16.02.2001

Gemeinsam Wache stehen

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Gemeinsam Wache stehen

Von ERIC KLINENBERG *

„Mir schwebt eine Welt vor, in der die Polizei die Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit die Polizei ist.“

Joseph Brann, Direktor der Community Oriented Policing Services (Cops, Bürgernah orientierte Polizeidienste)

EIN warmer Spätsommertag, sechs Uhr abends. Mehr als zwanzig Einwohner eines vor allem von Latinos und Tschechen bewohnten Viertels in Chicagos West Side drängeln sich in dem kleinen Versammlungsraum. Bei dem Gespräch mit den Polizeibeamten, die gekommen sind, um den neusten Stand der Verbrechensbekämpfung zu erläutern, geht es heiß her. Die Anwohner beschweren sich über Teenager, die in ihren Straßen herumhängen, und über nächtliche Gewehrschüsse; sie fordern polizeiliches Durchgreifen gegen die rüden Stammkunden einer lokalen Kneipe; sie wollen, dass dunkle Alleen beleuchtet werden, und beklagen, dass ein leer stehendes Gebäude die Obdachlosen anzieht. Doch die Beamten halten in aller Deutlichkeit dagegen, dass der Schutz der Straßen nicht nur Sache der Polizei sein könne. „Wir schaffen das nicht alleine“, sagt der zuständige Lieutenant, „es gehört zwar zu unseren Aufgaben, aber es ist auch eure Sache. Wir müssen das zusammen in den Griff bekommen.“ Zustimmendes Kopfnicken unter den Versammelten. Solche Sätze sind ja beileibe nichts Neues.

Bereits seit 1995 organisieren die Polizeireviere in allen Bezirken von Chicago solche monatlichen Versammlungen. Mittlerweile sind die Veranstaltungen der Polizei zu den populärsten und offensten Foren für den Dialog zwischen Stadtregierung und Bürgerschaft geworden. Die beat meetings (Zusammenkünfte in den Streifenbezirken) sind die aktuelle Ausgabe der städtischen Zusammenkünfte (die town meetings), die in den USA eine lange Tradition haben. Heute werden sie, dem zeitgenössischen Wertesystem entsprechend, von der örtlichen Polizei durchgeführt und geleitet. Etwa 6 000 Bürger Chicagos nehmen allmonatlich an diesen Treffen teil; um die 60 000 besuchen zumindest eine Zusammenkunft im Jahr; an die 250.000 haben in den letzten vier Jahren einer solchen Versammlung beigewohnt.1

Für die Intellektuellen in den Vereinigten Staaten ist die Vereinzelung ihrer Mitbürger ein faszinierendes Thema. Viele prominente Kritiker und etliche Bestsellerautoren behaupten, die zunehmende gesellschaftliche Isolierung und die kulturelle Aufwertung des Privatlebens gefährdeten die tatkräftigen Freiwilligenorganisationen und bedrohten die aktive Zivilgesellschaft, die Tocqueville so beeindruckt hatte. Scharenweise sind die Amerikaner in die Einfamilienhäuser der Vorstädte gezogen und haben sich in abgeschirmten Vierteln eingekapselt; hier haben sie private Sicherheitsdienste zur Bewachung ihrer Straßen angeheuert und sitzen wie angenagelt vor ihren Fernsehern. Und beklagen dabei den Niedergang des kommunalen Gemeinschaftslebens und fragen sich, wie es dazu kommen konnte, dass sie so wenig miteinander zu tun haben.

Im Sommer letzten Jahres hat Robert Putnam, Politikwissenschaftler in Harvard, die Debatte über den Zerfall des gemeinschaftlichen Lebens in den USA mit seinem Buch „Bowling Alone“ neu entfacht.2 Von der Beobachtung ausgehend, dass in Bowling-Hallen immer häufiger Leute anzutreffen sind, die nur für sich eine Bahn mieten, um alleine Bowling zu spielen, sieht der Autor im Niedergang der Bowling-Ligen die Metapher für eine generelle Atomisierung der Gesellschaft. Dabei übersehen jedoch viele, dass eine relativ neue Form US-amerikanischer Regierungs- und Gemeindeverwaltung, das Community Policing (bürgernahe Polizeiarbeit), die Menschen dazu gebracht hat, sich öffentlich zu engagieren und bei nachbarschaftlichen Aktivitäten dabeizusein. „Die Bürger suchen nach Wegen, in ihrer Gemeinde mitzumischen“, erläutert Joseph Brann, „und das Community Policing bietet ihnen eine solche Möglichkeit.“

Im Jahr 2000 haben in den USA über 90 Prozent der Polizeipräsidien für die Ausrichtung von Community Policing-Programmen Bundesmittel erhalten. In den Städten gedeiht dieses Konzept mittlerweile in verschiedenen Varianten: von informellen Nachbarschaftswachen oder Straßenpatrouillen bis hin zu staatlich geförderten Programmen, die Bürger und Polizei zusammenbringen sollen.

