16.03.2001

Das organisierte Böse

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Das organisierte Böse

Von RYSZARD KAPUSCINSKI *

Die Wahrnehmung des Anderen als Bedrohung, als Repräsentant fremder und destruktiver Kräfte, ist allen nationalistischen, autoritären und totalitären Regimen unserer Epoche gemeinsam. Sie ist ein universelles, kulturunabhängiges Phänomen. Keine Zivilisation war in der Lage, sich des (von den verschiedenen Machthabern in allen Breitengraden propagierten) pathologischen Hasses, der Verachtung und der Zerstörung zu widersetzen. Im Extremfall hat diese krankhafte Entwicklung die unheilvolle Form des Völkermordes angenommen – einer der wiederkehrenden tragischen Züge unserer heutigen Welt.

Manche geben der einfachen Versuchung nach, die verschiedenen Kapitel der Geschichte des Völkermords als lauter „unverständliche“, für sich allein stehende Episoden zu behandeln. In jeder einzelnen sehen sie einen Ausbruch entfesselter kollektiver Wut. Weil diese Ereignisse uns alle mit Schande bedecken, wie es Karl Jaspers in seiner Theorie der „metaphysischen Schuld“ darlegte, versuchen wir, sie so schnell wie möglich zu vergessen und die gesamte heikle und schmerzhafte Problematik den darauf spezialisierten Historikern zu überlassen.

Es genügt jedoch, einige Völkermorde aufmerksamer zu betrachten, um die These vom irrationalen Ausbruch solcher Gewalt zu widerlegen. Am Ursprung jedes Genozids steht in der Tat eine weit verbreitete, systematisch propagierte Ideologie des Hasses. Jedem Genozid sind langwierige technische Vorbereitungen vorausgegangen, gewährleistet von dem bürokratischen Apparat eines modernen Staates. Angesichts dieser Feststellung haben Politologen und Philosophen – ich denke etwa an Zygmunt Bauman, Walter Laqueur oder Hannah Arendt – folgende beunruhigende These formuliert: Unsere heutige Zivilisation birgt in ihrem Charakter, ihrem Wesen und ihrer Dynamik einzelne Züge, die unter bestimmten Bedingungen und zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Völkermord hervorbringen können.

Eine erschreckende Schlussfolgerung, eine höchst alarmierende ethische Warnung. Aber wann taucht eine solche Gefahr auf? Genau in dem Augenblick, in dem ein Bruch zwischen der jeweiligen Kultur und dem Transzendenten erfolgt, das heißt, wenn die spirituelle Komponente einer Kultur geschwächt ist oder versagt, wenn einer Gesellschaft die Wertmaßstäbe abhanden kommen, also das Gespür für die Leere und das Böse verkümmert, eingeschlafen, erstickt ist.

Keines der christlichen Gebote wird heutzutage so wenig geachtet, so sehr mit Füßen getreten wie das Gebot der Nächstenliebe. Die Beziehung zum Anderen muss schon seit Menschengedenken ein Problem gewesen sein, enthält doch eine der ältesten Schriftquellen die unmissverständliche Mahnung: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Müssen wir die Ablehnung des Anderen oder gar die Feindseligkeit ihm gegenüber also für einen der menschlichen Natur immanenten Zug halten? Tatsache ist, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, den Anderen, allen voran den Unbekannten, abzulehnen, und dass alle zeitgenössischen Ideologien des Hasses – ob Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus oder Rassismus – diese Schwäche ausgebeutet haben, sie in Feindseligkeit, ja sogar Bereitschaft zum Verbrechen verwandelt haben.

Die Konsequenzen daraus haben in unserer Epoche monströse Dimensionen angenommen, denn heutzutage verfügt die Macht über effiziente staatliche Strukturen und über die modernsten Technologien, die auch für das organisierte Morden eingesetzt werden können. Nur so konnte das ungeheuerliche Phänomen des industriellen Völkermords entstehen.

Der Genozid ist ein vorsätzliches Verbrechen, systematisch organisiert und ins Werk gesetzt zur Ausrottung bestimmter, nach Kriterien der Nationalität, der Rasse oder der Religion ausgewählter Zivilgemeinschaften.

