16.02.2001

Aufbruch ins dritte Lebensalter

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Aufbruch ins dritte Lebensalter

Von THIERRY PAQUOT *

WÖRTER haben, je nach ihrem Kontext, oft mehrere, manchmal widersprüchliche Bedeutungen. So etwa das französische Wort retraite („Rückzug“), das sowohl das „Sichzurückziehen von einem Ort“ meint, als auch das „Sichzurückziehen aus dem Berufsleben“. Im ersten Fall erinnert es an den „Truppenrückzug“, die „wilde Flucht“ mit einem Beigeschmack von „Niederlage“; während es im zweiten auf die verschlungenen Wege der langen Geschichte der Arbeitskämpfe und ihre juridische Umsetzung verweist.

Der französische Ausdruck retraite hat sich seit Michel de Montaigne als feststehender Begriff für den „Rückzug aus dem Berufsleben“ etabliert.1 Die Versetzung in den Ruhestand bezeichnet eine unbestreitbare soziale Errungenschaft, ein Recht, das die Menschen erhobenen Hauptes in Anspruch nehmen. Im Anschluss an eine bestimmte Lebensarbeitszeit – die je nach Organisation und Vertragslage in den einzelnen Branchen unterschiedlich ausfällt – beziehen die Erwerbstätigen eine Rente, eine rechtmäßige, „wohlverdiente“ Belohnung für ein „arbeitsames Leben“, wie es die Chefs oder Direktoren bei den Abschiedsfeiern ihren Schäfchen so schön zu sagen pflegen. In solchen Momenten schwingt gern eine gewisse Rührung in ihrer Stimme mit.

Die Infragestellung eines bestehenden Rechts wird von dessen Nutznießern als Ungerechtigkeit empfunden – unabhängig davon, dass sich der ökonomisch-demografische Kontext seit seiner Formulierung gewandelt hat und eine Neudefinition erforderlich geworden ist. Die Rente erscheint so manchem als ein mehr oder weniger selbstverständlicher Bonus, den die Gesellschaft den Arbeitnehmern (freiwillig!) gewährt, wenn sie zu alt sind, um im Rahmen der Produktivitätsnormen noch rentabel zu sein.

Manche Rentner jedoch machen sich diese Ideologie so sehr zu Eigen, dass es ihnen fast peinlich ist, überhaupt noch am Leben zu sein und der besagten Gesellschaft auf der Tasche zu liegen. Zugleich wertet diese Gesellschaft sowohl die gut betuchten „jung gebliebenen“ Rentner auf, weil sie als Konsumenten im ökonomischen Räderwerk für Umsatz sorgen, als auch die reichen „Alten“, denen sie ihr Geld in – nicht immer einladenden – Altersheimen abpresst. Die Werbung umschmeichelt die „aktiven“, „unternehmungslustigen“ Rentner und ignoriert diejenigen Männer und Frauen, die unter dem Älterwerden, der Einsamkeit und der wachsenden Abhängigkeit von anderen leiden. Ein alter Mensch, der noch „jung“ ist, vorzeigbar und „stubenrein“, macht der Gesellschaft weniger Probleme als einer, der sich langsam und gequält dem unausweichlichen Ende seines Erdendaseins nähert.

Es sind die Lebensphasen, in der sich die Zeit eines Menschenlebens artikuliert. Wie und mit welcher Begründung sollten wir ihre Abfolge zerstören, einen Bruch zwischen den Generationen herbeiführen, der für die Gesellschaft ebenso gravierend wäre wie jeder andere soziale oder kulturelle Bruch? Sollte eine Gesellschaft, die spektakuläre Gedenkfeiern veranstaltet und alte Bauten und Denkmäler als schützenswerte Erbgüter pflegt, nicht auch in der Lage sein, ihre Alten respektvoll und würdig zu behandeln – schließlich sind sie doch die gegenwärtige Vergangenheit, der Anfang unseres Gedächtnisses? Wie unanständig und undankbar sind wir, welch ein Armutszeugnis müssen wir uns ausstellen! Die Tyrannei des immer Neuen und der vorprogrammierten Überholtheit verhindert das kostbare Ineinandergreifen der Lebensalter. Gewiss, wer kennt sie nicht, die Gereiztheit angesichts des Geschwätzes einer alten Tante, der Ticks eines betagten Onkels. Wir sind eben alle keine Engel. Es gibt Spannungen zwischen den Generationen, und wir alle kennen maßlos anspruchsvolle, zänkische, bösartige alte Leute, die ihren Mitmenschen das Leben und den Alltag vergällen.

