16.02.2001

Plädoyer für eine humane Wirtschaftspolitik

zurück

Plädoyer für eine humane Wirtschaftspolitik

Von RENÉ PASSET *

DAS erste Weltsozialforum Ende Januar im brasilianischen Porto Alegre hat als Gegengewicht zum Davoser Weltwirtschaftsgipfel eine neue Form der Globalisierung am Horizont auftauchen lassen. Und es hat gezeigt, dass durchaus solidarische Alternativen zu einem reinen neoliberalen Rentabilitätsdenken denkbar sind. Welthandel, Finanzinvestitionen und internationaler Warenverkehr müssen stärker auf die Bedürfnisse der Menschen und die Entwicklung der Weltgesellschaft ausgerichtet werden.

Der alljährliche Auftrieb der internationalen Wirtschafts- und Finanzelite in den Schweizer Bergen hat erstmals Konkurrenz bekommen: Das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre, eine Zusammenkunft von Menschen aus allen Weltgegenden, versteht sich als Gegenveranstaltung zum „Club Davos“. Vor allem eines ist bei diesem Treffen deutlich geworden: Man kann gegen die kalte Logik des Wirtschaftsapparats nicht nur mit Appellen an die Barmherzigkeit antreten, sondern auch mit ebenso lebensnahen wie strikten Argumenten, deren Logik auf den Geboten des endlichen menschlichen Lebens beruht. Denn definitionsgemäß bemisst sich daran der Sinn des Wirtschaftens, das ja letzten Endes dazu dient, die Natur zum Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu verändern. Aber wenn sich Mittel und Zweck verkehren und nicht mehr das Geld den Menschen dient, sondern umgekehrt die Menschen sich dem Geld untertan machen, dann wird die Vernunft zur Unvernunft, und die Welt versinkt in Absurdität.

In den letzten fünfzig Jahren ist das Bruttosozialprodukt weltweit um den Faktor neun angewachsen, aber zugleich hat sich die Ungleichheit zwischen den Völkern verstärkt. Im selben Zeitraum ist nach Auskunft des UN-Weltentwicklungsprogramms (UNDP) in 80 Staaten das Sozialprodukt per capita zurückgegangen. Der ökonomische Apparat, der die Menschen von der Not befreien sollte, erzeugt gerade auch in den reichen Ländern Ungleichheit, Elend und soziale Ausgrenzung, und zwar selbst in Phasen „wirtschaftlichen Aufschwungs“. Dass alle Unternehmen zum ausschließlich gewinnorientierten Handeln gezwungen sind, hat zur Folge, dass die natürlichen Ressourcen geplündert werden, dass Raubbau und Umweltverschmutzung zunehmen und die Selbsterhaltungskräfte der Biosphäre schwinden. Das menschliche Leben insgesamt wird zur Ware, und das neue Kriterium der ökonomischen Vernunft heißt lifetime value: Der Wert des Individuums bemisst sich daran, wie viel er im Laufe seines Lebens voraussichtlich konsumieren wird. Der „Petit Robert“ definiert Effektivität als etwas, „das die gewünschte Wirkung hat“1 . Aber was hat der Begriff im wirtschaftlichen Kontext zu bedeuten?

Den Prinzipien einer Wirtschaft, die nur die Rentabilität des eingesetzten Kapitals im Auge hat, muss ein anderes Modell entgegengestellt werden. Es gilt also, Kriterien für eine neue Art von Investitionen und Unternehmenstätigkeit zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Gegen die Idee der angeblich natürlichen Standortvorteile setzen wir die Forderung, die Ungleichheit der Bedingungen, unter denen die Menschen produzieren, in Rechnung zu stellen. Von manchen Standortvorteilen, wie etwa ein hohes Arbeitskräfteangebot oder bestimmte Rohstoffvorkommen, profitieren allein die multinationalen Unternehmen, die sie nutzen können – den jeweiligen Regionen nützt das wenig. In allen Bereichen liegen die Erzeugerpreise von Produkten aus kapitalintensiven Produktionsverfahren unerreichbar niedriger als die von Produkten, die wesentlich auf dem Faktor Arbeit beruhen. Das Kriterium konkurrenzfähiger Marktpreise verdammt also ganze Völker dazu, einfach zu verschwinden. Wenn dies das Ziel ist, soll man es offen sagen; wenn nicht, dann müssen die natürlichen Ungleichheiten der Produktionsvoraussetzungen durch wirtschaftliche Vorzugsbedingungen für die am stärksten Benachteiligten korrigiert werden.