In der Geschichte des 20. Jahrhunderts finden sich mindestens acht Episoden von Völkermord oder völkermordähnlichen Massakern (wobei das Wort „Episoden“ sicher nicht das beste ist, da sich die Massaker meist über lange Zeit erstreckt haben). Der chronologischen Reihenfolge nach waren dies: das Massaker an den Armeniern durch die moderne Türkei (1915–1916); die Auslöschung von Millionen ukrainischen Bauern durch Hungertod unter dem stalinistischen Regime (1932–1933); die Vernichtung der Bevölkerung von Nanking und Umgebung durch die japanischen Besatzer (1937–1938); der von den Nazis verübte Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas (1941–1945) sowie an den Sinti und Roma; die Ermordung von Millionen indischer Muslime und Hindus zur Zeit der Teilung Indiens (1947–1948); die Millionen Opfer der chinesischen „Kulturrevolution“ in den Jahren 1950 bis 1960; die Ausrottung eines großen Teils der Bevölkerung von Osttimor durch die indonesische Armee und proindonesische Milizen seit 1975; die Liquidierung der Tutsi durch das Hutu-Regime in Ruanda (1994).

Diese Liste ist keineswegs erschöpfend, zumal verschiedene Grenzkonflikte des 20. Jahrhunderts nur schwer einzuordnen sind (besonders im Sudan, in Sierra Leone und in den Balkanstaaten). Sucht man in diesem Labyrinth von Verbrechen, Lüge und Hass nach Bezugspunkten oder gemeinsamen Nennern, treten jedoch einige Züge deutlich hervor.

Alle Völkermorde wurden von Regierungen organisiert, die in dem jeweiligen Land offiziell an der Macht waren. Dass ihnen jedesmal die Passivität der Weltmeinung zugute kam, bestätigt einmal mehr die Krise der Wertmaßstäbe unserer heutigen Gesellschaften.

Der Völkermord ist nicht das Produkt einer einzigen Kultur. Länder der verschiedensten Kulturkreise haben sich seiner schuldig gemacht. Schon daran sieht man, wie lächerlich der Gedanke ist, eine bestimmte Kultur wäre genetisch für den Völkermord prädisponiert.

Zwischen Genozid und Krieg besteht ein offenkundiger Zusammenhang. Alle genannten Fälle haben sich in einem Klima des Krieges oder der Kriegsgefahr ereignet.

Kein Völkermord des 20. Jahrhunderts wurde in einem Land begangen, in dem Demokratie herrschte: Sie scheint bisher die einzig wirksame Schranke gegen Genozidversuchungen zu sein.

Jedes Regime, das sich mit Plänen eines Völkermordes trug, hat als ersten Schritt immer versucht, unter seinen Anhängern das Bild des Feindes und künftigen Opfers systematisch zu zerstören. Je mehr der Feind inmitten der betreffenden Gesellschaft lebte – innerhalb der Familie, des Dorfes, der Stadt, der Gemeinschaft –, um so gefährlicher erschien er: Unter dem gleichen Dach lebend, konnte er das Haus in Brand stecken und seine Bewohner vergiften. Einen fernen, einen abstrakten Feind hätte man niemals mit eindeutigen, gut vorstellbaren Wesensmerkmalen belegen können, die erschreckend genug gewesen wären, um die Untertanen zum Massaker zu treiben.

Der Feind konnte unterschiedlichen Ursprungs sein, zu einer anderen Klasse, einer anderen Religion oder eine anderen Ethnie gehören, aber in der Propagandasprache trug er immer dasselbe Etikett: „Volksfeind“ (oder: „vrag narodu“). Während des ganzen 20. Jahrhunderts wurde die Bedrohung der nationalen Existenz als die höchste Gefahr empfunden.

Wie Zygmunt Bauman in seinem Werk „Die Moderne und der Holocaust“1 beschreibt, hat der technische Fortschritt dem Willen zum Völkermord Vorschub geleistet: Er hat die Möglichkeit geschaffen, sozusagen auf Distanz zu töten, ohne es mit den eigenen Händen zu tun, was die Täter von möglichen Gewissensbissen frei machte. Aber dieses Muster ist nicht allgemein gültig. Die Organisatoren des Völkermordes in Ruanda beispielsweise befahlen ihren Milizen 1994 bewusst, nicht mit automatischen Waffen, sondern mit der Machete zu töten: Indem man jeden Milizangehörigen dazu anhielt, selbst zu töten, wollte man den symbolischen Zusammenhalt in den eigenen Reihen stärken.