Dennoch werden wir immer wieder von Gefühlen überwältigt, wenn wir an die verpassten Gelegenheiten, an die nicht wahrgenommenen Begegnungen mit denen denken, die nicht mehr am Leben sind. Ja, wir müssen uns dem anderen öffnen, ihn aufnehmen, wenn er aus der Fremde kommt, aber auch, wenn er aus einer anderen Zeit hinüberreicht, die nicht wirklich die unsere ist, deren Geschichte uns aber betrifft. Das Konzept der „vorbehaltlosen Gastlichkeit“ wendet sich gegen den ageism, diese Altersfeindlichkeit, die den Alten das Leben schwer macht, und es erleichtert das Verständnis zwischen den Generationen.2

Wir wollen hier nicht über die Finanzierungsmodelle der verschiedenen Rentensysteme diskutieren, sondern lediglich unseren Unmut über die rigide Haltung der Arbeitgeberschaft und ihre mangelnde Dialogbereitschaft bekunden. Der französische Arbeitgeberverband unter dem Vorsitz von Ernest-Antoine Seillière verschließt sich der Erkenntnis, dass sich hinter der sozialen Frage der Rentenfinanzierung eine sehr viel wichtigere gesamtgesellschaftliche Thematik verbirgt: die Frage nach dem Verhältnis von Arbeitszeit und Lebenszeit. Die verlängerten Schul- und Ausbildungszeiten und die steigende Lebenserwartung verändern ja in der Tat unsere Vorstellung vom Verlauf des Lebens.3 Die Dauer der drei Lebensabschnitte des menschlichen Daseins – Jugend- und Ausbildungsjahre, Berufstätigkeit und Rentenalter – gleicht sich immer mehr an, die Ausbildung geht zunehmend in „lebenslanges Lernen“ über, und die Wünsche nach „Rückzug“ – im Sinne einer Pause, eines freiwilligen Aussetzens – mehren sich.

Was spräche eigentlich dagegen, dass sich jeder während der aktiven Phase seines Berufslebens einen gelegentlichen Rückzug gönnt, dass Renten-Scheckhefte erfunden werden? Warum von einem Tag auf den anderen alles stehen und liegen lassen, statt allmählich in Rente zu gehen, so wie ein Schwimmer ins Meer geht? Warum die von Rentnern ausgeübten Tätigkeiten nicht besser mit anderen verbinden? Warum die Rentner nicht als Freiwillige mit steuerlichen Vergünstigungen zu bestimmten Solidaritätsaktionen heranziehen? Warum nicht den Zeitaustausch zwischen „Aktiven“ und „Inaktiven“ fördern? Warum die Arbeitnehmer nicht, ehe sie in Rente gehen, auf ihr neues Dasein vorbereiten, sie einführen in die neue Beziehung zur täglich verfügbaren Zeit?

Der Rückzug aus dem Berufsleben ist nicht das Ende einer Tätigkeit, sondern der Beginn einer anderen, die mit der Erneuerung des sozialen und ökonomischen Lebens selbst zu tun hat. Insofern beschränkt sich die Rentenfrage nicht auf ein Problem der Buchführung – das freilich ausgesprochen komplex ist –, sondern sie enthüllt eine nicht von der Hand zu weisende existenzielle Dimension, nämlich unseren Umgang mit der Zeit.

Was tun mit dieser Zeit für nichts und wieder nichts, dieser Zeit des Wartens auf das stets gefürchtete Ende? Man kann sie verwandeln in Zeit, die man für jemanden hat – für sich selbst zum Beispiel: Das schlechte Gewissen gegenüber den „Aktiven“ schwindet, sobald man die aufeinander folgenden, aber nie gleichen Freuden des Augenblicks neu genießen lernt.4 Oder man nimmt sich ein anderes Programm mit anderen Rhythmen vor: Heute tun, was man immer auf den nächsten Tag verschoben hat; mit guten Gefühlen ein Mittagsschläfchen halten; fröhlich faulenzen; Wissen und Erfahrungen weitergeben, ohne Druck auszuüben, und vor allem: lieben! Aber wie auch immer, die Verben „verwalten“, „investieren“ und „kapitalisieren“ sollten bei all dem keine Rolle spielen.

Um das Recht auf Rente lässt sich nicht feilschen, es ist unveräußerlich. Möge die Zeit des Rückzugs die der Befreiung von der reinen Pflichtarbeit sein, möge sie den Geschmack wirklicher Freiheit haben und möge die Gesellschaft willens sein, einem jeden diesen Genuss zu erleichtern.

dt. Grete Osterwald

* Kulturphilosoph und bekennender Mittagsschläfer; Autor u. a. von „Die Kunst des Mittagsschlafs“, Köln (vgs) 2000.

Fußnoten: 1 Vgl. „Dictionnaire historique de la langue française“, unter der Leitung von Alain Rey, „Le Robert“ Bd. II, Paris 1992, S. 1783. 2 Vgl. „De la transhospitalité“, Informations sociales, Nr. 85, „L’hospitalité“, Paris 2000. 3 1994 betrug die Lebenserwartung in Frankreich 73,7 Jahre für Männer und 81,8 Jahre für Frauen. Bis 2020 wird die Lebenserwartung der Männer voraussichtlich auf über 78 und die der Frauen auf 87 Jahre steigen. Ungelernte Arbeiter, landwirtschaftliche Hilfskräfte und Facharbeiter haben eine geringere Lebenserwartung als Ingenieure, Universitätsangehörige, Künstler und leitende Angestellte. 4 Vgl. Norberto Bobbio (geb. 1909), „Vom Alter. De Senectute“, Berlin (Wagenbach) 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von THIERRY PAQUOT