Die Schlacht um Pillen und Patente
Von PHILIPPE DEMENET *
Die Südafrikanerin Bongiwe Mhlauli leitet ein Netzwerk für Basisgesundheitsvorsorge in Mount Frere (Transkei). Sie weiß, wo für ein Land, in dem nach offiziellen Angaben 4,2 Millionen Menschen HIV-infiziert sind, die Prioritäten liegen: „Unser Problem ist in erster Linie die Armut mit all ihren Begleiterscheinungen wie Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen, Schmuggel, zu frühe sexuelle Beziehungen etc.“ Mhlauli ist eine von 1 500 Aktivisten der Basisgesundheitsvorsorge aus 95 Ländern, die im Dezember 2000 an der ersten Weltkonferenz für die Gesundheit der Menschen (People’s Health Assembly, PHA)1 in Savar (Bangladesch) teilgenommen haben.
Seit den Siebzigerjahren setzen sich diese Basisaktivisten für ein Konzept von Lebensqualität ein, das der sozialen Gerechtigkeit, den kulturellen Werten der einheimischen Bevölkerung und dem Umweltschutz verpflichtet ist. Heute sehen sie ihre Errungenschaften weltweit dahinschwinden. Daran haben auch die vollmundigen Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nichts ändern können: Achtundzwanzig Jahre ist es her, dass die WHO es auf der Konferenz von Alma Ata als das „vorrangige soziale Ziel“ der internationalen Gemeinschaft bezeichnete, „bis zum Jahr 2000 allen Völkern der Erde einen Gesundheitsstandard zu ermöglichen, der ihnen ein sozial und wirtschaftlich lohnendes Leben erlauben soll“.
In den 35 Jahren, die der Biologe David Werner2 mittlerweile das Projekt Piaxtla in der Sierra Madre Occidental in Mexiko leitet, hat er hunderte von Gesundheitsberatern ausgebildet. Sie helfen dann ihrerseits den Dorfbewohnern, ihre sozialen und gesundheitlichen Probleme zu erkennen und zu lösen. Seit zehn Jahren wird Werners Arbeit allerdings durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) untergraben. „Zwei Millionen Bauern mussten in die Slums der Großstädte abwandern, wo sie für Hungerlöhne arbeiten. Die Unterernährung von Kindern nimmt wieder zu. Wir werden von einer regelrechten Welle von Verbrechen, Drogen und Armut überrollt.“
Erfolge der traditionellen Medizin
IN den Augen vieler Dorfbewohner ist die „westliche Medizin“ nicht nur unbezahlbar, sondern auch etwas sehr Fremdes. Was also ist zu tun? Der indische Arzt Dr. Prem, der sich vor 25 Jahren, unmittelbar nach Abschluss seines Studiums, in dem Dorf Tamil Nadu niedergelassen hat, statt wie seine Studienkollegen nach England zu emigrieren, konnte sich von der Wirksamkeit des abgekochten Phyllanthus niruri bei der Bekämpfung von Gelbsucht und des indischen Safranöls bei der Behandlung von Hautkrankheiten überzeugen. „Ich sage den Leuten immer, dass sie sich mit Zitronenmelisse einreiben sollen“, versichert Dr. Prem. „Das ist die beste Vorbeugung gegen die Malariamücken.“
Freilich können Heilpflanzen in der Behandlung von Tuberkulose oder Lungenentzündungen die allopathische Medizin nicht ersetzen. „Wir setzen beide Heilverfahren ein, verbinden die traditionelle Heilkunst mit der chemischen Medizin“, betont Dr. Ugo Icu, der 1978 in Guatemala, wo 45 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben, die Vereinigung von Gemeinschaftseinrichtungen (Asociación de servicios comunitarios) gegründet hat. Er schafft es zum einen, durch Großeinkäufe für seine Dorfapotheken niedrige Preise für Generika3 zu erzielen, und zum anderen sammelt und dokumentiert er die seit Generationen überlieferten Erfahrungen von Gesundheitsberatern und Hebammen, die er Jahr für Jahr ausbildet. Doch die guatemaltekische Regierung, die einen lächerlichen Betrag für Gesundheitsbelange ausgibt, will das Gesundheitswesen in die Hände von privaten Subunternehmen geben. „Der reiche Erfahrungsschatz unserer Mayavorfahren in der traditionellen Medizin wird bei diesen Plänen überhaupt nicht berücksichtigt“, stellt Dr. Icu mit Bedauern fest.
