16.03.2001

Veränderte Fronten in der Al-Aksa-Intifada

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Veränderte Fronten in der Al-Aksa-Intifada

Von NADINE PICAUDOU *

Der Volksaufstand, der seit Ende September 2000 die Palästinensergebiete erfasst hat, machte der Welt von Anfang an seine symbolischen Bezüge deutlich: In den Medien, in der Öffentlichkeit, firmierte er bald unter dem Namen „Al-Aksa-Intifada“. Die Bezeichnung taugt jedoch nicht als Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse: Sie mag einen trügerischen Déjà-vu-Effekt hervorrufen, aber zwischen dem aktuellen Aufstand und der ersten Intifada von 1987 bis 1993 gibt es keine eindeutige Kontinuität.

Schon die geografischen Voraussetzungen der Auseinandersetzung sind völlig andere. Bei der ersten Volkserhebung traten in den Städten unbewaffnete Zivilisten gegen die israelische Besatzungsmacht an, diesmal kommt es zu begrenzten gewaltsamen Zusammenstößen in den Randzonen der palästinensischen Autonomiegebiete, in der Nähe der jüdischen Siedlungen und an den Kontrollpunkten der israelischen Armee – also an den Fronten zwischen zwei feindlichen Territorien. Die Beschränkung des Kampfes auf quasi sakrosankte Gebiete erklärt auch die unerhört harten Repressionsmaßnahmen der israelischen Seite, den systematischen Einsatz von Scharfschützen und Kampfhubschraubern, die Raketen auf genau ausgewählte Ziele abschießen.1

Letztlich passt diese geografische Struktur der Auseinandersetzungen zur Logik des Oslo-Friedensprozesses, bei dem es ja weniger um Sicherheitsfragen als um politische Ziele ging. Auch die Autonomieregelung, die den Palästinensern 1993 angeboten wurde, war eine Folge der ersten Intifada: Man hoffte, die aufständische Bevölkerung auf Abstand zu halten, indem man sie unter die Aufsicht einer palästinensischen Verwaltung stellte, die damit zum verlängerten Arm der israelischen Sicherheitsinteressen werden sollte. Israel glaubte, auf diese Weise eine Radikalisierung des Aufstands verhindern zu können, ohne sich durch Rückgriffe auf unzeitgemäße Formen kolonialer Unterdrückung zu kompromittieren. Die Trennung erschien als das beste Mittel gegen die Gewalt. Im Übrigen gab es in den vergangenen Monaten nicht wenige Stimmen in Israel, die eine Verstärkung dieser Abschottung forderten. Sogar im Westen fanden sich einige wohlmeinende Verfechter einer solchen Lösung, die sie selbst um den Preis von Umsiedlungen für die gebotene Maßnahme zur Beendigung des Konflikts hielten.

Das zeigt deutlich genug, dass ein binationaler Staat für die Israelis eine beängstigende Vorstellung ist, eine Angst, die vor allem durch die demografischen Prognosen genährt wird: Geht man von den unterschiedlichen Geburtenraten aus (durchschnittlich 2,7 Kinder bei israelischen Müttern, 5,64 bei den Palästinenserinnen), dann ist im Jahr 2010 im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan mit einer arabischen Bevölkerungsmehrheit zu rechnen.2 Die demografische Entwicklung, die jeden Traum von einem Großisrael ad absurdum führt, spielte eine wichtige Rolle bei den Entwürfen von Oslo. Danach ist vorgesehen, die Menschen voneinander zu trennen, aber die Oberhoheit über das gesamte Territorium bei Israel zu belassen, das die Grenzen, den Luftraum und die unterirdischen Ressourcen (vor allem das Wasser) kontrollieren soll. Israel soll freilich auch einen Teil des Bodens behalten und durch die jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im Gasastreifen seine territoriale Präsenz auch nach dem Ende der Übergangsperiode behaupten können. Der Preis dafür ist ein beispielloser Einsatz der Armee, um die Sicherheit der Siedler zu gewährleisten, die inzwischen offen bedroht werden.

