in Nîmes die nationale Polizei und alle dezentralen staatlichen Stellen wie die Jugendanwaltschaft und die Schulaufsicht, die Abteilung Jugend und Sport, das Arbeitsamt und das Amt für Arbeit, Beschäftigung und Berufsbildung sowie der örtliche Integrationsbeauftragte ihre Karteien von 179 Jugendlichen vernetzt hatten, die als „Problemfälle“ definiert werden. Die ausgetauschten Informationen sind sehr detailliert und beziehen sich auf mögliche Betreuungsmaßnahmen, die von den Betroffenen besuchte Schulstufe, den Bezug von Sozialhilfe und das Verhalten im persönlichen Gespräch.

Diese Kartei wurde auf Verlangen des Präfekten im Rahmen einer Bürgerrechtskommission des Departements1 angelegt und erfasst Jugendliche aufgrund polizeilicher Verdachtsmomente.2 Ihr Sinn soll darin bestehen, „sehr konkret zu ermitteln, wie und warum eine gewisse Anzahl von minder- oder volljährigen Jugendlichen durch das soziale Netz gefallen ist, das sie eigentlich auffangen sollte“3 . Dem Präfekten ging es angeblich darum, „ein Arbeitsinstrumentarium für den Umgang mit Jugendlichen in sozialen, wirtschaftlichen oder beruflichen Schwierigkeiten zu entwickeln, um damit die Verwaltung zu verbessern und Lösungen für ihre Probleme finden zu können“4 . Im Zusammenhang mit diesem Datenaustausch gab es zahlreiche gemeinsame Sitzungen der beteiligten Stellen.

Der Aufruhr, den die Enthüllung des Netzwerkes auslöste, hat dieser Episode ein rasches Ende beschert. Sie macht aber dennoch eine Denkweise anschaulich, die der gesamten lokalen Sicherheitspolitik Frankreichs seit etwa zwanzig Jahren zugrunde liegt. Die in diesem Rahmen entstandenen Strukturen und Maßnahmen, also etwa die Organe der so genannten „kommunalen Verbrechensvorbeugung“ oder „die lokalen Sicherheitspartnerschaften“, weisen durchweg dieselben Merkmale auf.

Sie konzentrieren sich auf die Arbeiter- und Immigrantenviertel, die man deshalb in „kritische“ Wohnviertel umbenennt, und beziehen sich nur auf eine streng begrenzte Kategorie von Straftaten und Gesetzesverstößen wie Kleinkriminalität auf öffentlichen Straßen oder „abweichendes Verhalten“ von Jugendlichen. Die Liste aus Nîmes spiegelt diese Auswahl getreulich wider. Alle genannten Personen leben in einem der vier Stadtteile, die als soziale Problemgebiete gelten, ihre Familiennamen klingen zu 85 Prozent nordafrikanisch, und sie sind in ihrer überwiegenden Mehrheit junge Männer zwischen 12 und 32 Jahren, ein Drittel von ihnen minderjährig.

Dieser beschränkte Gesichtswinkel entspricht einer bestimmten Vorstellung von sozialem Gefahrenpotential. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke an die ideologische Gleichsetzung von Unterschicht und „gefährlicher Klasse“ auf, die Ende des 19. Jahrhunderts üblich war. Die Neuauflage solcher Klischees rührt von einem kriminologischen, psychosoziologischen und polizeilichen Pseudowissen, das Randgebiete nur noch als „rechtsfreie Zonen“ wahrnimmt, die das vorherrschende politische Modell und sein Wertesystem bedrohen und letztlich zu gesellschaftlichen Ghettos und mafiösen Strukturen verkommen. Nach dieser Auffassung treffen die hier aufwachsenden Jugendlichen eine bequeme, rationale und dauerhafte Entscheidung zugunsten eines „kriminellen“ Wertesystems, das den hergebrachten ethischen Werten widerspricht, in denen die Arbeit nach wie vor einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Dieses alarmistische Weltbild wirft höchst unterschiedliche Tatbestände wie Autodiebstahl, die Beschädigung von Briefkästen, Drogenhandel oder rüdes Benehmen in einen Topf und verschleiert bewusst die sozialen Ursachen dieser Erscheinungen. Zusätzlich aufgeboten werden moralische und ethnozentristische Argumente über das Versagen der Unterschichtsfamilien, die den Jugendlichen angeblich keinen Rahmen zu moralischer Besserung bieten. Von fehlenden „emotionalen Bindungen“ spricht die ehemalige Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubrey: „Manchmal können sie uns nicht einmal sagen, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu den Erwachsenen stehen, mit denen sie zusammenleben. Ist die von ihnen mit Vornamen angesprochene Person ihre Mutter oder ihre Stiefmutter, ihr Vater oder ihr Stiefvater?“5