Autonomes Wirtschaften statt Marktwertlogik

GEGEN die so genannte Meistbegünstigungsklausel2 der Welthandelsorganisation (WTO) setzen wir das Recht der Völker, sich freiwillig zu übergreifenden Solidargemeinschaften von Staaten zusammenzuschließen, die so gestaltet sind, dass die Stärksten die Schwächsten nicht beherrschen können. Wir fordern zudem das Recht, sich durch gemeinschaftliche Einfuhrregelungen zu schützen, die Bewegungen des Kapitals zu kontrollieren, dessen ungehinderter Zu- und Abfluss die Realwirtschaft eines Landes in die Krise und eine ganze Bevölkerung ins Elend stürzen kann – wie es im Fall der Ostasienkrise von 1997 geschehen ist.

Der Klausel über die Gleichbehandlung ausländischer Waren und Unternehmen3 stellen wir die Forderung entgegen, dass es den einzelnen Staaten erlaubt sein muss, ihre vitalen Erzeugerinteressen zu schützen, nach eigenen Maßstäben zu entscheiden, wie sie ihr Territorium agrarisch nutzen und sich damit insbesondere gegen den zerstörerischen Einfluss der industriellen Nahrungsmittelproduktion zu schützen, indem sie ein Selbstversorgungssystem aufbauen oder das bestehende System absichern. Nicht hinnehmbar ist für uns auch, wenn die sozialen und kulturellen Werte eines Volkes auf ihren bloßen Marktwert reduziert werden.

Wir erklären, dass die Persönlichkeitsrechte, der soziale Nutzen und das Gemeinwohl Vorrang haben müssen vor der Macht des Rentabilitätsdenkens. Auch diese sozialen Werte bringen Gewinn, wenn auch nicht kurzfristig und nicht unmittelbar in Bilanzgewinnen auszuweisen; sie machen sich erst durch ihre indirekte und langfristige Wirkung bezahlt. Ein Beispiel für solche langfristig angelegten Aktivitäten war im 19. Jahrhundert die Entwicklung der Eisenbahnen, heute ist es – oder sollte es werden – die Entwicklung der Kernenergie oder der Biotechnologie. Einige sind von so entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Gemeinwesens oder berühren so grundlegende Persönlichkeitsrechte, dass sie auf keinen Fall den Kriterien von Handels- und Profitinteressen unterworfen sein dürfen.

Der Staat muss diese Aufgaben entweder selbst übernehmen, oder er hat zumindest ihre Durchführung und Entwicklung zu beaufsichtigen. Unternehmensfusionen, Aufkäufe und Konzentrationsprozesse, die privaten Interessen eine Macht verschaffen könnten, die zuweilen sogar die des Staates übersteigt, sollten streng begrenzt oder sogar rückgängig gemacht werden. Dies wäre nach unserer Meinung die Aufgabe der öffentlichen Hand.

Es gibt noch weitere Aktivitäten, die sich nur gesamtgesellschaftlich und langfristig auszahlen, auch jenseits der Bereiche, wo die Interessen mächtiger Privatunternehmer die Geschicke der Gemeinschaft zu bestimmen drohen. Ich meine damit Aktivitäten, die den nachbarschaftlichen Zusammenhalt und den Bürgersinn stärken (lokale Tauschbörsen, Netzwerke, in denen Güter und Kenntnisse ausgetauscht werden, das Vereinsleben usw.), oder auch alle nicht profitorientierten Organisationen, die ihre Kraft nur aus der Gesamtheit ihrer Mitglieder beziehen (Kooperativen, Genossenschaften, alternative Kreditgesellschaften). In all diesen Fällen sollte der Staat die freie Entfaltung individueller Phantasie fördern, und zwar wegen und nach Maßgabe ihrer sozialen Nützlichkeit. So viel zum Bereich der sozialen und solidarischen Wirtschaftsformen.4 Diese Forderungen sollen nicht etwa für die Duldung einiger (etwa „kultureller“) „Ausnahmen“ plädieren – das würde bedeuten, die Marktgesetze als die Norm anzuerkennen –, vielmehr geht es um die Frage, welche Funktionen eine Gesellschaft auf den unterschiedlichen Ebenen ihrer Selbstorganisation haben sollte.