Aus Sicht der Palästinenser stellt die Auflösung der Siedlungen die wichtigste Vorbedingung dar, um echte Souveränität über ein zusammenhängendes und einheitliches Gebiet zu erlangen. Darüber hinaus sind diese Siedlungen auf den Hügelketten, die das Leben in den palästinensischen Dörfern und Städten jeden Tag etwas mehr einengen, das eigentliche Sinnbild der Enteignung, um die kein Siedlungskolonialismus herumkommt. Die Palästinenser sind bereit, für al-Aksa zu sterben, doch sie finden den Tod auf der Straßenkreuzung vor Netzarim.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der neuen Topografie der Auseinandersetzungen und den soziologischen Aspekten des Aufstands, die deutliche Unterschiede zur ersten Intifada erkennen lassen. Die zivile Volkserhebung gegen die Besatzung ist abgelöst worden von Widerstandsformen, die zwar die Unterstützung der Mehrheit haben, aber von einer Minderheit in die Tat umgesetzt werden. Denn die Masse der Bevölkerung in den palästinensischen Autonomiegebieten ist offensichtlich erschöpft und nicht mehr zu mobilisieren.

Der wichtigste Grund dafür liegt in der dramatischen Verschlechterung der alltäglichen Lebensbedingungen. Für die Mehrheit der Palästinenser ist die Autonomie gleichbedeutend mit wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmender Einschränkung der Bewegungsfreiheit, eine Entwicklung, die nicht nur den Lebensstandard senkt, sondern weitreichenden Einfluss auf die sozialen Beziehungen hat. Die sinkenden Einkommen und begrenzten Reisemöglichkeiten führen zur Rückbesinnung auf die Solidarität im Familienverbund, und das bedroht nicht nur die individuelle Unabhängigkeit, sondern lässt auch die Verwandschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen wieder wichtiger werden als den nationalen Zusammenhalt.3

Das System der Sondergenehmigungen, ohne die niemand die Sicherheitszonen rund um die palästinensischen Enklaven passieren darf, erzeugt neue Statusunterschiede innerhalb der Gesellschaft: Der Vertreter der Autonomiebehörde (PNA), der einen permanenten Passierschein besitzt, steht über dem Kaufmann oder Arbeiter, der seine Erlaubnis immer wieder erneuern lassen muss, und beide sind wiederum privilegiert gegenüber der Masse der Bevölkerung, die überhaupt keine Möglichkeit hat, die Autonomiegebiete zu verlassen.

In besonders kritischen Situationen kommen dann noch die berüchtigten „Abriegelungen“ (wie es in der Sprache der westlichen Medien banalisierend heißt) der palästinensischen Gebiete hinzu. Sie verstärken das Gefühl, immer mehr von Israel abhängig zu sein. Es scheint, als habe die Autonomie nicht nur keinen Abbau des Besatzungsregimes gebracht, sondern die Bevölkerung mehr denn je den israelischen Behörden ausgeliefert. Doch die Bevölkerung ist nicht mehr kampfbereit, die sozialen und politischen Strukturen von denen die erste Intifada getragen war, sind nach und nach zerfallen.

Im Rahmen der arabischen Gesellschaften des Nahen Ostens zeichneten sich die Palästinenser lange Zeit durch ein funktionierendes Netz moderner Vereinigungen aus, das neben den traditionellen Organisationsformen, wie Familie, Dorfgemeinschaft, Moschee oder Kirche, eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen die Besatzung bildete. Vor allem in den Bereichen von Gesundheit und Bildung, die von den israelischen Behörden oft vernachlässigt wurden, gewährleistete dieses Netzwerk eine Grundversorgung für die Bevölkerung, trieb dabei aber zugleich die soziale und politische Mobilisierung voran und trug dazu bei, in den besetzten Gebieten die nationale Identität zu bewahren.

Viele solcher Vereinigungen waren mit politischen Fraktionen der PLO verbunden, die versuchten, in den Gewerkschaften, den Frauenorganisationen oder den Studentenräten führenden Einfluss zu gewinnen. Es entwickelte sich ein regelrechter „Krieg der Institutionen“, in dem sich Ende der Siebzigerjahre die Fatah und linke Widerstandsgruppen gegenüberstanden, während in den Achtzigerjahren die entscheidende Konfrontation zwischen PLO und Islamisten stattfand.4 Beteiligte wie Beobachter waren sich damals einig, dass aus diesen zivilgesellschaftlichen Organen die Infrastruktur eines künftigen Staates hervorgehen würde.

