Über Vergewaltigung in Südafrika
Von JYOTI MISTRY *
SÜDAFRIKA hat laut Interpol-Statistik1 die weltweit höchste Vergewaltigungsrate. Vor allem in den Jahren nach der Abschaffung der Apartheid ist ein erschreckender Anstieg zu verzeichnen gewesen. Die Ursachen dafür sind in den sozioökonomischen Faktoren zu suchen, die erst mit der veränderten politischen Perspektive sichtbar geworden sind. Kaum jemand hatte wohl eine Ahnung davon, wie marode die moralische Verfassung der südafrikanischen Gesellschaft während der Apartheid war. Erst jetzt treten die bisher verdeckten Auswirkungen von Armut, Arbeitslosigkeit und Drogenmissbrauch zutage, werden die Einstellungen zu Frauen und das Verhältnis zur Macht deutlich, macht sich das rapide wachsende Bandenwesen wirklich bemerkbar.
Für die Menschen im Norden und im Westen, die schon lange mit Rechtsfragen vertraut sind und über die Dynamik wie die Psychologie der Macht in den Verhältnissen zwischen Männern und Frauen relativ offen sprechen, sind Schutz und Garantie von Rechten eine Selbstverständlichkeit. Die Demokratie in Südafrika jedoch ist gerade einmal sechs Jahre alt und baut zudem auf vollkommen neuen Wissensgrundlagen auf; sie lotet Grenzen aus und versucht herauszufinden, wie weit dieses Wissen (und also die Demokratie) trägt und ob es wirklich funktioniert.
Tiefes Misstrauen prägte während der Apartheid die Haltung der Schwarzen zu einem Staat, der für sie weder Schutz noch Sicherheit oder Zuflucht bot. Die Polizei funktionierte im Allgemeinen als verlängerter Arm des repressiven, nur der weißen Bevölkerung zugute kommenden Apartheidregimes. Wenn schwarze Frauen Anzeige wegen Vergewaltigungen oder Gewalt in der Familie erstatten wollten, blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als mitleidlosen weißen Polizisten ihre Geschichte zu erzählen. In diesem ganzen Bereich hatte sich, da der nationale Befreiungskampf im Vordergrund stand, ohnehin eine Kultur des Schweigens breit gemacht. Patricia McFadden, eine feministische Aktivistin aus Simbabwe, hat darauf hingewiesen, dass die afrikanischen Frauen ihre Rechte immer dem Kampf um die nationale Befreiung hintanzustellen hatten. Die doppelte Unterdrückung afrikanischer Frauen sowohl durch ein weißes wie durch ein schwarzes Patriarchat macht jedoch auch deutlich, dass die Rechte von Frauen als Menschenrechte wahrgenommen werden müssen.
Im Kampf gegen das Apartheidregime haben südafrikanische Frauen gelernt, worin ihre Rechte bestehen und wie sie diese verteidigen können. Sie wissen, dass es zu den Aufgaben des Staates gehört, seine Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Nun muss die südafrikanische Demokratie ihre Versprechen einlösen und die Rechte der Frauen als Menschen- und Bürgerrechte verankern und respektieren. Wenn vor allem schwarze Frauen Vergewaltigungen vermehrt anzeigen, bedeutet das auch, dass sie, die so wenig Vertrauen in die früheren staatlichen Institutionen hatten, auf das neue, von ihnen mitgeschaffene System setzen. Im Vergleich zu den schwarzen Frauen in Townships, auf dem Land und in den Städten waren weiße Frauen lange Zeit privilegiert. Inzwischen jedoch bekommen auch Weiße die allgemeine Missachtung gegenüber Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu spüren, sie sind ebenso verletzbar geworden wie schwarze Frauen.
Die Demokratie in Südafrika fördert vieles zutage, was lange verborgen war: Probleme, die mit beengtem Wohnraum, schlimmer Armut und Arbeitslosigkeit zusammenhängen, der Missbrauch von Frauen und Kindern, die frustrierten, betrunkenen und untätigen Vätern und Ehemännern ausgeliefert sind. Im Rahmen eines 1991 durchgeführten Projektes, das sich mit den Belangen schwarzer Jugendlicher in den Townships befasste, ging es auch um Vergewaltigungen, darum, ob sie zur Anzeige gebracht wurden und um begleitende Hilfsangebote. Wir haben Interviews mit vielen Opfern und ihren Familien geführt und haben auch einen Vergewaltiger dazu gebracht, mit uns zu reden. Die Berichte waren erschreckend. Mit einer einzigen Ausnahme hatten sich alle Vergewaltigungsopfer entschieden, keine Anzeige zu erstatten, weil die Polizei ohnehin nichts unternähme. Einige sprachen von höhnischen Kommentaren der Township-Polizisten, die den Frauen selbst die Schuld gaben: wenn sie ihre Männer sexuell nicht befriedigten, hätten sie es eben nicht anders verdient. Manche Frauen äußerten auch die Befürchtung, sich mit einer Anzeige nur neue Drohungen und Einschüchterungen durch Gangmitglieder oder Familienangehörige einzuhandeln.
