16.03.2001

Im Dschungel der Pharmalobby

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Im Dschungel der Pharmalobby

Von MOHAMED LARBI BOUGUERRA *

VOR kurzem starb im Alter von 90 Jahren in Salisbury, Connecticut, die gelernte Krankenschwester Anne Sheafe Miller. Sie war der erste Mensch, der dank Alexander Flemings „Wundermittel“ Penicillin im März des Jahres 1942 von einer Streptokokkeninfektion geheilt wurde. Das war in jenen schönen fernen Zeiten, als es noch keine Patente auf Medikamente gab. Heute liefern sich die Unternehmen der Pharmaindustrie vor Gericht heftige Gefechte um Patente, Lizenzen und Marktanteile. Allesamt scheinen sie nur noch das eine Ziel vor Augen zu haben: ihre astronomischen Gewinne. Nicht umsonst titelte eine Schweizer Tageszeitung, der Multiple-Sklerose-Markt sei „1,4 Milliarden schwer“1 .

Um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten, müssen die großen Pharmalabors jedes Jahr in den Vereinigten Staaten ebenso wie in Europa und Japan zwei bis drei neue Präparate auf den Markt bringen, die für mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz gut sind.2 Ohne die Profitgier und den harten Wettbewerb wären Renditen von 20, 30, ja sogar 40 Prozent für die Aktionäre überhaupt nicht realisierbar. Diese Bedingungen fördern aber auch gesetzwidrige Praktiken wie Preisabsprachen, Kartellbildungen und riskante Medikamentenversuche in Ländern der Dritten Welt oder an gesellschaftlichen Randgruppen und Menschen in prekären Lebensverhältnissen, wie Drogensüchtige, Flüchtlinge oder andere.3

Ende Oktober 1999 warf Präsident Clinton persönlich den Pharmakonzernen vor, dass sie die Preise für Medikamente, die in Kanada die Hälfte kosten, in den USA künstlich in die Höhe treiben. Dieselben Konzerne lehnen im Übrigen die Reform der Krankenversicherung für alte Menschen (Medicare) ab, um ihre Preispolitik nicht offen legen zu müssen. Um nur ein Beispiel für die Geschäftslage zu nennen: 1999 hat der amerikanische Konzern Schering-Plough einen Reingewinn von 2,1 Milliarden Dollar erzielt!

1995 ergab eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, dass von den vierzehn aus Sicht der Industrie vielversprechendsten Medikamenten, die in den letzten 25 Jahren auf den Markt kamen, elf aus staatlich finanzierten Forschungsprojekten hervorgegangen sind. Die Augentropfen Xalatan zum Beispiel, die zur Behandlung des grauen Stars verschrieben werden und 1999 für 507 Millionen Dollar Umsatz sorgten, wurden mit Hilfe einer staatlichen Förderung von 4 Millionen Dollar an der Columbia University entwickelt. „Der Steuerzahler hat von dieser Investition nicht profitiert“, schreibt die New York Times im Zusammenhang mit diesem gerade erst vier Jahre alten Präparat, das für die Herstellerfirma Pharmacia Corporation „flüssiges Gold“ ist.4

Profitable Patente, globale Produktstrategien

DIE Fusionswut der Pharmaunternehmen lässt sich jedenfalls mit den enormen Gewinnen und dem bevorstehenden Auslaufen von Patenten auf höchst einträgliche Produkte erklären.5 Ein Beispiel für diesen Trend ist die am 17. Januar 2000 angekündigte Fusion von Glaxo-Wellcome mit SmithKline Beecham – mit einem Marktanteil von 7,3 Prozent und einem Jahresumsatz von 25 Milliarden Dollar weltweit die Nummer eins auf dem Markt für Medikamente. In dieser Branche, die durch neue Entdeckungen auf dem Feld der Genomik, aber auch durch die Globalisierung des Handels fantastische Gewinne verspricht, kommt es immer häufiger zu Umstrukturierungen und Entlassungen. So wurden fast alle der 1 600 Angestellten von Wellcome im Zuge der Fusion mit Glaxo 1995 vor die Tür gesetzt. Auch mehr oder weniger feindliche Übernahmeangebote sind im Pharmabereich an der Tagesordnung. Der amerikanische Kongress gab im Übrigen eine Untersuchung über die Finanzpraktiken der Branche in Auftrag, die ständig steigende Profite zu verzeichnen hat – und diese niedriger versteuert als andere Industriezweige.

Haben wir es hier womöglich mit einem notwendigen Übel zu tun, das man in Kauf nehmen muss, weil Innovationen anders nicht finanziert werden können? Die französische Regierung ließ 1999 auf der Grundlage tatsächlich erbrachter ärztlicher Dienstleistungen 2 663 Medikamente evaluieren und senkte daraufhin bei über 100 Präparaten den Rückerstattungsanteil. Die Zeitschrift Prescrire, eine der wenigen von Pharmalabors unabhängigen Medizinzeitschriften, kam in einer Untersuchung von 223 neu auf den Markt gebrachten Arzneimitteln zu dem Schluss, dass gerade einmal neun von ihnen eine echte Weiterentwicklung bedeuteten.6

Zur gleichen Zeit versuchte die aus der Fusion von Rhône-Poulenc und Hoechst hervorgegangene Aventis, deren Profite mit 7 Prozent (1999) weit hinter den 20 Prozent von Unternehmen wie Merck, Pfizer und Warner-Lambert zurückbleiben, sich von ihrem eigenen Forschungszentrum in Romainville bei Paris zu trennen und mit DuPont eine europaweite Zusammenarbeit einzugehen. Nur durch die Proteste der Belegschaft wurde dieses Vorhaben gestoppt.