Die Amerikaner fahren auf diese Community Policing-Programme deshalb ab, weil sie es möglich machen, die anscheinend gegensätzlichen Bedürfnisse nach privater Sicherheit und nach Gemeinschaftsgefühl auf einen Nenner zu bringen – die Bedürfnisse also, die seit jeher den Kern der politischen Kultur ausmachen. Anders als man früher meinte, hat das Thema Kriminalität nicht dazu geführt, dass sich die Menschen ängstlich in ihre vier Wände zurückziehen, es hat sich vielmehr als Motor für soziale Integration und neu erwachten Bürgersinn erwiesen. Dieser Motor hat freilich sehr spezielle Eigenschaften. So zeigt etwa die Tatsache, dass bestimmte soziale und ethnische Gruppen von voreiligen Festnahmen und überharten Haftstrafen besonders stark betroffen sind, dass dieser Gemeinsinn auf Kosten derer erreicht wird, die – als unwürdig oder unfähig abgestempelt – sowieso keine Chance haben, dazuzugehören.

Chicago Alternative Policing Strategy (alternative Polizeistrategie für Chicago), kurz Caps, ist das breiteste und konzeptionell aufwendigste Programm für Community Policing. An ihm orientieren sich Stadtverwaltungen in aller Welt, die sich für eine solche Polizeireform interessieren. In Chicago wurde unter Führung von Bürgermeister Richard M. Daley das Community Policing zum Kernstück aller Bemühungen, die nachbarschaftlichen Bindungen zu stärken, städtische Versorgungssysteme effizienter zu gestalten und die einzelnen Behörden zu koordinieren. Die städtischen Polizeibeamten wurden zu allseits bekannten und immer erreichbaren Ansprechpartnern der Verwaltung. Und ihr Motto „Zusammen schaffen wir es“ dient mittlerweile als Slogan für den neuen Aufschwung einer Stadt, deren Bürgermeister am liebsten jeden Einwohner zum Amateurstreifenpolizisten machen würde.

Obwohl sich die beat meetings eigentlich auf Fragen der öffentlichen Sicherheit konzentrieren, besprechen die betroffenen Anwohner immer auch größere Problemzusammenhänge, etwa die Situation der Schulen oder die Qualität der lokalen Infrastruktur. Gewöhnlich ermuntern die betreuenden Beamten die Bürger zu regelmäßigen Treffen. „Ihr müsst schon etwas mehr tun, als nur das Auge und Ohr für eure Polizei sein“, erklärt ein Sergeant den Anwohnern bei einem Treffen, das ich besuchte. „Mischt aktiv mit in eurem Viertel. Geht zur Verhandlung, wenn dem Gesindel, über das ihr euch beklagt, der Prozess gemacht wird, und lasst den Richter wissen, dass ihr härtere Strafen wollt. Trommelt euren Stadtteilverein zusammen, zeigt Präsenz. Zieht Nachbarschaftswachen auf und patrouilliert durch die Straßen.“3 Ein 71-jähriger Anwohner pflichtet dem Sergeant bei: „Ich bin ein alter Mann und habe nicht einmal einen höheren Schulabschluss, aber wenn ich im Gerichtssaal sitze und der Richter merkt, dass die Öffentlichkeit sich rührt, dann bewirke ich was. Sie glauben gar nicht, wie viel wir damit erreichen.“

Um eine noch breitere Teilnahme anzuregen, hat Chicago mit Bundesmitteln zusätzliches Personal eingestellt, und zwar siebzig Leute, von denen allein fünfzig in den Stadtvierteln von Tür zu Tür gehen, die Anwohner an den Termin des nächsten beat meetings erinnern und sie ermuntern, an den Polizeiprojekten aktiv teilzunehmen. „Unser Job ist es, eine enge Bindung zum Gemeinwesen aufzubauen“, berichtet einer der Organisatoren. „Wir gehen in die Kirchen und an die Schulen und suchen Stadtteilsprecher, die wir trainieren können. Wir ermutigen zu Partnerschaften zwischen örtlichen Organisationen und der Polizei.“