In allen Fällen ist der Vernichtung und Ausrottung der verfolgten Gemeinschaft eine Phase des Leidens, des Hungers, der Erniedrigung bzw. des Terrors vorausgegangen, um zu suggerieren, dass der Tod den Opfern als eine Geste der Barmherzigkeit – als eine Erlösung – erscheinen könnte.

Schließlich wurden alle diese Völkermorde im gesellschaftlichen Kontext einer tiefen ökonomischen, politischen und moralischen Krise vorbereitet und begangen, zu einem Zeitpunkt, da das religiöse Gewissen ausgeschaltet, die Gefühlswelt verarmt und die Fähigkeit, Gutes vom Bösen zu unterscheiden, völlig verkümmert war.

Das Thema der heutigen Pathologie der Macht, die im Extremfall zum Genozid entartet, hat hunderte von Büchern, tausende von Essays und jede Menge Dokumente auf den Markt gebracht. Bei der Lektüre dieser Materialien erscheint jeder Akt des Völkermords, obschon sicher objektiv, so doch einzeln untersucht und beschrieben, als ein abgetrenntes Element, das keine Rückbezüge zu anderen, ähnlichen Verbrechen besitzt. Auch wenn sich jede dieser schändlichen Episoden durch ihre jeweiligen Besonderheiten von den anderen abhebt – man denke vor allem an die Singularität des Holocaust –, tragen diese Verbrechen hinsichtlich ihrer Beweggründe und ihrer Mechanismen analoge Züge.

Dies gilt umso mehr, als jeder der Massenmorde nicht nur eine festgelegte – religiöse, ethnische, soziale oder weltanschauliche – Personengruppe betrifft, sondern eine kollektive Katastrophe darstellt, die die ganze Gesellschaft berührt, eine große Niederlage des Humanismus, eine Schuld, die indirekt auf allen Erdenbewohnern lastet.

Das 20. Jahrhundert wird gewöhnlich in synthetischen und globalen Begriffen beschrieben, als das Zeitalter der zwei Totalitarismen – Faschismus und Kommunismus – und der zwei Weltkriege.

Es ist das Jahrhundert von Auschwitz und Hiroschima; nirgendwo indes findet man die Behauptung, es sei ein Jahrhundert der Völkermorde gewesen, ein Jahrhundert der wiederholten, von amtierenden Regierungen geplanten und organisierten Genozide, die – ganz gleich, auf welchem Kontinent, in welcher Periode und in welchem Kulturkreis sie geschehen sind – eine ungeheuerliche Anzahl zumeist gänzlich unschuldiger Opfer gefordert haben. Die Völkermorde des 20. Jahrhunderts haben in der Tat mehr Menschen das Leben gekostet als die beiden Weltkriege. Hinzu kommen materielle Zerstörungen, deren konkretes Ausmaß im Allgemeinen schwer zu ermessen ist.

Warum also lehnen wir es ab, unsere Zeit als eine Epoche zu sehen, die regelmäßig und mit fast unbegreiflicher Systematik solche Massenverbrechen erzeugt? Warum suchen wir nicht nach den doch offenkundigen Verbindungen zwischen dem Genozid der Kulturrevolution Mao Tse-tungs, der Ausrottung von Millionen Einwohnern Kambodschas und den Hunderttausenden, die in Ruanda ermordet worden sind? Dabei hat sich das alles im gleichen Jahrhundert in unserem globalen Dorf ereignet – in einem mit Nachrichten übersättigten Universum der ausgeklügelten, effizienten Kommunikation, auf einem Planeten, der, von einem allumspannenden Satellitennetz bewacht, unter der Oberaufsicht ganzer Beamtenheere der internationalen Organisationen steht.

