16.02.2001

Die Asean vor dem Ende

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Die Asean vor dem Ende

Von DAVID CAMROUX *

NACH der Finanzkrise von 1997/98 wollte die Vereinigung Südostasiatischer Staaten (Asean) eine rasche regionale Integration auf den Weg bringen – und selbst als politischer Akteur auf der globalen Bühne dabei sein. Heute ist die Organisation angeschlagen und uneins. In manchen Staaten, wie den Philippinen – wo Präsident Estrada am 20. Januar dieses Jahres zurücktreten musste –, sind die Institutionen dem Zusammenbruch nahe, während in einem Land wie Indonesien die territoriale Aufsplitterung droht. Dies heißt nun keineswegs, dass der Versuch einer regionalen Integration gescheitert ist. Sicher scheint allerdings, dass über kurz oder lang im nordasiatischen Raum mit China, Japan und dem womöglich vereinigten Korea ein neuer globaler Block entsteht.

Als die Finanzminister der zehn Mitgliedstaaten der Vereinigung Südostasiatischer Staaten (Asean) im Oktober 2000 zusammentraten, wurde auch dem letzten Zweifler klar, dass es zwischen ihnen erhebliche Differenzen gibt. Hinter der mühsam gewahrten Fassade der Einheit, um derentwillen vieles ungesagt bleiben musste, waren die politischen Auseinandersetzungen stets virulent. Und nun kamen wirtschaftliche Unstimmigkeiten hinzu, unter anderem auch hinsichtlich der Umsetzung des regionalen Freihandelsabkommens, das bereits uneingeschränkt gebilligt zu sein schien. Doch dann haben sich im Oktober beim Treffen im thailändischen Chiang Mai die Teilnehmer – sämtlich Anhänger des freien Handels – doch noch beim Thema Automobilindustrie zerstritten.1 Malaysia bestand auf dem Recht, sein „nationales Auto“, den Proton, zu schützen und seinen Binnenmarkt unverändert zu erhalten, während Thailand eine weiter gehende Öffnung des Handels verlangte. In diesem exemplarischen Konflikt werden die völlig unterschiedlichen Vorstellungen von Globalisierung überaus deutlich: Die von Malaysia verfolgte Strategie der Importsubstitution steht im krassen Widerspruch zu der Politik Thailands, das Land für transnationale amerikanische und japanische Unternehmen zu öffnen.

Diese Differenz ist Ausdruck der unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Ländern, die mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 1997/98 offen zutage traten.2 Sie hat das wirtschaftliche und politische Gefälle zwischen den einzelnen Ländern der Region deutlich sichtbar gemacht.3 Die Volkswirtschaften in Thailand und Indonesien etwa litten unter einer hohen Auslandsverschuldung und einem zu starken Kapitalzufluss in Form kurzfristiger spekulativer Investitionen, während die malaysische Wirtschaft von längerfristigeren ausländischen Investitionen profitierte und intern stärker verschuldet war als gegenüber dem Ausland. Die Philippinen dagegen waren weniger stark betroffen, da das Land relativ unterentwickelt war und deshalb viel weniger spekulatives Kapital anzog.

Zudem haben die einzelnen Länder in der Bewältigung der Krise sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen. Thailand und Indonesien sahen sich gezwungen, die Strukturanpassungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu akzeptieren. Das von Mohamed Mahatir regierte Malaysia entschied sich dagegen für eine ganz andere Politik, indem es den Devisenhandel kontrollierte und die Nachfrage ankurbelte. So wurden umfangreiche öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt, um die großen Unternehmen solvent zu halten.

Für Thailand und Indonesien war die Umsetzung der vom IWF auferlegten Maßnahmen sehr schmerzhaft. So wurden in Thailand 56 Finanzinstitute für zahlungsunfähig erklärt, ihre Aktiva unter Wert verkauft und die Schulden verstaatlicht. Wie in Indonesien wurden die Subventionen für Grundbedarfsgüter und Basisprodukte wie Benzin zunächst abgeschafft. Der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung ist in beiden Staaten erheblich gesunken. Dagegen zog sich Malaysia vergleichsweise gut aus der Affäre.