Der unbeschränkten Herrschaft der Vernunft der Einzelnen setzen wir also die Grundsätze einer „pluralen“ Ökonomie entgegen. Wir glauben, dass analog zur Natur, wo aus Molekülen Zellen entstehen, aus diesen schließlich Organe und Systeme (Atmung, Kreislauf etc.), und damit neue Funktionen und logische Verknüpfungen, sich immer dann, wenn das Individuelle eine gesellschaftliche Qualität gewinnt, auch eine neue Logik herausbildet. Das heißt, dass Definition wie Herstellung eines gemeinschaftlichen Gutes, etwa die Beschränkung oder Förderung von Kommunikation, einem anderen Kalkül unterworfen sein sollte als die Entscheidungen über private Güter wie etwa eine Wohnungseinrichtung. Da nun aber sämtliche dieser verschiedenen Ebenen konstitutiv für das Ganze sind, wenden wir uns keineswegs etwa gegen die individuelle marktorientierte Vernunft – im Gegenteil, wir halten sie für durchaus legitim. Was wir dagegen radikal ablehnen, ist die Vorstellung, dass die ökonomische Wirklichkeit allein von der Marktlogik bestimmt sein soll und dass der Bereich des Gesellschaftlichen nur als Summe der individuellen Zweckrationalitäten zu denken sei.

Aus diesem Verständnis erklären sich unsere politischen Bestrebungen, die Wirtschaft wieder auf den ihr gebührenden Platz zu verweisen, das heißt, sie auf ihre dem Menschen dienende Rolle zu beschränken, aus der sie ihren Sinn und ihre Würde beziehen kann. Vor allem geht es also darum, den soziokulturellen Werten ihren Vorrang vor den Marktwerten zu sichern. Denn sie stellen das dar, was dem Leben der Individuen erst seinen Sinn verleiht, was der Summe der Einzelnen übergeordnet ist. Und sie konstituieren erst ihre Sicht der Welt, so umstritten sie auch sein mag. Darauf folgt ein natürlicher Vorrang des Politischen – als Ausdruck des sozialen Projekts, das wiederum Resultat der freien Auseinandersetzung zwischen soziokulturellen Wertesystemen ist – vor dem Ökonomischen, das nur eines der Werkzeuge darstellt, die bei der Durchführung des kollektiven Vorhabens eingesetzt werden. Die Respektierung der Tatsache, dass diese soziokulturellen Werte sich einem Beweis bzw. einer Widerlegung entziehen, konstituiert jene Achtung vor einem Wertepluralismus, die das Fundament der Demokratie darstellt.

Praktisch gesehen bedeutet das: Die Handelsabkommen sind eben nicht das oberste Gesetz, dem alles andere unterzuordnen ist, sondern sie müssen, im Gegensatz zu den Vorstellungen der WTO, mit den internationalen Konventionen über die individuellen und sozialen Personenrechte vereinbar sein, desgleichen auch mit dem Umweltschutz (hier vor allem mit der Erklärung von Rio, der Agenda 215 und den multilateralen Umweltabkommen), weiterhin mit den Leitlinien der Vereinten Nationen zum Verbraucherschutz und mit allen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

Des Weiteren müssen die Mächte der Wirtschafts- und Finanzwelt der Autorität der politischen Macht unterstellt sein. Die Auswüchse der Spekulation etwa lassen die Einführung einer Tobin-Steuer geboten erscheinen, und es geht darum, ein neues internationales Geld- und Finanzsystem und die weltweite Kontrolle der Kapitalbewegungen durchzusetzen. Solange die internationalen Finanzmächte und die transnationalen Unternehmen sich nur mit nationalen Regierungen auseinander zu setzen haben, werden sie diese, die ja keineswegs unparteiische Vermittler sind, weiterhin nach Belieben für ihre Zwecke manipulieren können. Erst wenn aus dem Willen der Völker ein gemeinsames Handeln der Regierungen erwächst, wird die politische Macht den Kräften, die sie kontrollieren soll, auf globalem Niveau gleichrangig gegenübertreten können.