Erst unlängst hat die Stadtregierung für diese Zusammenarbeit zusätzliche Anreize gesetzt, in Form privilegierter kommunaler Dienstleistungen für Anwohner, die mit der Polizei zusammenarbeiten. Wenn solche Bürger etwa das Abschleppen von Kraftfahrzeugen, die Entfernung von Graffiti, den Abriss von Gebäuden oder das Reparieren von Straßenschildern und Ampeln beantragen, wird das neuerdings von der zuständigen Polizeidienststelle schnell und unbürokratisch erledigt. „Städtische Dienstleistungen sollten eigentlich immer und für alle Bürger verfügbar sein“, erklärte ein City Worker in einem Interview, „aber sagen wir mal so, wenn man an Caps teilnimmt, dann geht es eben etwas schneller.“ Eine ähnlich klare Botschaft kommt aus dem Rathaus: Besuchen Sie die Polizeitreffen, nutzen Sie Ihre Beamten vor Ort als politische Makler – und Ihre örtliche Verwaltung wird Ihre Anliegen so schnell wie möglich bearbeiten. Wenn Sie nicht teilnehmen, wird Ihr Gesuch ganz unten im Stapel landen.“ Mit Zuckerbrot winkend und mit der Peitsche wedelnd verspricht die Stadt Chicago Beistand – aber nur Bürgergruppen, welche die Polizei unterstützen.

Kein Wunder, dass örtliche Aktivisten monieren, die polizeilichen beat meetings verdrängten bereits andere Formen nachbarschaftlicher Zusammenschlüsse und konkurrierten mit den Terminen der Community Groups (also der Vereine und Bürgerausschüsse). „Es ist schon mühsam genug, alle Vereine und deren Sprecher abzuklappern, die es hier schon gibt“, sagt ein verärgerter Stadtrat, „und es verändert Chicagos politische Kultur.“

Der Polizist als Sozialarbeiter

LOKALPOLITIKER, denen die Privilegien für die Teilnehmer der Community Policing-Programme ein Dorn im Auge sind, haben andere Bedenken: Wird ausgerechnet in der Stadt, die einst berühmt war für ihre bürgernahe politische Kultur und wo die Volksvertreter ihre Wähler und deren Interessen und jedes Rädchen im politischen Getriebe kannten, die Autorität der Stadträte demnächst auf die höheren Polizeibeamten übergehen? Hat der Revierpolizist schon den Bezirksvorsteher oder den Wahlkreisvorsitzenden ersetzt? Wird die „Demokratisierung“ des staatlichen Strafverfolgungssystems dazu beitragen, den größten Häftlingsboom in der amerikanischen Geschichte zu legitimieren?

Den Architekten der ersten Community Policing-Programme lagen solche Fragen völlig fern. Diese Gruppe von gut ausgebildeten Reformern wollte in den Siebzigerjahren mit dem Community Policing-Konzept ursprünglich eine organisatorische Strategie entwerfen, welche die zentralistische Struktur der Polizeipräsidien entschärfen, den Erfordernissen vor Ort besser entsprechen und die Probleme antizipieren sollte.4 In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde das Community Policing dann zunehmend von Bürgerinitiativen und Bürgerrechtssprechern unterstützt. Diese Kreise waren unzufrieden mit den herkömmlichen Polizeimethoden, erbost über die ausufernde polizeiliche Gewaltausübung und besorgt über eine vorwiegend auf strafrechtliche Mittel setzende Drogenpolitik. Im Community Policing-Programm sah man eine Möglichkeit, die örtlichen Polizeireviere von unten zu kontrollieren. Weshalb sollten die Bürger also nicht an dem Bemühen beteiligt werden, die Aufgaben ihrer örtlichen Polizei zu optimieren? Deren Arbeit sollte auf diesem Wege demokratischer gestaltet werden, und Community Policing bot sich als Strategie für einen solchen Wandel an.

Es waren aber nicht nur Bürgerrechtsgruppen und andere fortschrittliche Kräfte, die für eine Reform der Polizeipraxis eintraten. Schon bald kamen andere Gruppierungen hinzu, darunter auch konservative Befürworter einer Law-and-order-Politik und beinharte Drogenbekämpfer. Diese neuen Gruppen trugen dazu bei, dass sich eine Bewegung ohne klare Grundsätze und Ziele konsolidierte. In den frühen Neunzigern hatten sich Aktivisten unterschiedlichster politischer Couleur um das Konzept geschart und es so lautstark propagiert, dass man auch auf höchster Regierungsebene aufmerksam wurde – obwohl ziemlich unklar blieb, was Community Policing genau bedeuten sollte.