Ein aufgezwungener Staat

ALS die israelischen Repressionsmaßnahmen vom Frühjahr 1982 die Hoffnungen auf eine baldige Staatsgründung schwinden ließen, verlagerten sich die Aktivitäten aus dem Bereich des im engeren Sinne politischen in den des sozialen Engagements. Überall wurden Volkskomitees für freiwillige Tätigkeiten gegründet, die sich um den Erhalt der Städte kümmerten, den Armen medizinische Hilfe und juristischen Beistand boten, Haushaltskooperativen und Familienplanungszentren schufen. Das bedeutete auch eine Veränderung und Erweiterung des nationalen Kampfes, denn das Netzwerk der Volkskomitees diente den politischen Gruppierungen als Rekrutierungsfeld und zugleich als Möglichkeit, jene Massenmobilisierung vorzubereiten, deren Stärke sich dann während der Intifada zeigte.

Beim Aufstand von 1988/89 spielten diese Organisationsstrukturen tatsächlich eine tragende Rolle, sie setzten völlig neue Strategien des zivilen Ungehorsams und alternative Formen der sozioökonomischen Entwicklung durch. In den Neunzigerjahren begannen sich die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mehr und mehr zu professionalisieren und zu entpolitisieren. Sie widmeten sich nun besonders der so genannten Entwicklung der menschlichen Ressourcen, schrieben sich aber zugleich die Verteidigung der Zivilgesellschaft auf die Fahne, um sich damit ihren Anteil an den internationalen Hilfsgeldern zu sichern, die nach den Oslo-Verträgen in die Einrichtungen der Autonomiebehörde flossen.5 Als Katalysatoren der sozialen Mobilisierung spielen die NGOs inzwischen kaum noch eine Rolle.

Am Vorabend der neuen Intifada wurden in allen Analysen der palästinensischen Gesellschaft Anzeichen einer gewissen politischen Apathie konstatiert. Umfragen zeigen, dass zwischen 1994 und 1999 vor allem das parteipolitische Engagement drastisch zurückgegangen ist. Der Anteil derer, die sich keiner politischen Richtung zugehörig erklären, hat sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt, ein vor allem in den gebildeten Schichten signifikanter Trend. Zugleich findet sich bei der jüngeren Generation ein merklich schwindendes Interesse an Information, und der Wunsch auszuwandern wächst.6

Darin tritt zweifellos das deutlichste Zeichen der Krise zutage, in die die palästinensische Nationalbewegung im Verlauf der von den Oslo-Verträgen vorgesehenen Übergangsperiode geraten ist. Es herrscht das allgemeine Gefühl, die Dynamik des Friedensprozesses sei so sehr von außen bestimmt, dass die Gesellschaft darauf keinen Einfluss mehr nehmen könne. Seit sieben Jahren wird die palästinensische Führung mit dem Argument, der Frieden sei dringend geboten, regelrecht erpresst. Der Druck, ein ungünstiges Kräfteverhältnis hinzunehmen und damit letztlich jede Entscheidungsfreiheit aufzugeben, ist enorm.

So besteht die Gefahr, dass der künftige Staat, von dessen baldiger Gründung ein ums andere Mal die Rede ist, nicht als Durchsetzung des legitimen Rechts auf Selbstbestimmung erscheint, sondern als das Ergebnis eines politischen Handels – ein Staat, der den Palästinensern nach anhaltendem internationalem Druck vom Gegner aufgezwungen wurde. Der triumphale Empfang, der Jassir Arafat nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im Juli 2000 bereitet wurde, drückte vor allem die Erleichterung darüber aus, dass endlich der Mut da war, vor aller Welt nein zu sagen.

Stärker ist die Krise im politischen Bewusstsein der Palästinenser jedoch bestimmt durch das ambivalente Verhältnis der Gesellschaft zu einer nationalen Führung, die zwar aus der Befreiungsbewegung hervorgegangen ist, sich aber eng mit dem Staat Israel verbunden hat. Besonders deutlich wird diese praktische Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, von den gemeinsamen Patrouillen, die Israelis und Palästinenser in der Zone B durchführen7 , bis zur Kooperation der Geheimdienste im Kampf gegen die islamistische Opposition.