Ich lebte damals in Hillbrow (Johannesburg), einem lebendigen, hauptsächlich von Künstlern bewohnten Viertel mit einer vitalen, bunten Clubszene. Hier wurden Frauen häufig Opfer des inzwischen über Südafrika hinaus bekannten Jackrolling. Dabei wird ein Mädchen meist durch Verabreichung von Drogen willenlos gemacht, entführt und dann von mehreren Männern ein Wochenende lang als Sexsklavin missbraucht. Diese perverse Praxis existiert in Südafrika bis heute, sie ist allerdings durch die Aufmerksamkeit der Medien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht worden, weshalb auch die Polizei nicht mehr tatenlos zusehen kann.
Vergewaltigung als Initiationsritus
BANDENVERGEWALTIGUNGEN nehmen besonders in der Region der Cape Flats (dem ärmsten Teil der Kapregion) weiterhin zu. Die Vergewaltigung und Ermordung der 14-jährigen Valencia Farmer im Juli 1999 schockierte die Menschen in ganz Südafrika und führte einer größeren Öffentlichkeit vor Augen, was für „Initiationsrituale“ bei Jugendbanden gang und gäbe sind und wie junge Männer beim Eintritt in eine solche Bande ihre „Männlichkeit“ unter Beweis stellen. Die zunehmende Präsenz dieser Gangs ist wohl ein Anzeichen für das starke Bedürfnis nach Identität in einer Gesellschaft, die außerstande ist, sich selbst zu befragen und sich über ihre Verarmung klar zu werden.
Besonders erschreckend ist das Verhältnis, das Jugendliche zu Frauen haben. Traditionell werden Frauen in Afrika wie Eigentum behandelt, sie gehören zum Besitz des väterlichen Haushalts und später zu dem des Mannes. Eine Untersuchung des Soul-City-Instituts für Gesundheit und Entwicklung zeigt nun, dass unter jungen Männern die Überzeugung vorherrscht, sie hätten ein unbestreitbares Anrecht auf den Besitz von Frauen. Kaltschnäuzig wird Vergewaltigung zur Normalität erklärt und damit entschuldigt, dass Männer ihr sexuelles Verlangen nicht unter Kontrolle haben. Aus dieser Sicht steht es den Frauen nicht zu, Sex abzulehnen. Frauen werden vielmehr verantwortlich gemacht für die ungezügelte Sexualität der Männer: wenn sie sich provokativ anziehen, dann „bekämen sie eben, was sie selbst haben wollten“.
Junge Mädchen, die sich einer sexuellen Annäherung entziehen, werden häufig durch den betreffenden jungen Mann und seine Freunde „bestraft“. Nicht selten reagieren sich junge Männer auch an älteren Frauen ab und erklären sich hinterher für nicht verantwortlich: „Wenn man junge Mädchen in engen Kleidern sieht, wird man sexuell erregt. Und wenn man dann an der nächsten Ecke auf eine Alte trifft, dann steckt man ihn einfach rein“ – so erklärte ein junger Mann in der Soul-City-Studie die Sache.2
Das große Freiheitsversprechen der Demokratie beinhaltet auch die Verantwortlichkeit des Individuums und bedeutet für viele Männer die erschreckende Einsicht, dass sie nicht einfach alles haben können, was sie wollen.
Seit Generationen finden sich Reichtum und Wohlstand von Männern verkörpert in der Polygamie – genauer: in der Anzahl der Frauen, die sich ein Mann leisten kann. Die gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Südafrika werfen jedoch auch die Frage auf, wie relevant die Polygamie heute noch sein soll. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich will hier nicht für die Abschaffung der Polygamie plädieren, sondern halte im Gegenteil ihre Anerkennung für notwendig und fundamental, damit eine neue Nation entstehen und wachsen kann, die der südafrikanischen Tradition und Kultur gerecht wird.
Die herrschende sexuelle Anspruchshaltung und der afrikanische Machismo müssen durch staatliche Maßnahmen auf der einen und durch lokale Initiativen auf der andern Seite aufgeweicht und allmählich verändert werden, damit auch im Postapartheid-Südafrika die Grundwerte der Menschenrechte wirklich zur Geltung kommen. Eine Veränderung der Einstellungen wird nur eintreten, wenn Südafrika mit strengeren Gesetzen gegen Vergewaltiger vorgeht, die Opfer besser schützt und die Ausbildung und Erziehung von Jungen eher einfühlsamen Männern anvertraut. Erste Anzeichen dafür, dass sich die Dinge verändern, gibt es bereits, die „Männer gegen Vergewaltigung“ etwa, oder die Aktivitäten von Frauen in den Townships gegen Vergewaltiger und Banden, oder auch politische Initiativen, die schärfere Strafen für überführte Vergewaltiger durchzusetzen versuchen.