Heute ist Community Policing ein Schlagwort, das alles Mögliche bedeuten kann, ein inkohärentes Programm, mit dem sich so ziemlich alles rechtfertigen lässt: Repression gegen Jugendbanden und eine therapeutisch orientierte Rechtsprechung (Drogenverfahren, Verfahren wegen ehelicher Gewalt, Jugendstrafverfahren etc.), Streifenpatrouillen und computergestützte Drogenrazzien, Masseninhaftierungen und alternative Strafprogramme. Die Flexibilität des Konzepts, so die Politikwissenschaftler Skogan und Hartnett, erlaubt es den Stadtoberhäuptern, unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Interessen unter dem gemeinsamen Nenner des Community Policing zu fassen. So musste etwa Chicagos Bürgermeister Daley bei seiner letzten Wahlkampagne, die auf ethnisch sehr heterogene Wählergruppen zielte, auf so disparate Fragen wie Verbrechensbekämpfung, Rassenkonflikte und Haushaltskürzungen eingehen. Community Policing deckte letztlich alle seine Anliegen ab, argumentieren Skogan und Hartnett, denn damit konnte er erstens sein Verständnis für die Belange ethnischer Minderheiten demonstrieren, die für eine Polizeireform und erhöhte Stadtteilsicherheit eintreten, zweitens den konservativen Forderungen nach einer härteren Gangart in der Verbrechensbekämpfung entsprechen und drittens die politischen Interessen bedienen, die an staatliche Gelder für städtische Programme herankommen wollten.5

Der letzte Punkt verweist auf ein weiteres wichtiges Motiv, warum Lokalpolitiker für Community Policing-Programme eintreten: Letztere werden massiv mit Bundesmitteln unterstützt. Angesichts einer auf Bestrafung setzenden Rechtspolitik und der staatlichen Förderung innovativer Polizeiprogramme ist Daleys Bemühung, die Polizeireform zu einem Instrument für den gesellschaftspolitischen Wandel und die Wiederbelebung des Bürgersinns zu machen, ein höchst cleverer Schachzug.

Daley hatte aber auch, wie die Bürgergruppen seiner Stadt, allen Grund, um die Unterstützung der Strafverfolgungsorgane zu buhlen, denn in den Neunzigerjahren hatten Präsident Clinton und der Kongress andere staatliche Programme gekürzt, um die Polizei aufzupäppeln: Die Crime Bill von 1994 brachte rund 30 Milliarden US-Dollar in die Kassen der neuen Strafverfolgungsprogramme. Mit diesen Geldern wurden im Rahmen einer Polizeireform insgesamt 100 000 neue Stellen für Streifenbeamte geschaffen.

Indem Clinton Lebensmittelhilfen, AFDC6 und eine Reihe von Sozialprogrammen abschaffte, zwang er die Regierungen und Gemeinden, sich die erforderlichen Gelder über die Polizei zu beschaffen. Repression, nicht Umverteilung sollte die soziale Sicherheit gewährleisten – und das zur Zeit des US-Wirtschaftsbooms.

Seit 1994 bekamen fast alle Ebenen der US-Administration einiges Geld aus dem Crime Bill Budget ab. Cops-Direkter Joseph Brann erläutert die Aufgaben seiner Behörde ganz unverblümt: „Wir müssen unsere Organisationen und Regierungsbehörden umstrukturieren, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein. Es reicht nicht mehr aus, das Law Enforcement Program lediglich als Aufgabe der Polizei zu sehen. Wir müssen die Frage der polizeilichen Überwachung auch im Kontext der kommunalen Regierungsarbeit sehen.“

Inzwischen haben Repräsentanten der Wirtschaft und Bürgervereine gelernt, sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Eine hochrangige Chicagoer Caps-Funktionärin räumte ein: „Die Stadt zu einem sichereren Ort zu machen, das ist jetzt das vorrangige Organisationsprinzip der städtischen Regierungen.“ Das lässt sich auch am Jahresbudget des Polizeipräsidiums ablesen. Es beläuft sich auf über eine Milliarde Dollar und übersteigt damit die Mittel der anderen städtischen Behörden bei weitem. In Chicago sind die Aufgabenbereiche von Polizei und Regierung bereits eins geworden, erläutert Daley: „Wenn wir von polizeilichem Auftrag reden, dann reden wir auch von Lebensqualität [. . .] Und ich möchte alle städtischen Behörden dazu ermuntern, am Community Policing Program mitzuarbeiten.“

Die Aufgaben der US-Polizei waren in der Vergangenheit viel enger gefasst. Sie sollte in den Städten die Ordnung aufrechterhalten und Kontrolle gewährleisten, wo das Gesetz gebrochen oder übergangen wurde. Doch vor dem Hintergrund einer wachsenden Verunsicherung angesichts von Verbrechen und Gewalt (1990 waren 200 Millionen Schusswaffen in Umlauf) und der damit einhergehenden Begeisterung für die staatliche Strafverfolgung überließen es die US-Politiker seit Anfang der Neunzigerjahre ihren Polizeibehörden, die Fundamente der öffentlichen Sicherheit auszubauen.