Tatsächlich dürfte die vorübergehende Aufkündigung der Sicherheitszusammenarbeit das einzige Druckmittel gewesen sein, über das die Autonomiebehörde in den vergangenen Monaten verfügt hat. Dass kürzlich einige palästinensische Kollaborateure hingerichtet wurden (nach Schnellverfahren vor Militärgerichten), kann als Zugeständnis an die öffentliche Meinung und als der Versuch gelten, einen untadeligen Nationalstolz zu dokumentieren.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der palästinensischen Gebiete von Israel hat neben den formalen Beziehungen, wie sie in den Autonomieverträgen geregelt sind, Interessenverflechtungen zwischen dem „militärisch-kaufmännischen Komplex“ im Umkreis der PNA-Führung und jenen verantwortlichen Stellen in Israel entstehen lassen, die den palästinensischen Staatsfirmen die Importmonopole für Grundversorgungsgüter verschaffen können.8 So stellt die grundsätzliche Unsicherheit des Autonomiestatus die PNA vor eine letztlich paradoxe Aufgabe: sie soll den nationalen Kampf führen – und arbeitet gleichzeitig mit dem Feind zusammen.

Außerdem fällt der PNA die Aufgabe zu, zwei ganz verschiedene geschichtliche Etappen zur gleichen Zeit erfolgreich zu beenden: die nationale Befreiung, die noch immer nicht gelungen ist, und den Aufbau des Staates, der gleichwohl bereits begonnen hat. Eben weil die nationale Frage ungelöst bleibt, spielt die Festlegung, wer zur politischen Gemeinschaft gehört und wer nicht, eine entscheidende Rolle für das Verhältnis zur Besatzungsmacht ebenso wie für die Beziehungen innerhalb des eigenen Lagers. So hat die Umsetzung der Autonomieregelungen im Westjordanland zu einer neuen Kluft zwischen Inlandsflüchtlingen und ansässiger Bevölkerung geführt.9

In der Zeit von 1996 bis 1997, während des Streits um die palästinensischen Kommunalwahlen, die am Ende nicht stattfanden, gründete sich im Flüchtlingslager Deheische bei Bethlehem eine „Bewegung zur Verteidigung der Rechte der Flüchtlinge“, die zum Boykott der Wahlen aufrief. Die Flüchtlinge wollten an die Kommune keine Steuern zahlen und von ihr keine Leistungen erhalten, und sie waren auch bereit, auf die Unterstützung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (UNRWA) zu verzichten. Mit anderen Worten: Es gab unter den Bewohnern der Lager eine Tendenz, ihre politische Vertretung vor Ort zugunsten der Bekräftigung ihres Rechts auf Rückkehr zu opfern.

Doch das Beharren auf dem Flüchtlingsstatus hatte zur Folge, dass sie ihre staatsbürgerlichen Rechte nicht wahrnahmen. Die Flüchtlinge in den Städten dagegen machten sich zur gleichen Zeit für eine bessere Vertretung in den kommunalen Gremien stark, weil sie sich gegenüber den Ortsansässigen benachteiligt fühlten. Dass es zu einer solchen Spaltung kommen konnte, zeigt deutlich, welche Widersprüche sich aus jener unklaren Überschneidung zweier geschichtlicher Entwicklungsphasen ergeben: Die Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen in den Autonomiegebieten gestalten sich neu, und jede dieser Gruppen muss ihr Verhältnis zu den neuen politischen Machthabern bestimmen.

In ähnlicher Weise sehen sich auch die NGOs gehalten, angesichts der Herausbildung staatlicher Strukturen – die nach wie vor stark von der PLO und ihrer politischen Kultur geprägt sind – allmählich ihren gesellschaftlichen Ort und ihre neue Rolle zu finden. Die nationale Befreiungsbewegung hatte sich während des Exils auf weit versprengte Gemeinschaften gestützt (und zu deren Wiedervereinigung beigetragen), jedoch im Innenverhältnis keine Grenzen zwischen Politik und Zivilgesellschaft gezogen. In den Widerstandsgremien waren militärische Gruppierungen, politische Bewegungen und Gewerkschaften ebenso vertreten wie Basisorganisationen und Forschungszentren.