„Bei uns auf den Philippinen fragen wir die Alten, um von ihnen wieder zu lernen“, knüpft Wilma Salinas, Verantwortliche der Gesundheitsdienste der Region San Luis auf Mindanao, an ihren Vorredner an. Das Studium der traditionellen Medizin ist auf der Insel, die unter dem Bürgerkrieg ebenso leidet wie unter dem Rückzug des Staats aus dem Sozialbereich, „zu einer Notwendigkeit geworden, da die Arzneimittel aus dem Westen unbezahlbar sind“. Die multinationalen Konzerne, aus deren Produktion 72 Prozent der auf den Philippinen erhältlichen Medikamente stammen, diktieren die Preise. So kostet beispielsweise Amoxizillin, eines der 270 von der WHO als unentbehrlich aufgelisteten Arzneimittel, 22 Dollar pro Hunderterpackung – in Kanada dagegen bekommt man die gleiche Menge für nur 8 Dollar.
Zumindest verschiedene Heilpflanzen wie Lagundi (Vitex negundo), deren Absud gegen Husten und Fieber verabreicht wird, die gegen Malaria wirkende Pflanze Dita bask oder die bei erhöhtem Blutdruck und Nierensteinen verschriebene Sambong (Blumea balsamifera) sind gratis erhältlich und allen Einwohnern frei zugänglich. Doch wie lange noch?
„Die Multis haben sich ein Patent auf die Sambong-Pflanze beschafft! Sie machen daraus neuerdings Tabletten“, erklärt Wilma Salinas besorgt. Ähnliches passiert mit tausenden anderer Heilpflanzen des Südens. „Die Phyllanthus niruri ist jetzt auch patentiert und wird zu Tabletten verarbeitet, die sich die Einheimischen niemals werden leisten können“, empört sich Dr. Prem.
Am Rand der PHA-Konferenz zirkulierte eine Liste mit Patenten auf Heilpflanzen, die von der Stiftung für wissenschaftliche, technologische und ökologische Forschung in Neu-Delhi erstellt wurde. Allein auf den indischen Senfspinat (Brassica campestris) wurden 16 Patente vergeben, die vom amerikanischen Unternehmen Calgene Inc., aber auch von der französischen Rhône-Poulenc angemeldet wurden. In Indien ist die Pflanze seit ayurvedischen Zeiten als Heilmittel gegen Blutungen, Appetitlosigkeit, geistige Verwirrtheit, Grindflechte, Würmer, Rheuma, Bronchitis und Grippe bekannt. Auf den Niem-Baum (Azadirachta indica), den die Bauern auch „Gottesgabe“ nennen und sowohl zur Körperpflege wie auch zur Herstellung eines natürlichen Schädlingsbekämpfungsmittels verwenden, wurden sogar 62 Patente angemeldet.
Wie zu Kolonialzeiten sichern sich die westlichen Pharmaunternehmen und Forschungslabors die Dienste von Einheimischen, Wissenschaftlern und Naturheilern. So stellt etwa die Firma Hoechst intensive Forschungen im Bereich der ayurvedischen Medizin an. Und bei alledem gehen die eigentlichen Besitzer dieser Schätze – Amazonasbewohner, Adivasi und Völker der Pazifikinseln – in der Regel leer aus. Auch dass die 1993 in Kraft getretene Artenschutzkonvention, die von 169 Ländern (mit Ausnahme der USA) ratifiziert wurde, eine „faire“ Teilung vorsieht, hat daran nichts geändert.
„Die amerikanische Gesetzgebung und die Welthandelsorganisation weigern sich einfach, den Wert nichtwestlicher Wissenschaften anzuerkennen“, beklagt Mira Shiva, Aktivistin einer indischen Freiwilligenvereinigung. Seit tausenden von Jahren tragen die Inder Safranpulver oder -salbe auf Verletzungen und Schnittwunden auf. Aber am 28. März 1995 erteilte das amerikanische Patentamt zwei Forschern der Universität Mississippi das ausschließliche Eigentumsrecht an der „Methode zur Unterstützung der Wundheilung durch Auftragen von Safran“.
Enteignung gemeinschaftlichen Wissens
IN einem verzweifelten Kampf prozessierte der Indische Rat für Wissenschaftliche und Technische Forschung vor einem amerikanischen Gericht gegen dieses Patent und legte zum Beweis Sanskrittexte sowie einen medizinischen Artikel aus dem Jahr 1953 vor, die belegen, dass das traditionelle Wissen der Inder viel älter ist als die Erkenntnisse der amerikanischen Wissenschaftler. Alles in allem dauerte es zwei Jahre, bis das Monopol der beiden Forscher wieder außer Kraft gesetzt werden konnte.