Doch nicht nur in wirtschaftlicher, auch in politischer Hinsicht sind die Asean-Länder sehr heterogen. Die herrschenden politischen Regime lassen sich in drei große Kategorien unterteilen: liberaldemokratischer Pluralismus in Thailand und auf den Philippinen, halbdemokratischer „Soft-Autoritarismus“ in Malaysia und Singapur und die autoritäre Regierungsform in Vietnam, Laos und Kambodscha – vom Totalitarismus in Birma ganz zu schweigen. Wie Indonesien, das größte Land der Asean, in dieses Schema einzuordnen ist, ist derzeit schwer zu sagen. Die Asean als eine kohärente oder gar homogene politische Gesamtheit zu sehen wäre jedenfalls ein Illusion.

Auch bei der Bewältigung der Krise gab es keinerlei koordiniertes Vorgehen, weder auf wirtschaftlicher noch auf politischer Ebene. In Indonesien kam es zu einer Welle von Demonstrationen, die schließlich zum Sturz des Suharto-Regimes und zur Wahl von Abdurrahman Wahid führte, dem vierten Präsidenten seit der indonesischen Unabhängigkeit. In Thailand wurde die in Misskredit geratene Regierung ausgewechselt und 1997 eine neue Verfassung verkündet, die ersichtlich darauf zielte, die tief verwurzelte Korruption zu beseitigen und politische Transparenz zu fördern. In Vietnam hat das Regime die wirtschaftliche Liberalisierung gebremst, während die birmesische Militärjunta die Situation nutzte, um die Repression zu verschärfen, sich damit aber noch mehr isoliert hat. Die politischen Unruhen schließlich, die Malaysia erlebte, hat das Regime selbst verursacht.

Die Philippinen haben den Übergang verpasst und wurden so zu einer Nation ohne Staat – sofern man überhaupt ein Land als Nation bezeichnen kann, das von religiös inspirierten, separatistischen Bewegungen (auf Mindanao) auseinandergerissen wird.

Seit dem Sturz des Marcos-Regimes im Jahre 1986 hat die politische Führung das begeisterte Engagement des Volkes für eine echte Demokratisierung nie richtig erwidert. So war die Präsidentschaft von Cory Aquino (1986 bis 1992) in vielerlei Hinsicht eine Periode der ungenutzten Chancen. Dies gilt vor allem für die notwendige Agrarreform, auf deren Basis in den Nachbarländern Südkorea und Taiwan überhaupt erst die wirtschaftliche Revolution möglich wurde. Unter Präsident Fidel Ramos (1992 bis 1998) gingen die letzten Hoffnungen auf die Beseitigung der allseits verbreiteten Korruption und des oligarchischen politischen Systems zu Bruch.

Das Regime von Joseph Estrada, der im Januar aufgrund schwer wiegender Korruptionsvorwürfe zurücktreten musste, war in den Augen vieler Philippinen genauso schlecht wie die alte Marcos-Diktatur. Estrada hatte zugelassen, dass viele der Akteure aus der Marcos-Zeit erneut auf Machtpositionen rückten und dass die Kinder, die er aus drei Ehen hat, die Tradition der persönlichen Bereicherung für sich und ihren Hofstaat auf skandalöse Weise ausnutzten. Trotz einer freien und kritischen Presse gingen Korruption und Machtmissbrauch ungehindert weiter. Dies ist zum Teil damit zu erklären, dass die Honoratioren auf lokaler Ebene schon sehr lange am Drücker sind und ein System von Beziehungen und gegenseitiger Protektion aufrechterhalten haben, von dem auch die politischen Parteien profitierten.4 So ist es auch kein Wunder, dass der Senat am 17. Januar 2001 das Amtsenthebungsverfahren gegen Estrada aufhob, was dann erst die Massenproteste und Demonstrationen in der Hauptstadt Manila auslöste, die Estrada am 20. Januar zum Rücktritt zwangen.