Als der militärische Führungsapparat der PLO, der auch jetzt noch die PNA beherrscht, in die Autonomiegebiete einzog, traf er auf eine Zivilgesellschaft, die wenig Bereitschaft zeigte, im Namen des Staatsaufbaus alle möglichen Zumutungen hinzunehmen. So konnten die wichtigsten Vereinigungen, zusammengeschlossen in einem Dachverband, den Versuch, ihre Auslandsfinanzierung staatlicher Kontrolle zu unterstellen, zumindest teilweise zum Scheitern bringen. Und von Menschenrechtsorganisationen kam immer wieder scharfe Kritik an den autoritären Übergriffen der Führung, ihren Angriffen auf die Meinungsfreiheit und ihrer Beeinflussung der Justiz.

Doch bei diesem Kräftemessen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geht es letztlich um eine grundsätzliche Frage: Ist das Recht auf einen Staat und die Forderung nach einem Rechtsstaat zugleich durchsetzbar?10 Kann das eine Bestand haben, solange das andere nicht gesichert ist? Und ist nicht die staatliche Souveränität eine unabdingbare Voraussetzung der Demokratie? Tatsächlich steht in den Autonomiegebieten revolutionäre Legitimität gegen politische und verfassungsmäßige Legalität.

Vor diesem Hintergrund ist die Weigerung der PNA zu sehen, ein vom Legislativrat verabschiedetes Grundgesetz in Kraft zu setzen, ebenso die Anwesenheit von PLO-Vertretern bei den Zusammenkünften der „Führung“, die kaum wie Kabinettssitzungen aussehen, sondern eher wie interne Diskussionen einer Nationalbewegung. Solche Phänomene verdanken sich unmittelbar der Überschneidung zweier geschichtlicher Phasen, und sie tragen dazu bei, die Unstimmigkeiten zwischen der Führung und einer Bevölkerung zu vertiefen, die seit Inkrafttreten des Autonomiestatuts immer weniger politisches Engagement zeigt.

Was bei der Analyse der gegenwärtigen Intifada zweifellos zu wenig beachtet wird, ist die relativ unbedeutende Rolle der Opposition. Der Aufstand wird nicht von den Gegnern der Oslo-Verträge geführt, das heißt weder von linken Widerstandsgruppen noch von den Islamisten – womit auch die alte These widerlegt wäre, dass hier die Feinde des Friedens gegen dessen Verfechter anträten.

Die nationalistisch gesinnte Linke (insbesondere die Volksfront und die Demokratische Front) scheint nicht in der Lage, eine glaubwürdige Alternative zur Autonomie zu formulieren. Die ihr nahe stehenden Intellektuellen versuchen einstweilen nur, diese Lücke mit wohl meinenden Bekenntnissen zur Zivilgesellschaft zu schließen, vermögen damit jedoch nicht über das fehlende politische Konzept hinwegzutäuschen. Doch auch die Islamisten, die während der ersten Intifada eine politische Alternative zur PLO-Führung darstellten und zur Eigenständigkeit der „Inlandsbewegung“ gegenüber der Zentrale in Tunis beitrugen, bilden heute keineswegs mehr die Speerspitze des Aufstands. Umfragen aus den letzten Monaten haben ergeben, dass nur 13 Prozent der Bevölkerung mit ihnen sympathisieren – Anfang der Neunzigerjahre hatten sie noch etwa ein Drittel der Befragten hinter sich.

Schon lange liegen innerhalb der Hamas-Bewegung Pragmatiker und Radikale im Zwist. Die einen nehmen die veränderte und in gewisser Weise irreversible politische Situation zur Kenntnis, die durch die Autonomieverträge geschaffen wurde, die anderen versteifen sich auf eine Verweigerungshaltung und rufen weiterhin zur Befreiung von ganz Palästina auf.

Durch die wechselnden Strategien der PNA – mal werden die Islamisten verfolgt, mal werden sie eingebunden – hat sich diese Spaltung weiter vertieft und letztlich beide Fraktionen geschwächt. Aber dass das islamistische Lager bei der Lenkung des Aufstands keine bedeutende politische Kraft darstellt, heißt nur, dass seine zum bewaffneten Kampf entschlossenen Fraktionen erst recht auf das Mittel des Terrorismus zurückgreifen werden. Eine Zunahme der Anschläge in Israel steht daher zu befürchten.