Damit wird eine Irreversibilität des kriminellen Verhaltens unterstellt, das die harten Maßnahmen rechtfertigen soll. In diesem Sinne sind vor allem in den betroffenen Wohnvierteln unzählige Sondereinrichtungen geschaffen worden. Die Polizei bildete zusätzlich die verschiedensten Spezialorgane aus, die komplizierte Namen tragen: Abteilung zur Kriminalitätsbekämpfung, mobile Sondereinheiten, Eingreiftrupps auf Departementsebene, fest zugeordnete Ordnungskräfte (Bereitschaftspolizei oder mobile Gendarmen), juristische Organe wie Untersuchungs-, Ermittlungs- und Koordinationseinheiten, oder – auf der Ebene des Verfassungsschutzes – die Abteilung für „städtische Gewalt“. Auch das Reformmodell einer bürgernahen Polizei wurde vorrangig in diesen Vierteln umgesetzt.

Auch das Justizministerium hat entsprechende Sonderstrukturen herausgebildet: lokale Gruppen zur Kriminalitätsaufarbeitung, Berichterstatter oder Sonderbeauftragte der Staatsanwaltschaft oder „Häuser der Justiz und des Rechts“. Außerdem wurden verfahrensmäßige Neuerungen eingeführt. Zu nennen sind hier vor allem das Prinzip des „traitement en temps réel“, also eine möglichst „tatnahe Aburteilung“ der Angeklagten, und die Sonderkammern für Schnellverfahren. Auch andere Institutionen entwickelten ihre eigenen Instrumente: das Unterrichtsministerium operiert mit dem Begriff „Gewaltzonen“, die Staatsanwaltschaft mit standardisierten Protokollen zur Personenbeschreibung.

Die Großen lässt man laufen

DIESE unzähligen neuen Sondereinrichtungen in den betroffenen Stadtteilen und die Entscheidung, vorrangig die Kleinkriminalität zu bekämpfen, hatten vor allem drei Auswirkungen. Erstens wurden die strafrechtlichen Bestimmungen verschärft und ausgeweitet. Die Strafen für diese Art von Delikten wurden deutlich erhöht. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Härte, mit der die Schnellgerichte urteilen. Ebenso hat die „tatnahe“ Aburteilung die gerichtliche Praxis bei Minderjährigen radikal verändert, insofern immer mehr Fälle straf- und nicht mehr zivilrechtlich verfolgt werden. Auch für Verhaltensweisen, mit denen sich die Justiz bisher nicht direkt befasst hat, werden heute, insbesondere durch die gerichtlichen Schlichtungsverfahren, Strafen verhängt.6 Infolgedessen befassen sich Verhöre durch die Polizei oder die Gerichte nunmehr auch mit Bereichen, die sie bislang nichts angingen.

Dieselbe Denkweise verzerrt auch den Blickwinkel, wenn es um die Lösung gewisser „Probleme“ in den betroffenen Vierteln geht. Die soziale Frage gilt als entsorgt. Die Prävention von Verbrechen verdrängt alle Maßnahmen struktureller Prävention; soziokulturelle oder gesundheitliche Fragen spielen nur eine Rolle, insofern sie helfen, eine ganz bestimmte Form des sozialen Friedens zu erhalten. Misshandlungen sind nicht mehr ein Problem an sich, sondern nur, insofern sie potentiell kriminelle Kinder produzieren könnten. Zudem werden – wie in Nîmes – die Sozialdienste zunehmend in die polizeiliche Arbeit eingebunden. Damit wird die Gleichsetzung von „Jugendlichen in sozialen, wirtschaftlichen oder beruflichen Schwierigkeiten“ mit Tatverdächtigen auf allen Ebenen durchgesetzt. Irgendwie sind damit die „gefährdeten“ auf einmal zu „gefährlichen“ Vierteln geworden.