Losec ist das weltweit meistverkaufte Mittel gegen Magengeschwüre (4,8 Milliarden Dollar jährlich), es spielt 40 Prozent des Umsatzes der englisch-schwedischen Unternehmensgruppe AstraZeneca ein, und deren Patent auf Losec läuft in diesem Jahr aus. Seit zwei Jahren bemüht sich AstraZeneca nun schon, die Vermarktung eines inhaltsgleichen Produktes der konkurrierenden Azupharma, einer Tochter der schweizerischen Novartis, verbieten zu lassen. Der Rechtsstreit zwischen den beiden Firmen wird vor internationalen Gerichten in Deutschland und Australien ausgefochten. Nicht ohne Grund, denn schließlich brechen die Verkäufe eines patentgeschützten Medikaments in der Regel ein, und zwar um durchschnittlich 75 Prozent innerhalb von zwei Jahren, sobald ein Generikum, ein Präparat mit der gleichen Zusammensetzung unter anderem Namen, auf den Markt kommt.

Solche Schwierigkeiten lassen sich auf verschiedene Weisen umgehen: Ein Erzeuger kann zum Zeitpunkt des Auslaufens seines Patents selbst ein Generikum in Umlauf bringen und dann sowohl mit seinem Original als auch mit der Kopie Gewinne machen. Zudem betreiben die Hersteller intensive Lobby-arbeit, um die Laufzeit ihrer Patente zu verlängern. Dies gilt beispielsweise für Schering-Plough, das eine Verlängerung seiner 2002 auslaufenden exklusiven Nutzungsrechte für das Antiallergikum Clarityne (2 Milliarden Dollar Gewinn pro Jahr) um weitere drei Jahre fordert. Das Generikum würde einen halben Dollar kosten, während das Mittel gegenwärtig für 2,50 Dollar verkauft wird. Um seinen Anteil zu sichern, hat der amerikanische Pharmariese großzügige Summen in die Wahlkämpfe fließen lassen und sein Budget für die Lobbyarbeit zwischen 1996 und 2000 von 1,9 auf 4,3 Millionen Dollar aufgestockt.7

Die beiden Großkonzerne Warner-Lambert und Pfizer streiten sich ebenfalls im Zusammenhang mit ihrer Fusion vor den Gerichten des amerikanischen Bundesstaats Delaware mit American Home Products über die Nutzung des Patents von Lipitor, einem Cholesterin-Medikament, an dem Pfizer 1999 immerhin 3,6 Milliarden Dollar verdiente. Und auch Viagra, ebenfalls ein Pfizer-Produkt, könnte bald Konkurrenz durch Generika bekommen, nachdem ein britisches Gericht im November 2000 auf Betreiben von Eli Lilly, einem Mitbewerber von Pfizer, in einem Urteil die Nichtpatentierbarkeit der Erektionsfunktion verfügt hat. Dieses Urteil, das das Wissen über biologische Grundfunktionen zu Allgemeinbesitz erklärt, könnte weit reichende Folgen haben, zumal sich die Pharmaindustrie gerade daran macht, die DNA-Banken für sich zu nutzen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die verhängnisvollen Auswirkungen der Globalisierung. China beispielsweise drohen Handelssanktionen, weil dort eine Senkung der Arzneimittelpreise per Dekret geplant ist und dies einer Verletzung der internationalen Handelsabkommen gleichkäme. 60 Prozent des chinesischen Gesundheitsbudgets fließen in Medikamente, während es in den meisten Industriestaaten zwischen 10 und 15 Prozent sind.8 „Pharmaunternehmen, Krankenhausverwaltungen und Ärzte haben sich zu einer mächtigen Vereinigung formiert“, erklärt Qiu Renzong, Professor für Bioethik an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. „Wir stellen Arzneimittel her, die genauso wirksam sind wie die aus dem Ausland importierten Präparate, aber unsere Ärzte verschreiben sie nicht mehr.“ Die New York Times ergänzt seine Aussage mit dem Hinweis, dass schließlich „ausländische Pharmakonzerne und Hersteller medizinischer Ausrüstungen den chinesischen Ärzten die Ausbildung im Ausland bezahlen [. . .] und für die Flug- und Hotelkosten von Kongressteilnehmern aufkommen“9 .