Im Vergleich mit anderen Ländern Südostasiens ist auf den Philippinen der öffentliche Sektor ausgesprochen klein; so ist etwa selbst die öffentliche Sicherheit privatisiert. Zu den festungsartig abgeriegelten Vorstädten, zu denen sich die besseren Wohnviertel in Manila entwickelt haben, hat nur Zutritt, wer von den privaten Sicherheitsdiensten durchgelassen wird. Ein Großteil des Bildungssystem ist ebenfalls privatisiert. Der Begriff Gemeinwohl ist unbekannt, allgemein verbreitet ist dagegen das beständige Unbehagen an der Gesellschaft.

In Indonesien ist zwar die „neue Ordnung“ des Suharto-Regimes verschwunden, doch noch ist nicht recht zu erkennen, was an ihre Stelle getreten ist.5 Einer der „Erfolge“ von General Suharto bestand darin, das Image eines starken Staates zu produzieren, der die nationale Einheit eines riesigen Archipels von 7 000 Inseln zu erhalten vermag. Die Realität sah natürlich ganz anders aus: Das Regime war nur scheinbar stark und thronte über einer zutiefst zerklüfteten Gesellschaft, die von Militärkommandanten oder Provinzgouverneuren regiert wurde, denen eine beträchtliche Unabhängigkeit zukam. Dagegen hatte die Zivilgesellschaft, die schon unter der Herrschaft Sukarnos verkümmert war, in der politischen Diskussion sehr wenig, um nicht zu sagen überhaupt kein Gewicht.

Suhartos Sturz kam ebenso plötzlich wie sein Aufstieg dreißig Jahre zuvor. Das Aufblühen einer erstaunlichen Medienlandschaft, die Bildung eines Parlaments, das strikt auf seine Rechte bedacht und entschlossen ist, sich erforderlichenfalls mit der Exekutive anzulegen, und die Entstehung eines Justizsystems, das auf einmal seine Unabhängigkeit entdeckt und behauptet, erwecken den Eindruck, die Demokratie stehe unweigerlich vor dem Sieg.6 Allerdings sieht die Realität vor Ort etwas anders aus. Das alte Regime ist, zumindest in Teilen, noch nicht verschwunden, es hält sich nur im Hintergrund. Besonders pessimistische Beobachter in Jakarta, auch Mitglieder der Regierung Abdurrahman Wahid, gehen davon aus, dass hinter den Bombenanschläge in Djakarta im letzten Herbst gewisse Gruppen der Armee stehen. Ihrer Ansicht nach geht es diesen Militärs darum, ein Chaos zu erzeugen, damit sie auch weiterhin ihre alte politische Rolle spielen können. Die 18 Anschläge vom 24. Dezember 2000 gegen katholische und protestantische Kirchen scheinen derselben Strategie zu entspringen.

Manche Indonesier werfen inzwischen einen nostalgischen Blick zurück auf die Ära Suharto. Allerdings ist zu bedenken, dass die Administration Wahid – die immer mehr wie eine Übergangsregierung aussieht – vor beträchtlichen Herausforderungen steht. Die vordringlichste Aufgabe besteht heute darin, in einem geeigneten föderalen Modell die mächtigen auseinanderstrebenden Kräfte zusammenzuführen, die in Indonesien schon immer vorhanden waren, die aber plötzlich und mit Macht an die Oberfläche traten, nachdem der bleierne Deckel des Suharto-Regimes in die Luft geflogen ist. Wie auf den Philippinen ist auch in Indonesien die Schwäche des Staates eines der großen Hindernisse für die notwendigen Reformen, die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung.

Anfang Oktober 2000 ist die thailändische Währung, der Bath, auf den tiefsten Stand seit 28 Monaten gesunken, also seit dem Ende der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die westlichen Länder rechneten sogleich mit der Möglichkeit, das Land könnte wieder in die Rezession zurückfallen und mit seinen finanziellen Problemen, wie schon 1997/98, die anderen Länder anstecken.7 Tatsächlich haben die Exportergebnisse, die maßgeblich den leichten Wirtschaftsaufschwung der letzten beiden Jahre angekurbelt haben, in den Ländern der Region erneut an Dynamik verloren. Das geht zum einen auf den Anstieg des Rohölpreises zurück, der die meisten Länder (mit Ausnahme Indonesiens) belastet hat. Zum anderen aber wurde die bevorstehende Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation (WTO)8 als mögliche Bedrohung für die Konkurrenzfähigkeit der aufstrebenden Länder Südostasiens wahrgenommen. Dieser Trend verschärfte sich noch durch den spürbaren Rückgang der Direktinvestitionen in Malaysia und erst recht in Indonesien.