Wir dürfen die himmelschreiend verkehrte Situation nicht mehr hinnehmen, die es den Kräften, die allein zur Befriedigung ihrer Profitgier eine Öffnung der Grenzen fordern, auch noch erlaubt, als die strahlenden Helden einer „geglückten“ Globalisierung aufzutreten. Und damit alle als „Globalisierungsgegner“ zu disqualifizieren, die dagegen sind, dass sie die ganze Welt in Beschlag nehmen wollen. Der Internationale des Geldes setzen wir einen neuen Internationalismus entgegen, der die menschliche Gemeinschaft zusammenschließen soll und sich auf ein dreifaches Solidaritätsgebot beruft:

– auf die Solidarität zwischen den Völkern, die darauf drängt, den armen Ländern die staatlichen Auslandsschulden zu erlassen, die internationale Hilfe speziell für diese Länder zu verstärken und neue Institutionen zu schaffen, die sich um eine „Weltorganisation für soziale Entwicklung“6 gruppieren. Diese demokratisch verfasste Organisation soll die Aufgabe übernehmen, im Namen der Völker und in Abstimmung mit ihnen „Verträge“ auszuhandeln, die Entwicklung für alle sichern – unter Beachtung der Menschenrechte und des Umweltschutzes;

– auf die Solidarität zwischen den Menschen innerhalb einer jeden Nation und Gemeinschaft von Nationen, die auf eine Reduzierung der Arbeitszeit drängt, die Arbeitsplätze für alle schafft, wie auch auf neue Formen der Verteilung der Erträge, die jedem seinen Anteil an den Reichtümern sichern, die zunehmend das Produkt kollektiver Anstrengung sind;

– auf die Solidarität zwischen den Generationen, die sich ausdrückt in neuen Maßnahmen zum Schutz der Natur – die gemeinsames Gut der ganzen Menschheit ist – und zur Förderung nachhaltiger Entwicklung, um auf diese Weise den heutigen Generationen eine bessere Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen, ohne künftigen Generationen dieses Recht zu beschneiden.

Was die Regierungen mit ihren unkoordinierten Aktivitäten nicht durchsetzen wollen oder können, das werden mit der Zeit die Völker selbst in die Hand nehmen. Dieselbe Telekommunikationstechnologie, die der Globalisierung des Kapitals Vorschub geleistet hat, erlaubt es nun auch den Bürgerbewegungen in aller Welt, neue Anhänger zu gewinnen und ihre Aktivitäten ständig zu koordinieren. In jüngster Zeit haben wir erlebt, wie das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) zum Scheitern gebracht wurde, wie das WTO-Treffen in Seattle im Chaos endete, wie die europäischen Märkte für genmanipulierte Pflanzen gesperrt wurden, wie die Firma Monsanto ihren Patentantrag auf das Produkt „Terminator“ zurückziehen musste (und dazu noch Aktionen wie das McDonald’s-Attentat im französischen Millau oder die Großdemonstrationen in Seattle und Nizza). Aus solchen Kampagnen kann mit der Zeit eine dauerhafte Interventionskraft entstehen, die den Mächtigen noch zu schaffen machen wird.

dt. Edgar Peinelt

* Professor emeritus der Universität Paris I, Verfasser von „L’Illusion néolibérale“, Paris (Fayard) 2000, und „L’Économique et le Vivant“, Paris (Economica) 1996, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von Attac.

Fußnoten: 1 Siehe das Stichwort „efficace“ in „Le Nouveau Petit Robert“, Paris 1995. 2 Diese Meistbegünstigungsklausel besagt, dass jedes WTO-Mitglied die Vorteile, die es einem anderen Mitgliedsland gewährt, unverzüglich und uneingeschränkt auch allen übrigen Mitgliedsländern gewähren muss. 3 Die Klausel über die so genannte Inlandsbehandlung kodifiziert ein weiteres grundlegendes Prinzip der Welthandelsorganisation: Sie verpflichtet alle Mitgliedstaaten, keine unterschiedlichen Bestimmungen für einheimische und ausländische Anbieter zu erlassen. 4 Siehe Jean-Loup Motchane, „Die Solidarwirtschaft gibt sich noch verschämt“, Le Monde diplomatique, November 2000. 5 Die Agenda 21 wurde 1992 von der UN-Umweltkonferenz in Rio verabschiedet. Sie legt fest, welche Ziele mit welchen Mitteln im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung im Zeitraum 1992 bis 2000 erreicht werden sollen. Die Mittel zur Erreichung dieser Ziele wurden aber nicht verbindlich festgelegt, ihre Umsetzung wurde vielmehr den einzelnen Staaten überlassen. 6 Dieser Vorschlag stammt von Ricardo Petrella, dem Initiator der „Gruppe von Lissabon“.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von RENÉ PASSET