Auch die Islamisierung der politischen Rhetorik der Intifada, über die in den palästinensischen und arabischen Medien ausführlich berichtet wird, kann nicht über die politischen Kräfteverhältnisse hinwegtäuschen: Die führende Rolle spielt die Fatah. Unter ihrer Führung hat sich ein oberstes nationales und islamisches Komitee zur Fortführung der Intifada gebildet, in dem alle politischen Richtungen vertreten sind. Als politische Bewegung hat die Fatah seit 1994 eine Vormachtstellung in fast allen Institutionen der Autonomiebehörde inne, in der Zivilverwaltung wie innerhalb der Sicherheitskräfte, aber auch im seit Januar 1996 bestehenden Legislativrat, in dem die Anhänger Arafats über eine Zweidrittelmehrheit verfügen. Das konnte die Bewegung nutzen, um ihre Klientel zu vergrößern und sich neue Felder für die Rekrutierung von Aktivisten zu erschließen. Ihre Fähigkeit, mit populistischem Geschick den Nationalismus für sich zu reklamieren, hat die Fatah dabei offenkundig nicht verloren.

In Umfragen werden zwei Hauptströmungen deutlich: Zum einen die Anhänger der Fatah (etwa 35 Prozent), zum anderen die Palästinenser ohne feste politische Bindung – ihre Zahl hat sich seit der Einsetzung der PNA verdreifacht, im Sommer 2000 waren es erstmals über 35 Prozent.11 Diese neue Polarisierung der politischen Haltungen ist von unmittelbarer Bedeutung für die Intifada.

Gegen die zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzung vermochte die Mobilisierung der Massen, die in den ersten Wochen der Erhebung gelungen war, nicht lange anzukommen. Eine ähnliche Verschiebung war auch während der ersten Intifada zu verzeichnen gewesen: Damals brauchte der Übergang von der „stummen Konfrontation“ zu den bewaffneten Aktionen der „Kommandos“ allerdings mehrere Jahre. Diesmal ging es wesentlich schneller. Die gewaltsamen Proteste werden inzwischen nur noch von einer militanten Minderheit geführt. Es sind nur wenig organisierte Gruppen von Jugendlichen, oft fast noch Kinder, die dabei Steine und Molotowcocktails werfen. Für manche von ihnen ist die Auseinandersetzung mit den israelischen Soldaten eine Art Lebensstil, ein Initiationsritus an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die meisten kommen aus den Flüchtlingslagern, wo Waffen leicht zu beschaffen sind.

Eine wichtige Rolle spielen allerdings Mitglieder der Fatah-Miliz Tansim, die einst bei den „Kommandos“ der alten Intifada aktiv waren, vor allem bei den „Falken der Fatah“. Ein Teil dieser Kämpfer ist inzwischen bei der PNA untergekommen, die eine Truppe von etwa 40.000 Bewaffneten unterhält. Die meisten haben bei den Sicherheitskräften angeheuert, insbesondere in der Abteilung „Präventive Sicherheit“, die im Westjordanland von Dschibril Radschub und im Gasastreifen von Mohammed Dahlan geführt wird. Indem sie einige der Aktivisten der ersten Intifada an sich zu binden versuchte, hoffte die PNA-Führung, ihnen die unkontrollierte Militanz auszutreiben und zugleich etwas politische Legitimität durch Teilnahme am Aufstand zu gewinnen.

Aus den übrigen, die nicht direkt von der PNA in Dienst genommen wurden, bildeten sich die Verbände der Tansim. Obwohl es inoffizielle Verbindungen zu Mitgliedern der „Präventiven Sicherheit“ gibt, halten sich die Tansim nicht unbedingt an die Anweisungen der palästinensischen Führung. Sie sind verantwortlich für die Angriffe auf jüdische Siedler, die inzwischen als Teil einer Strategie der Einschüchterung und Vertreibung erscheinen. Marwan Barghuti, Vorsitzender des Hohen Komitees der Fatah für das Westjordanland, hat die jüngste Entwicklung genutzt, um sich zum Sprecher dieser Bewegung zu machen. Er wird nicht müde, zur Ausweitung des Aufstands aufzurufen.