In einem Bericht über die Aktivitäten des Transatlantic Business Dialogue (TABD) in Brüssel, einer Pressuregroup der hundert wichtigsten westlichen Unternehmen, beschrieb der Guardian Weekly Ende Mai 2000 den Einfluss dieses Zusammenschlusses, den er als „Cruise Missile der Globalisierung“ bezeichnete und der auf dem Prinzip beruht: „Einmal anerkannt, überall gültig.“ Dazu ein Beispiel: „Vor einigen Jahren stellte Pfizer fehlerhafte Herzklappen her, die 165 Patienten das Leben kosteten. Die Europäer sind natürlich alarmiert bei der Vorstellung, diese Herzklappen akzeptieren zu müssen, bloß weil die amerikanische Nahrungsmittel- und Medikamentenbehörde sie abgesegnet hat.“10

Skrupelloses Geschäft mit der Gesundheit

GLEICHZEITIG zahlt American Home Products 4 Milliarden Dollar Entschädigung an rund 4 000 Konsumenten eines Diätproduktes. Diese hatten das Unternehmen verklagt, weil sie nach der Einnahme einer Abmagerungspille Herzbeschwerden bekamen. In Geschäftskreisen schert man sich herzlich wenig um Sonderbestimmungen für den Gesundheitsbereich oder um Sicherheitsvorschriften einzelner Staaten und setzt sich im Einzelfall auch über Vorschriften für die Herstellung medizinischer Präparate, ja sogar von Impfstoffen hinweg.11

Auch das Wettbewerbsrecht wird mit Füßen getreten, wie das 1999 geplatzte Vitaminkartell zeigt, das eine Vielzahl von Prozessen in den Vereinigten Staaten, in Australien und in Kanada nach sich zog, die zurzeit noch immer in Gang sind. Die verhängten Strafen sind enorm: Pfizer stimmte der Zahlung von 20 Millionen Dollar wegen Verletzung des Antitrust-Gesetzes in den Jahren 1989 bis 1994 zu. Drei japanische Pharmaunternehmen (Takeda Chemical, Eisai Co. und Daiichi Pharmaceuticals) haben sich dazu bekannt, Preisabsprachen vorgenommen und den Weltvitaminmarkt im Pharma- wie im Lebensmittelbereich unter sich aufgeteilt zu haben. Die Strafe beläuft sich auf 137 Millionen Dollar.12

Hoffmann-LaRoche, die Tochter der schweizerischen Roche-Holding, und die deutsche BASF erklärten sich gegenüber amerikanischen Gerichten bereit, zur gütlichen Beilegung des Verfahrens 500 beziehungsweise 222 Millionen Dollar Strafe zu zahlen. Die Ermittlungsbeamten warfen den Europäern vor, sich schon 1991 mit den Japanern abgesprochen zu haben. Beide Seiten trafen regelmäßig im Rahmen des fiktiven Unternehmens „Vitamins Inc.“ zusammen, um die geografischen Regionen untereinander aufzuteilen und Preise sowie Produktionsmengen abzusprechen.13 Die durch dieses Vorgehen geschädigten Unternehmen, darunter die deutsche Bayer AG und die amerikanische Quaker Oats, sollen außergerichtlich 1,2 Milliarden Dollar an Entschädigung für die entgangenen Handelsanteile erhalten.

Während sich mit der Genomik ungeahnte Möglichkeiten zur Bekämpfung von Krankheiten eröffnen, wird es immer dringlicher, die Pharmaindustrie zu mehr Transparenz und zu moralischem Handeln zu nötigen, damit nicht allein die Aktienkurse, sondern die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen im Zentrum der Forschung stehen. Immerhin werden die Investitionen für Marketing und Verkauf einschließlich der Verwaltungskosten auf durchschnittlich 35 Prozent der Unternehmensumsätze geschätzt. Damit liegen sie glatt doppelt so hoch wie die für Forschung und Entwicklung vorgesehenen Budgets . . .

dt. Birgit Althaler

* Universitätsdozent, Autor von „La Pollution Invisible“, Paris 1997 (PUF).

Fußnoten: 1 Le Temps, Genf, 2. März 2000. 2 Le Monde, 10. Oktober 2000. 3 Vgl. Le Matin, Genf, 27. Mai 2000. Siehe auch die bemerkenswerte sechsteilige Untersuchung in der Washington Post („The Body Hunters“, Dezember 2000) über Experimente, die Pfizer 1996 in Nigeria durchführte. http://washingtonpost.com/wp-dyn/world/issues/bodyhunters/. 4 The New York Times on the Web, 23. April 2000. 5 1999 sind die Patente von 36 Medikamenten, die zusammen jährlich 1,9 Milliarden Dollar Umsatz erzielt haben, ausgelaufen. 6 Prescrire, 18. Januar 2001. 7 „Profit at any cost“, Down to Earth (Delhi), Bd. 8, Nr. 16, 15. Januar 2000. 8 Financial Times, London, 1. Juni 2000. 9 The New York Times on the Web, 19. November 1999. 10 The Guardian Weekly, London, 26. Mai 2000. 11 Siehe „US Request on Vaccines Ignored by Drug Firms“, The International Herald Tribune, 9. Februar 2001. 12 Chemical and Engineering News, 20. September 1999. 13 The New York Times on the Web, 10. September 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.03.2001, von MOHAMED LARBI BOUGUERRA