Katerstimmung
LIEGT es am berühmt-berüchtigten Fin-de-Siècle-Syndrom, dass die diversen Jahresberichte des Jahres 2000 deutlich pessimistischer ausfallen als die vom Vorjahr, die durch eine Euphorie im Gefolge des beendeten Kosovokrieges gekennzeichnet waren? Der „Strategic Survey“ des in London ansässigen International Institute for Strategic Studies (IISS)1 , der die militärpolitische Jahresschrift2 aus demselben Haus ergänzt, gelangt zu dem Schluss, dass der „Jubel“ im Anschluss an den Kosovokrieg allgemeiner Desillusionierung gewichen ist. Mit Blick auf die Lage in Südasien, im Nahen Osten, in Nordirland, auf dem Balkan und in Taiwan wird festgestellt, dass „die damit einhergehenden Hoffnungen die Anfangsphase nicht überlebt und die Farbe des Scheiterns angenommen haben“. Einleitend zieht der Survey eine schonungslose Bilanz der Clinton-Ära und wirft dabei die Frage auf, ob es eine „Supermacht“ überhaupt noch gebe. Der Bericht nennt die vielfältigen Schwierigkeiten, die der US-Außenpolitik abgesehen von den genannten Konflikten Kopfzerbrechen bereiten: Saddam Hussein hält Washington weiterhin zum Narren, die europäischen Anstrengungen zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik erregen Argwohn, das US-amerikanische Raketenabwehrprojekt (NMD) stößt auf allgemeine Ablehnung, und gegen die neoliberale Globalisierung erhebt sich weltweiter Protest.
Nüchterner, weil politisch „neutraler“ zieht der Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI kritische Bilanz.3 In seinem Plädoyer für ein internationales Sicherheitssystem mit allgemein anerkannten Regeln gelangt Institutsdirektor Adam Rotfeld zu dem Schluss, dass „die Versuche, transatlantische und europäische Lösungen mechanisch auf andere Regionen zu übertragen, gescheitert sind“. Ein bemerkenswertes Kapitel im Abschnitt „Sicherheit und Konflikte“ beschäftigt sich mit der europäischen Verteidigungspolitik und ihren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zur Nato, eine Frage, die ebenso wie die gesamte Rüstungs-, Abrüstungs- und Weiterverbreitungsproblematik ausführlichste Behandlung findet.
Die europäische Sicherheitspolitik steht auch im Zentrum des Jahresberichts „L’Année stratégiques 2001“, der vom Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS) in Paris herausgegeben wird, dieses Jahr in Zusammenarbeit mit France Info.4 Der Bericht schlägt einen entschiedeneren Ton an: Unumwunden macht sich IRIS-Direktor Pascal Boniface „für eine multipolare Weltordnung“ stark. Er wertet Europas einstimmige Ablehnung des amerikanischen NMD-Projekts als gutes Zeichen und spricht sich für den Aufbau einer „Europa-Macht“ aus, die ein gesundes Gegengewicht in den internationalen Beziehungen bilden sollte. Dieser Optimismus wird durch die zahlreichen Hindernisse, die André Dumoulin beschreibt, indes gedämpft. Bis zur sicherheitspolitischen Unabhängigkeit Europas sei es noch ein langer Weg.
Auch Thierry de Montbrial, der Direktor des Institut Français des Relations Internationales (IFRI), teilt den Traum von Europa. In der Einleitung zum „Rapport Annuel Mondial sur le Système Économique et les Stratégies“5 stellt er fest, die „Vereinigten Staaten hatten die Möglichkeit, die Welt zu verändern“, hätten sie aber nicht genutzt: „Von Europa aus gesehen, besteht deshalb kein Anlass zur Klage, Grund genug allerdings, daraus die Lehren zu ziehen und den Einigungsprozess erhobenen Hauptes fortzuführen.“ Nur müsste gewährleistet sein, dass Europa die Verhaltensweisen der USA nicht einfach kopiert. Der Beitrag Philippe Moreaus zur Frage der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten erinnert hier noch einmal an bewährte Grundsätze.
GILBERT ACHCAR