Offiziell beschränkt sich die Führung der Autonomiebehörde darauf, den wachsenden Volkszorn zur Kenntnis zu nehmen. Sie könnte allerdings in Versuchung geraten, sich auf diese Entwicklung zu berufen, wenn sie beschließen sollte, aus den Gesprächen über den Endstatus gemäß den Oslo-Verträgen auszusteigen und eine neue Verhandlungsrunde über diese Frage einzuleiten – diesmal unter Berufung auf internationales Recht und insbesondere auf die UN-Resolution 242 vom November 1967, die besagt, dass das Westjordanland, der Gasastreifen und Ostjerusalem besetzte Gebiete sind und geräumt werden müssen.

Insofern besteht eine Art verdeckter Arbeitsteilung zwischen der Autonomiebehörde und den militanten Gruppen, deren Aufgabe darin besteht, den Druck aufrechtzuerhalten, der von der Intifada ausgeht. Für Jassir Arafat ist diese Taktik nicht ungefährlich. Er könnte dabei die politische Kontrolle verlieren, wenn es Marwan Barghuti gelingt, sich als politische Alternative ins Spiel zu bringen und, getragen von der Eskalation des Aufstands, die Nachfolge des alten Palästinenserchefs anzustreben. Unterstützung fände Barghuti bei den neuen Führungsschichten im Westjordanland, die nicht die geringsten Sympathien für die arroganten und korrumpierten „Tunesier“ haben, aus denen Arafats Hofstaat in Gasa besteht. Vielleicht muss man mit einer neuen Strategie rechnen, die langfristig Formen des bewaffneten Widerstands, gewaltlose Massenmobilisierung und die Fortführung der Verhandlungen vereint.

dt. Edgar Peinelt

* Dozentin am Staatlichen Institut für Sprachen und Kulturen des Orients (Inalco), Paris. Von ihr ist erschienen „Les Palestiniens, un siècle d’histoire“ Brüssel (Complexe) 1997.

Fußnoten: 1 Siehe Salim Tamari und Rema Hammami, „Beyond Oslo: The new Uprising“, Middle East Report (Washington), Nr. 217, Winter 2000/01. 2 Siehe dazu die Beiträge von Sergio Della Pergola und Philippe Fargues (während des INED-Seminars am 30. November 2000) zum Thema „Der demographische Hintergrund des Ausbruchs der Gewalt in Israel/Palästina“. Siehe auch die Arbeit von Philippe Fargues, „Générations arabes, l’Alchimie du nombre“, Paris (Fayard) 2000. 3 Majdi al-Malki, „Le système de soutien informel et les relations de néo-patrionialisme en Palestine“. Dieser Beitrag erscheint demnächst in einer Ausgabe von Les Annales de l’Autre Islam (Paris, Inalco, 2001), die sich mit dem „Aufbau der palästinensischen Nation“ beschäftigt. 4 Siehe Mohamed Muslih, „Palestinian civil society“, Middle East Journal (Washington), Jg. 47, Nr. 2, Frühjahr 1993. 5 Rema Hammami, „NGO’s, the professionalisation of politics“, Race and Class (London), Bd. 37, Nr. 2, 1995. 6 Mudar Kassis, „Reflections on the possibility of building a Participatory Democracy in Palestine“, erscheint in Les Annales de l’Autre Islam, s. o., Anm. 3. 7 Der am 28. September 1995 in Washington unterzeichnete Vertrag über die Ausweitung der Autonomie teilt Palästina in drei Zonen auf: In der Zone A liegt die Sicherheit wie die zivile Verwaltung in der Hand der Autonomiebehörde, in Zone B ist die PNA nur für die Zivilverwaltung zuständig, und Zone C bleibt vollständig unter der Kontrolle der israelischen Streitkräfte. 8 Siehe dazu besonders Laetitia Bucaille, „Gaza, la violence de la paix“, Paris (Presses de Sciences Po) 1998. 9 Diese Entwicklung hat Aude Signoles vorausgesagt: „Réfugiés des camps, refugiés des villes et familles autochtones: vers une reconfiguration des pouvoirs locaux en Cisjordanie“, erscheint in Kürze in Les Annales de l’Autre Islam, s. Anm. 3. 10 Die Formulierung stammt aus Assad Maalouf, „L’État souverain, une construction en faillite“, Revue d’Études palestiniennes (Paris), Nr. 25, Herbst 2000. 11 Siehe Jamil Hilal, „State Formation under Adversity“, erscheint in Kürze in Les Annales de l’Autre Islam.

Le Monde diplomatique vom 16.03.2001, von NADINE PICAUDOU