16.02.2001

Wo liegt Quebec?

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Wo liegt Quebec?

Von IGNACIO RAMONET

IN Quebec herrscht Krisenstimmung, seit Ministerpräsident Lucien Bouchard, der auch Vorsitzender des Parti Québécois (PQ) ist, am 11. Januar seinen Rücktritt erklärt hat. Umso mehr, weil man erst wenige Wochen zuvor den Schock verkraften musste, dass aus den Wahlen zum Bundesparlament im November 2000 die Liberal Party (LP) des kanadischen Ministerpräsidenten Jean Chrétien als Sieger hervorgegangen war. Die geringe Wahlbeteiligung unter den frankophonen Wählern hatte den Bloc Québécois (BQ), die Vertretung der Separatisten auf Bundesebene, sieben Sitze gekostet, zum ersten Mal seit 1980 wurde der BQ damit von den Liberalen überflügelt. Nach Ansicht der Gegner eines unabhängigen Quebec bedeuten die beiden Ereignisse, die Wahlschlappe und der Rücktritt Bouchards, der einzigen charismatischen Figur im nationalistischen Lager, das Aus für die separatistische Bewegung.

Dass die nationalen Bestrebungen an Schwung verloren haben, scheint auch Bouchard zu wissen: „Meine Bemühungen um eine rasche Wiederbelebung der Diskussion über die nationale Frage waren vergebens.“1 Auch habe bei den Bürgern von Quebec die Begeisterung für die Unabhängigkeit und die Verteidigung ihrer Identität nachgelassen. Einigen seiner Parteifreunde wirft Bouchard eine engstirnige „ethnozentristische“2 Auffassung von der Nation Quebec vor, während er einen „Nationalismus der Bürger“ vertrete, der sich nicht ausschließlich auf die frankokanadische Bevölkerungsmehrheit stützen wolle.

Bouchard glaubt außerdem, seine größte Leistung, der wirtschaftliche und finanzielle Wiederaufschwung, sei innerhalb seiner eigenen Partei nicht angemessen gewürdigt worden. Tatsächlich kann er darauf verweisen, dass unter seiner Regierung das Wirtschaftswachstum wieder angestiegen ist, dass Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizit gesunken sind. Durch das nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) hat sich die wirtschaftliche Abhängigkeit des Bundesstaates Quebec vom übrigen Kanada verringert. Die Exporte in die USA nahmen drastisch zu: Sie machen heute 86 Prozent des Exportaufkommens aus. Damit ist Quebec der siebtgrößte Handelspartner der Vereinigten Staaten.

In der Wirtschaft Quebecs, das lange nur Rohstofflieferant war, haben vor allem die Luftfahrtindustrie, die Telekommunikation, die Multimedia-Branche und die Biopharmazie einen beachtlichen Aufschwung genommen. Einige Firmen sind in ihrer Branche weltweit führend, so etwa Alcan (Aluminium), Bombardier (Luftfahrt), Hydro-Québec (Elektrizität) und Québecor (Papier). Mit einem Bruttoinlandsprodukt von rund 130 Milliarden Dollar bei einer Bevölkerung von 7,5 Millionen gehört Quebec inzwischen zu den dreißig reichsten Volkswirtschaften der Welt.

TROTZ solcher beachtlichen Erfolge gab es Unzufriedenheit. Ministerpräsident Bouchard sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die soziale Ungleichheit verschärft zu haben, indem er allzu bereitwillig den neoliberalen Wirtschaftskonzepten folgte und Haushaltsmittel für Sozial-, Gesundheits- und Bildungsausgaben drastisch einschränkte. Diese Politik ging vor allem zu Lasten der Armen, der Alten und der Kinder aus Unterschichtfamilien. Unwillen erregte Bouchard auch mit seiner Begeisterung für die Dynamik der Globalisierung. So wird etwa im April 2001 in Montreal der Amerika-Gipfel stattfinden, auf dessen Tagesordnung die Diskussion um ein Freihandelssystem steht, das von Alaska bis Feuerland reichen soll.

Innerhalb der Nationalbewegung von Quebec muss der Globalisierungsschock zwangsläufig zu Spannungen führen.3 Und es ist kein Zufall, dass diese in einer Zeit auftreten, da auch andere Länder, namentlich innerhalb der Europäischen Union – und zwar ebenfalls aufgrund der Dynamik von Globalisierung und wirtschaftlicher Integration – eine Krise der Souveränität und eine Krise des Staates auf sich zukommen sehen.4 Mit anderen Worten: Da sich einige Hauptstädte einem wachsenden Druck vonseiten bestimmter Regionen (Korsika, Baskenland, Katalonien, Schottland, Flandern, Lombardei) ausgesetzt sehen, die Dezentralisierung, Föderalisierung oder Autonomie fordern und zuweilen sogar von der Unabhängigkeit träumen, wird man umso aufmerksamer beobachten, was derzeit in Quebec geschieht.

Der Kampf um die Unabhängigkeit der Provinz währt nunmehr über dreißig Jahre, und in dieser Zeit hat sich der Lebensstandard merklich erhöht. Heute ist völlig unbestritten, dass einem derart langen Kampf gegen einen friedfertigen Gegner (im Human-Development-Index der Vereinten Nationen belegt Kanada die erste Stelle) am Ende irgendwann die Luft ausgeht. Nach Meinungsumfragen vom Januar 2001 würden 42 Prozent der Einwohner Quebecs bei Parlamentswahlen für die Liberalen stimmen und nur 37 Prozent für den Parti Québécois. Überdies bekannten 60 Prozent der Befragten – in ihrer Mehrheit Frankokanadier – dass sie bei einem Referendum über die Unabhängigkeit mit Nein stimmen würden.5

Doch wer die Quebec-Frage vorschnell für erledigt erklärt, könnte sich täuschen. Bernard Landry, Bouchards Nachfolger an der Spitze des PQ und designierter Ministerpräsident, hat soeben feierlich verkündet: „Wir sind keine eigenständige Gesellschaft – wir sind eine Nation.“ Und zugleich versprochen, die Entwicklung in Richtung der vollständigen Unabhängigkeit zu beschleunigen.

Fußnoten: 1 Le Devoir, Montreal, 12. Januar 2001. 2 Hier spielt Bouchard auf den „Michaud-Skandal“ an: Der nationalistische Politiker Yves Michaud hatte sich mit Angriffen auf die jüdische Gemeinschaft in Montreal hervorgetan. Die Affäre löste einen heftigen Richtungsstreit innerhalb des Parti Québécois aus. Inzwischen hat Michaud sich entschuldigt. Siehe Le Devoir, 13. Januar 2001. 3 Siehe „Lehrstück Quebec“, Le Monde diplomatique, April 1996. 4 Siehe die Sondernummer zum Thema „Souveränität“ der Zeitschrift Les Temps modernes, Nr. 610, Paris, September-November 2000, insbesondere die Beiträge von Claude Lefort und Etienne Balibar. 5 Le Soleil, Quebec, 16. Januar 2001.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von IGNACIO RAMONET