Dieser Sieg bleibt jedoch ein Einzelfall. Weil es ihnen an Zeit und Geld fehlt, können die indischen, philippinischen, guatemaltekischen und amazonischen Aktivisten wenig ausrichten gegen die tausendfache Patentierung geraubten Wissens. Ihre ganze Hoffnung setzen sie nun darauf, nach der Verabschiedung von Gesetzen über geistiges Eigentum das Wissen ihrer Vorfahren durch neue Rechtsinstrumente schützen zu können. Kenia will beispielsweise das Konzept „einheimischen Wissens“ in die Gesetzgebung einführen. Thailand dagegen musste sich dem Druck der USA und der WTO fügen – und auf solche Maßnahmen verzichten. In Indien, wo 7 500 Heilpflanzen erfasst sind, versuchen Bürgerbewegungen die Regierung durch verschiedene Initiativen dazu zu bewegen, den Begriff des „allgemeinen Wissensstands“ (prior art) in die Revision des Gesetzes über geistiges Eigentum aus dem Jahr 1970 aufzunehmen.
Einige in der Grundversorgung tätige praktische Ärzte haben inzwischen „Register gemeinschaftlichen Eigentums“ erstellt, um Grundlagen für eine neue Auffassung des Rechts des geistigen Eigentums zu schaffen. In ein solches Register sind etwa die vom Vivekananda Girijana Kalyana Kendra (Projekt für integrierte Stammesentwicklung) in einem 100 Kilometer von Mysore (Karnakata) entfernten Indigenagebiet erfassten 220 Heilpflanzen eingetragen worden. „Keine dieser Pflanzen, mit denen die Dorfbewohner ein Drittel ihrer häufigsten Erkrankungen heilen können, wurde bis jetzt offiziell patentiert. Wir werden es auch nicht zulassen, dass sich irgendjemand im Auftrag der multinationalen Konzerne ihrer bemächtigt. Sie sind und bleiben Gemeinschaftseigentum“, meint warnend Dr. Sundarshan, der Leiter des Projekts.
Auch auf die Generikafabriken, die in Indien, Brasilien und Thailand noch existieren, sehen die Gesundheitsaktivisten schwierige Zeiten zukommen. Das in Indien hergestellte Aidsmedikament AZT kostet ein Fünftel des Preises in den Vereinigten Staaten, das Malariamittel Lariam ein Achtel. Doch die Herstellerländer sollen klein beigeben und bis zum Jahr 2005 eine Gesetzgebung einführen, die dem WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Rechte an geistigem Eigentum (Trips) von 1995 entspricht.
Mit diesem Abkommen wurde die Patentfrist für Medikamente auf zwanzig Jahre festgesetzt. Zwar sind gewisse Schutzbestimmungen wie Zwangslizenzen und Paralleleinfuhren vorgesehen. Erstere besagen, dass ein Land einem Patentinhaber aus Gründen des öffentlichen Interesses, etwa im Fall von Epidemien oder überhöhten Preisen, eine Zwangslizenz vorschreiben kann. Diese erlaubt den Erwerb von Medikamenten im Ausland, wenn sie dort billiger sind als auf dem inländischen Markt. Doch wer auch immer im Süden versucht, diese für die Gesundheitsversorgung elementaren Schutzmaßnahmen in die Gesetzgebung aufzunehmen, wie dies im Norden gang und gäbe ist, wird von den Vereinigten Staaten, von der Weltbank, von gewissen europäischen Staaten und – nicht zuletzt – von der Pharmalobby massiv unter Druck gesetzt.
„Tatsächlich sieht das Abkommen die Möglichkeit von Zwangslizenzen vor, doch darum scheint sich niemand zu scheren!“, betont Bas van der Heide von Health Action International (HAI). Bei der Jahreshauptversammlung der Weltgesundheitsorganisation werden die Mitglieder dieser Gegenlobby nicht müde, in den Wandelgängen ihre Botschaft an die offiziellen Delegationen zu wiederholen: „Sobald Generika auf dem Markt zugelassen sind, senken die großen Pharmaunternehmen ihre Preise!“
Die führenden Pharmakonzerne zögern nicht, gewissen Ländern Billigverkäufe von Aidsmedikamenten in Aussicht zu stellen. „Damit wollen sie vor allem verhindern, dass brasilianische Generika in diese Länder gelangen“, erklärt Pierre Chirac, der eine Kampagne von Ärzte ohne Grenzen für den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten leitet.
In diesem Kampf tummeln sich an vorderster Front auch Konsumentenorganisationen. „Wir werden in Uganda, Kenia, Simbabwe und Südafrika Gesellschaften eintragen lassen, um Zwangslizenzen für die drei Aidsmedikamente 3TC, D4T und Nevirapin zu erwirken, die dann aus Thailand, Indien und Brasilien eingeführt werden“, verrät James Love, der mit Ralph Nader das Consumer Project on Technology in Washington leitet. „Mit diesen Zwangslizenzen können wir beweisen, dass es möglich ist, in Afrika Aidsmedikamente zu einem fairen Preis zu verkaufen!“
dt. Birgit Althaler
* Journalist