Jeder Völkermord wird getrennt untersucht, als sei er abgelöst von unserer grausamen Geschichte und insbesondere von den Entgleisungen der Macht in anderen Teilen der Welt. Ist diese Reduktion nicht ein Mittel, den allzu brutalen, allzu fundamentalen Fragen hinsichtlich unserer Welt und der auf ihr lastenden Bedrohungen aus dem Weg zu gehen? Am Rande der Geschichte und der Erinnerung angesiedelt, werden die Episoden der Völkermorde nicht als eine kollektive Erfahrung, eine gemeinsame Prüfung erlebt, die uns alle verbindet.

Eine andere unglückselige Folge: Oft wissen die Menschen einer Zivilisation oder eines Kontinents gar nicht, dass auf einem anderen Kontinent, im Umfeld einer anderen Kultur oder Ethnie eine Gemeinschaft oder ein Volk ausgerottet wurde. Selbst ein Verbrechen wie der Holocaust ist in Afrika oder in Indien praktisch unbekannt. Das innerhalb eines Landes begangene Massaker wirkt nur auf das Gewissen des jeweiligen Landes: Nur selten erreicht sein Widerhall andere Kulturen.

Die Macht – vor allem die Staatsmacht, die einen Völkermord begeht – genießt weitgehende Straflosigkeit. Die Nürnberger Prozesse, bei denen übrigens nur ein winziger Teil der Naziverbrecher abgeurteilt wurde, bilden eine Ausnahme. Gelegentlich kommt es vor, dass ein Staatsbeamter auf der Anklagebank landet. Aber in der Regel ist die Straflosigkeit umso wahrscheinlicher, je höher der Platz ist, den der Verbrecher in der Hierarchie einnimmt. Ein kleiner Schlächter hat gute Aussichten, am Galgen zu enden. Ein großer Schlächter ist meistens unberührbar. Das ist der Schwachpunkt des internationalen Gerichtssystems, das sich durch Anfälligkeit, Inkonsequenz und Opportunismus auszeichnet.

Nur selten geschieht es, dass ein Staat, dessen Führer einen Genozid organisiert haben, sich zu seiner Schuld bekennt. Die Deutschen bilden eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. In den meisten anderen Fällen weisen die Machthaber entweder jeden Verdacht zurück, oder sie bewahren hartnäckiges Schweigen. Die türkische Regierung leugnet bis heute, dass in ihrem Land unter dem osmanischen Regime eineinhalb Millionen Armenier ermordet worden sind; die russische Regierung schweigt sich über den Tod der zehn Millionen ukrainischen Bauern aus; die Pekinger Regierung weist in Bezug auf die großen Massaker der Sechzigerjahre an zwanzig Millionen Bürgern jeden Verdacht von sich!

Das Bedrückendste aber ist die allgemeine Hilflosigkeit der öffentlichen Meinung, die moralische Indifferenz, die Unfähigkeit, auf das Böse zu reagieren. Wir sind so an seine Präsenz gewöhnt, dass es für uns jeden Schrecken verloren hat. Einst dämonisiert, ist es seit langem selbstverständlich geworden – so täuschend beliebig und gewöhnlich, dass es Teil unseres Alltags ist.

Während das Böse früher auf Phänomene wie den irrationalen Ausbruch von Gewalt, die unverständliche Entfesselung blinder Triebe oder fanatische Rachegelüste zurückgeführt wurde, erscheint es jetzt mehr und mehr als kaltblütige, gerissene Organisation: Wir sprechen von „organisierter Kriminalität“, von „organisierter Illegalität“, vom „organisierten Verbrechen“. Und da es weder einen geeigneten Mechanismus noch irgendeine gesetzliche, institutionelle oder technische Schranke gibt, um neue Völkermorde wirksam zu verhindern, besteht der einzig denkbare Schutz in einer hohen Moral der Individuen und der Gesellschaften: in einem lebendigen Gewissen, in einem starken und wachen Willen, Gutes zu tun, und einem immer offenen Ohr für das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

dt. Grete Osterwald

* Der Autor ist Journalist in Warschau. Zuletzt erschien von ihm „Die Welt im Notizbuch“, Frankfurt/M. (Eichborn) 2000.

Fußnote: 1 Zygmunt Bauman, „Dialektik der Ordnung: die Moderne und der Holocaust“, Hamburg (EVA) 1992.

Le Monde diplomatique vom 16.03.2001, von RYSZARD KAPUSCINSKI