Drittens folgt aus dieser Art von Problembewältigung, dass ganze Bereiche der Kriminalität vernachlässigt werden, da sich Frankreich, im Gegensatz zu den USA, nicht zu einer massiven Aufstockung des Polizei-, Gerichts- und Gefängnispersonals entschlossen hat. Stattdessen widmet man sich den sichtbarsten und harmlosesten Kategorien von Straftaten, die im öffentlichen Raum begangen werden. Selbst im Justizministerium räumt man ein, dass mit den „tatnahen“ Prozessen, die bei manchen Gerichten über 90 Prozent der Verhandlungszeit in Anspruch nehmen, „die Verfolgung leichter und mittelschwerer Delikte einerseits bevorzugt und andererseits auf Kosten der Wirtschafts- und Finanzkriminalität oder technischer Rechtsstreitigkeiten übergewichtet wird“.7 Das vom Ministerium als „Zeit raubend“ eingestufte Verfahren absorbiert die Richter immer stärker, die deshalb schwierigere Fälle vernachlässigen müssen. Auch die Zahl der polizeilichen Ermittler im Bereich Wirtschafts- und Finanzdelikte ist lächerlich gering; so sind etwa nur eineinhalb Kräfte für die Aufgabe abgestellt, das Dossier von Eva Joly in der Elf-Affäre zu untersuchen. Und dies, obwohl Frankreich in Europa zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Sicherheitskräften (gemessen an der Einwohnerzahl) zählt. Im auffälligen Kontrast zu dieser Zahl steht die unzureichende Verfolgung von arbeits-, handels- oder umweltrechtlichen Delikten.

Dass die Kleinkriminalität besonders nachdrücklich bekämpft wird, versteht sich keineswegs von selbst, denn objektiv stellt sie keine besondere Bedrohung dar. Jede Prioritätensetzung beruht auf einer mehr oder weniger willkürlichen Definition von „abweichendem Verhalten“. Die Behauptung, dass die Zahl der Straftaten angesichts der „aufflammenden“ Gewalt und Jugendkriminalität in den Arbeiter- und Immigrantenvierteln zunimmt, wird allerdings durch Statistiken von Fachleuten widerlegt.8 Dieselben Phänomene gab es schon vor dreißig Jahren, doch damals betrachtete man sie nicht als „Problem der Gesellschaft“, sondern vielmehr nach sozial- und/oder moralpathologischen Kategorien. Seit Ende der Siebzigerjahre hat die Beschäftigung mit allem, was man unter dem Begriff der „Unsicherheit“ fassen kann, einen zentralen Stellenwert erlangt. Damals wurde in Frankreich mit dem Peyrefitte-Bericht9 erstmals die Unterscheidung zwischen Verbrechen und der Angst vor Verbrechen eingeführt.

Diese begriffliche Trennung ist von grundlegender Bedeutung, denn damit begann die Politisierung der Angst und anderer Fragen, die bis dahin Sicherheitsexperten überlassen waren. Die Erfindung des „Unsicherheitsgefühls“ als öffentliche Meinungsäußerung erlaubte es Parteien und Politikern, sich auf das Thema zu stürzen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren spezialisierten sich manche Politiker auf das Sicherheitsthema und bauten ihre Karriere darauf auf. Während in den Siebzigern einer auf „Sicherheit“ setzenden Rechten noch eine Linke gegenüberstand, die sich der „Freiheit“ verpflichtet fühlte, bewirkten die Spezialisierung und die Forderung nach Fachgutachten eine zunehmende Entpolitisierung der Diskussion.