Das Caps-Programm hat sicher substantielle Fortschritte bei der Polizeiarbeit gebracht und das Verhältnis zwischen den städtischen Behörden Chicagos und der Mehrheit der Einwohner verbessert. Der 1999 von der Illinois Justice Information Authority herausgegebene Bericht erklärt: „Chicago ist in Sachen erhöhter Stadtteilsicherheit unter Einbeziehung der Öffentlichkeit ein großes Stück vorangekommen. Praktisch jeder Einwohner Chicagos hat von dem Programm gehört, und alle, die damit zu tun haben, halten es für wirkungsvoll. Die Teilnehmerzahl bei beat meetings ist durchgehend erstaunlich hoch, und zwar auch in überwiegend ärmeren Gegenden mit hoher Kriminalitätsrate, was als weiterer bedeutender Durchbruch zu sehen ist.“7

Es besteht allerdings Grund genug, die allgemeineren sozialen und politischen Trends zu reflektieren, die mit dafür verantwortlich sind, dass die Community Policing-Programme auf der politischen Tagesordnung der USA so weit oben stehen. Die öffentlichen Gelder für die Polizei fehlen jetzt bei den umverteilungsorientierten Sozialprogrammen. Die US-Bundesregierung schaufelt Milliarden Dollar in den Strafvollzug, während sie die herkömmliche Sozialarbeit an den privaten Sektor delegiert. Und Polizeibeamte sollen zu Wächtern des öffentlichen Lebens werden.

Sozialwissenschaftler wie Skogan kommen freilich zu dem Ergebnis, dass Polizei- und Verwaltungsbeamte wenig Interesse haben, die gemeinschaftlichen und sozialen Dienstleistungen der städtischen Kommunen zu übernehmen. Schließlich werden sie auch im Rahmen ihrer Berufsausbildung auf solche Aufgaben nicht vorbereitet.

Vor allem aber bedeutet die Beförderung der Polizeiarbeit zu einer Methode sozialer Integration einen beängstigenden Trend in Richtung einer Gesellschaft, in der Misstrauen, Verdächtigung und Angst zu konstitutiven Prinzipien von Politik und Kultur werden. Community Policing mag das geeignete Mittel für die Strukturreform von Polizeipräsidien und zur Eindämmung lokaler Kriminalität sein. Wo es jedoch als Programm für die Erneuerung der Zivilgesellschaft auftritt, steht es für eine ausgesprochen traurige und hoffnungslose Form der Demokratie.

Es mag sein, dass die Amerikaner heute alleine kegeln gehen, aber auf Streife gehen sie gemeinsam, begeisterter als je zuvor. Ist dies die Gemeinschaft, die sie haben wollen?

aus dem Engl. von Dirk Höfer

* Professor für Soziologie an der North Western University, Illinois, USA.

Fußnoten: 1 „Community Policing in Chicago, Years Five and Six: An Interim Report“, Institute for Policy Research, Evanston (Illinois), Seite 3, www.nwu.edu/IPR/. 2 Vgl. Robert Putnam, „Bowling Alone“, New York (Simon and Schuster) 2000. 3 Der eindringlichsten Studie über das Caps-Programm zufolge wurden während der Reviertreffen „die Anwohner häufig darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, sich selbst in Blockvereinen, Wachen und Patrouillen zusammenzuschließen“. Vgl. Wesley Skogan und Susan Hartnett, „Community Policing, Chicago Style“, Oxford University Press (New York) 1997. 4 In „Community Policing, Chicago Style“, a. a. O., findet sich ein Überblick über die strukturellen Reformen und politischen Vorhaben, die die Community Policing-Programme vorantreiben sollten. 5 „Community Policing, Chicago Style“ (siehe Anm. 3), S. 20. 6 „Aid to Families with dependent Children“, so hieß die bis 1994 existierende Form der Sozialhilfe für allein erziehende Frauen in den USA. 7 „Community Policing in Chicago, Years Five and Six: An Interim Report“, a. a. O., S. 107.

Le Monde diplomatique vom 16.02.2001, von ERIC KLINENBERG