Wer über Sexualität in Südafrika sprechen will, kommt an einer Beschäftigung mit dem Thema HIV und Aids natürlich nicht vorbei. Unabhängig von Präsident Mbekis umstrittenen Stellungnahmen zur Aidsepidemie in Südafrika3 belegen Statistiken, wie schlecht die Bevölkerung über das HI-Virus, seine Übertragungswege und über Behandlungsmöglichkeiten informiert ist. Traditionelle afrikanische Heiler haben bislang wenig dazu beigetragen, bestimmte fatale Vorstellungen aus der Welt zu schaffen: In Südafrika herrscht der verbreitete Irrglaube, dass Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau oder einem Kind ein sicherer Weg sei, um das Virus loszuwerden. Nicht selten müssen Frauen zusehen, wie ihre Männer oder Freunde sich an ihren Kindern vergreifen.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Aids-Research-Council zeigt den Teufelskreis dieses soziosexuellen (Miss-)Brauchs auf: Die wirtschaftlich abhängigen Frauen sind außerstande, sich und ihre Kinder vor den sexuellen Übergriffen ihrer Männer zu schützen. Denn wenn sie Anzeige gegen ihre Männer erstatten würden, kämen diese ins Gefängnis und die Familie hätte keinen Lebensunterhalt mehr. So unvorstellbar es auch scheinen mag, dass Frauen und Mütter auf diese Weise dem Missbrauch ihrer Kinder zusehen – ihre verzweifelte wirtschaftlich-soziale Lage lässt ihnen einfach keinen anderen Ausweg.
Damit sich die Situation verändert, reicht es nicht aus, die Frauen über ihre Rechte aufzuklären. Vielmehr müssen Bedingungen geschaffen werden, die ihre Unabhängigkeit und Freiheit wirklich ermöglichen. Der kürzlich erschienene Artikel „Human Rights – The Next Step“4 leuchtet aus, in einem wie komplexen Umfeld Menschenrechtsinitiativen arbeiten. So finden etwa bisher die sozialen und ökonomischen Bedingungen, die zur ständigen Verletzung der Menschenrechte führen, in der Agenda der Menschenrechte kaum Beachtung. Außerdem kommt es darauf an zu klären, in welchem konkreten Verhältnis der Korpus der Menschenrechte zu dem der sozioökonomischen Rechte steht. Andernfalls liefe der Kampf für die Menschenrechte Gefahr, ausgerechnet diejenigen aus dem Blick zu verlieren, die doch eigentlich unter ihrem Schutz stehen sollen. Die feministische Philosophin Martha Nussbaum5 erklärt: „Wer sich mit der Frage beschäftigt, wie dem Recht der Frauen auf körperliche Unversehrtheit zur Durchsetzung verholfen werden kann, muss sich über die materielle Seite des Lebens ebenso viele Gedanken machen wie über Gesetze. Warum kann eine Frau einen Ehemann, der sie schlägt, nicht verlassen? Sehr oft deshalb, weil sie kein Recht auf Eigentum hat und also kein Darlehen aufnehmen kann.“ Im Falle Südafrika ist die Sache insofern noch elementarer, als bezahlte Arbeit nach wie vor weitgehend den Männern vorbehalten ist. Kein Geld der Welt wird allerdings ausreichen, um einer vergewaltigten Frau die physische und emotionale Sicherheit in der Gesellschaft wiederzugeben. Deshalb muss der Staat Sorge tragen, dass er Frauen, die seinen Schutz benötigen, nicht neuerlich zu Opfern macht. Das heißt vor allem: AZT6 muss Vergewaltigungsopfern zugänglich sein.
Südafrika bahnt sich, wie viele andere junge Demokratien auch, seinen Weg zu mehr Recht, mehr Bildung und Aufklärung. Männer und Frauen haben inzwischen angefangen, eine bessere und selbst bestimmte Zukunft des Landes zu gestalten. Sie alle brauchen jetzt die Erfahrung, dass die Demokratie auch wirklich funktioniert. Frauen und Kinder müssen endlich vor Missbrauch geschützt werden und sich auf die Unterstützung durch den Staat verlassen können. Schon viel zu lange haben Frauen die Missachtung der Männer ertragen und aushalten müssen, dass Transformationsprozesse auf ihrem Rücken ausgetragen wurden.
dt. Uta Ruge
* Soziologin, Kapstadt