Seitdem gibt es eine zunehmende Konvergenz der Sichtweise und Diagnose des Problems, aber auch der Lösungvorstellungen. Inzwischen lautet die von den Medien weitgehend mitgetragene herrschende Meinung, dass man sich vorrangig der Bekämpfung jener Straftaten widmen müsse, auf die man Einfluss nehmen kann: „Wie oft habe ich von meinen Mitbürgern zu hören bekommen: Herr Bürgermeister, um die Arbeit kümmern wir uns selbst. Aber in der Frage der Sicherheit können wir nichts machen. Helfen Sie uns!“10

Aus dieser Stimmung heraus erklärt sich, warum momentan in Regionalverbänden wie der Vereinigung der Bürgermeister der Region Ile-de-France diskutiert wird, ob die Aufgabe der Wahrung von öffentlicher Ruhe und Ordnung nicht besser von der nationalen Polizei auf die Gemeindeebene verlagert werden sollte. Im Februar 2000 erklärte Gérard Hamel, Abgeordneter und Bürgermeister von Dreux, anlässlich einer Konferenz über Sicherheitsfragen in Chalon-sur-Saône: „Die bürgernahe Polizei muss aus der nationalen Polizei ausgegliedert und der Weisungsbefugnis der Bürgermeister unterstellt werden, damit sie Straftaten im öffentlichen Raum, die Gewalt und das Unsicherheitsgefühl besser bekämpfen kann. Die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Kriminalpolizei würden natürlich unter staatlicher Kontrolle bleiben.“

Der Erfolg dieser Kampagne gegen „störende“ Straftaten und Verhaltensweisen im öffentlichen Raum ist zum Teil dadurch zu erklären, dass Einzelne daraus politischen Nutzen ziehen. Dieses Kalkül führt zu einer Ungleichbehandlung von Straftaten je nach Art des Vergehens und sozialer Herkunft der Täter. Dabei wird der Begriff „öffentliche Ordnung“ mit der Befriedung gewisser Wohnviertel verwechselt. Es ist stark zu bezweifeln, ob dies auf Dauer der beste Weg ist, um die „Sicherheit“ des Staates und der Gesellschaft zu gewährleisten, den Zusammenhalt zwischen den Einwohnern zu fördern und die Legitimation der demokratischen Einrichtungen zu stärken.

dt. Birgit Althaler

* Wissenschaftler an der Universität Paris-X, Nanterre.

Fußnoten: 1 Die Commission départementale d’accès à la citoyenneté wurde vom Innenminister am 18. Januar 1999 eingerichtet, um „Fälle von Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Wohnen, Zugang zu Leistungen des öffentlichen Dienstes und Freizeiteinrichtungen zu erkennen und Vorschläge auszuarbeiten, um die Integration von Jugendlichen aus Immigrantenfamilien zu erleichtern.“ 2 Betroffen waren Personen, die „aufgrund schwerer und übereinstimmender Verdachtsmomente als Täter, Mittäter oder Komplizen von mutmaßlichen Verbrechen oder Straftaten anzunehmen sind“. Diese polizeiliche Qualifizierung sagt noch nichts über eine gerichtliche Verurteilung aus. 3 Dominique Vinciguerra, Midi libre, 8. Januar 2000. 4 Michel Gaudin, Präfekt des Departements Gard, Midi libre, 11. Januar 2000. 5 Rede von Martine Aubry, Ministerin für Arbeit und Solidarität, Villepinte, 24. Oktober 1997. 6 Siehe Syndicat de la Magistrature, „Justice sans fin“, Paris (Liber – Raisons d’Agir), erscheint in Kürze. 7 „Rapport au Garde des Sceaux sur la politique pénale menée en 1999“, Direction des Affaires Criminelles et des Grâces, April 2000, S. 27. 8 Siehe etwa B. Aubusson de Carvalay, „Statistiques“, in C. Lazerges und J. P. Balduyck, „Réponses à la délinquance des mineurs. Mission interministérielle sur la prévention et le traitement de la délinquance des mineurs“, Paris (La Documentation française) 1998, S. 263-291. 9 Comité d’études sur la violence, la criminalité et la délinquance, „Réponses à la violence“, Paris (Presses Pocket) 1977. 10 Jean-François Copé, Bürgermeister von Meaux, Maires en Ile-de-France Nr. 33, Februar 2000, S. 18.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von LAURENT BONELLI