Gerade in Indonesien ist zu beobachten, dass zwar die Schattenwirtschaft wieder etwas an Schwung gewinnt, die „moderne“ Wirtschaft aber wie gelähmt bleibt. Die Anleger wiederum verhalten sich abwartend, bis eine gewisse politische Stabilität erreicht ist. Insgesamt jedenfalls lässt sich kaum bestreiten, dass die erhoffte Demokratisierung in der Region eher eine Illusion geblieben ist.

Die Asean, die in der Vergangenheit ihre zentrale geografische Position in Asien in eine zentrale politische Funktion ummünzen konnte, scheint ihre Vormachtstellung nicht mehr halten zu können. Sie hatte die Hoffnung genährt, eine kohärente regionale Organisation würde die Entwicklung ihrer Mitgliedsländer fördern und sie insgesamt stärken. Heute dagegen scheint sich die Wirkung umgekehrt zu haben: Die interne politische Schwäche der einzelnen Länder in Verbindung mit dem allgemeinen Stillstand droht sowohl die nationalen Projekte als auch die Vision vom Aufbau der gesamten Region in Frage zu stellen.

Allerdings mehren sich die Anzeichen für die Entstehung eines noch größeren Gebildes, zu dem neben der Asean auch China, Japan und Südkorea gehören könnten. Dafür sprechen jedenfalls die häufigen informellen Treffen, eine engere Zusammenarbeit der Zentralbanken in Sachen Geldpolitik, der erneute Vorschlag zur Schaffung eines asiatischen Währungsfonds und die Diskussion über die Bildung einer Yen-Zone.

Wenn sich diese Tendenz fortsetzen sollte, könnte ein asiatischer „Block“ als Gegengewicht zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) und zur Europäischen Union entstehen. Dessen Kernstück wäre sicher nicht mehr die Asean, die ihre Stellung mit dem Beitritt Chinas zur kapitalistischen Weltwirtschaft und den japanischen Ambitionen auf eine wichtigere politische Rolle einzubüßen droht. Vor allem angesichts der Perspektive eines vereinigten Korea9 erscheint es nicht mehr undenkbar, dass in der Region ein neues Machtdreieck entsteht, dessen Zentrum im Nordosten Asiens liegen könnte.

dt. Erika Mursa

* Forschungsbeauftragter am Centre d’études et de recherches internationales, Leiter des Asien-Europa-Programms am Institut d’études politiques.

Fußnoten: 1 Financial Times, 11. Oktober 2000. 2 Zu dieser Krise siehe Manière de voir, Nr. 47, „La mondialisation contre l’Asie“, September/Oktober 1999. 3 Eine eingehende Analyse der Krise findet sich bei Philippe Richer (Hrsg.), „Crises en Asie du Sud-Est“, Presses de Sciences Po, Paris, 1999. 4 vgl. John Sidel, „Capital, Coertion and Crime: Bossism in the Philippines“, Stanford (CA), Stanford University Press, 1999. 5 vgl. Romain Bertrand, „Le désordre nouveau. Violence sociale et changement politique en Indonésie“, in: Critique internationale, Nr. 8, Paris, Sommer 2000. 6 vgl. Donald Emerson (Hrsg.), „Indonesia Beyond Suharto“, Armonk New York/Londres, ME Sharpe, 1999. 7 Financial Times, 12. Oktober 2000. 8 vgl. Roland Lew, „Der lange Marsch der Bauern in die Stadt“, Le Monde diplomatique, Dezember 2000. 9 vgl. Selig S. Harrison, „Die schwierige Entspannung“, Le Monde Diplomatique, Januar 2001

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von DAVID CAMROUX