12.04.2001

Ein Intellektueller unter Generalverdacht

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Ein Intellektueller unter Generalverdacht

Von JEAN BRICMONT *

Obwohl die New York Times für Noam Chomsky nicht viel übrig hat (was auf Gegenseitigkeit beruht), räumt sie immerhin ein, dass er zu den bedeutendsten lebenden Intellektuellen zu rechnen sei. In Frankreich dagegen wird er – außerhalb der sprachwissenschaftlichen Institute der Universitäten – nach wie vor nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn sein Name fällt, dann zumeist in Verbindung mit denen Robert Faurissons oder Pol Pots. Chomsky gilt als das Paradebeispiel eines Intellektuellen, der seine Zeit darauf verwendet, diverse Völkermorde herunterzuspielen oder zu leugnen, da deren Erwähnung dem westlichen Imperialismus den Rücken stärken könnte. Zudem war nur ein unbedeutender Verlag, Spartacus, dazu zu bewegen, 1984 seine „Réponses inédites à mes détracteurs parisiens“ („Unveröffentlichte Antworten an die Adresse meiner Pariser Verleumder“) herauszugeben. Das Buch versammelt neben einem Interview eine Reihe nicht oder nur teilweise veröffentlichter Briefe, die an Zeitungen wie Le Monde, Le Matin de Paris oder Les Nouvelles Littéraires gegangen waren und Entgegnungen auf Angriffe von, unter anderem, Jacques Attali und Bernard-Henri Lévy enthalten. Umso größer daher die Bedeutung der jüngsten Veröffentlichung einiger seiner Texte.1

Während des Vietnamkriegs stießen seine Schriften in Frankreich auf eine gewisse Resonanz. Aber schon damals begann ein implizites Missverständnis. In den antiimperialistischen Bewegungen herrschte eine „Parteigänger“-Mentalität. Man musste sich für ein Lager entscheiden: für den Westen oder für die nationalen Revolutionen in der Dritten Welt. Noam Chomsky, ein Rationalist im klassischen Sinne des Wortes, ist diese Haltung fremd. Nicht, dass er sich über Auseinandersetzungen erhaben dünkte – es gibt wenige Intellektuelle, die engagierter sind als er –, doch fußt sein Engagement auf Prinzipien wie Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht auf der Unterstützung eines bestimmten historischen oder gesellschaftlichen Lagers.

Seine Ablehnung des Krieges entsprang nicht aus der Prognose, dass mit der vietnamesischen Revolution für die Völker Indochinas eine strahlende Zukunft anbrechen würde; sie beruhte vielmehr auf der Einschätzung, dass die US-amerikanische Aggression katastrophal war, weil sie nicht die Verteidigung der Demokratie im Auge hatte, sondern jede Form einer unabhängigen Entwicklung in Indiochina und in der Dritten Welt zu unterbinden trachtete.

Seine rigorosen Schriften boten den Gegnern des Vietnamkriegs wichtige Argumentationshilfen. Dass zwischen ihm und seinen Mitstreitern in Frankreich durchaus differierende Sichtweisen bestanden, konnte damals zweitrangig bleiben. Doch mit der Flucht der Boatpeople aus Vietnam ab 1975 und vor allem mit den Massakern der Roten Khmer setzte die politische und ideologische Gegenoffensive ein. In einer Art von Sippenhaft wurde denen, die sich gegen den westlichen Krieg oder gegen den Imperialismus insgesamt stark gemacht hatten, die Verantwortung für diese Ereignisse zugeschoben. Genauso absurd wäre es, wie Chomsky anmerken sollte, den Gegnern der russischen Invasion in Afghanistan die Gräuel anzulasten, die afghanische Rebellen nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen verübt haben: Die Invasionsgegner hatten eine Katastrophe verhindern wollen, für welche diejenigen die Verantwortung tragen, die darüber entschieden haben, nicht ihre politischen Gegner. Doch ein solches, fast schon banales Argument stößt im westlichen Lager auf weitgehend taube Ohren.

Im Frankreich des Lagerdenkens hatten viele der Gegner der Kolonialkriege Illusionen über die „verheißungsvolle Morgenluft“ in den entkolonialisierten Gesellschaften gehegt. Umso reibungsloser funktionierte dann der Mechanismus der Schuldzuweisung, denn das Ende des Vietnamkrieges fiel zeitlich zusammen mit der großen Wende innerhalb der französischen Intelligenz, die dieses Ereignis zum Anlass nahm, sich vom Marxismus und den Revolutionen in der Dritten Welt abzuwenden, um nach und nach, mit der Bewegung der „neuen Philosophen“, einer prowestlichen Politik im Tschad und in Nicaragua das Wort zu reden. Etliche französische Intellektuelle, vor allem so genannte Achtundsechziger, wandelten sich, nachdem sie in der Auseinandersetzung um den Nato-Doppelbeschluss passiv geblieben waren, zur Zeit des Golfkriegs beziehungsweise während der Intervention der Nato im Kosovo zu erklärten Kriegsbefürwortern.

Da Chomsky keine Illusionen zu verlieren hatte, brauchte er auch keinem Kampf abzuschwören. Er blieb an der Spitze der Kämpfe gegen die militärischen Invasionen und die verhängten Embargos, die von Zentralamerika bis Irak hunderttausende Opfer forderten.

Ein unbequemer Mahner

FÜR all jene, welche die große Wende vollzogen hatten, war Chomsky von nun an ein bizarrer und gefährlicher Anachronismus. Hatte er wirklich nicht begriffen, dass mittlerweile der Westen die gute Seite, die der Menschenrechte, verkörperte? Und dass die „Barbaren mit menschlichem Antlitz“, der Block aus sozialistischen Ländern und postkolonialen Diktaturen also, die Bösen waren?

Eine Untersuchung seiner intellektuellen Vorgehensweise ermöglicht es, darauf zu antworten. Ein beträchtlicher Teil von Chomskys Werk widmet sich der Analyse der ideologischen Mechanismen in den westlichen Gesellschaften.

Ein Historiker, der das Römische Reich erforscht, wird versuchen, die Handlungen der jeweiligen Staatsführer mit ihren politischen und ökonomischen Interessen in Beziehung zu setzen, oder zumindest mit dem, was die Staatsführer als ihre Interessen angesehen haben dürften. Anstatt sich an deren öffentliche Erklärungen zu halten, wird er die verborgene Struktur der Gesellschaft herausarbeiten (Machtverhältnisse, institutionelle Zwänge), um den offiziellen Diskurs zu entschlüsseln. Diese Vorgehensweise ist so selbstverständlich, dass man sie nicht einmal rechtfertigen muss. Man praktiziert sie gleichermaßen gegenüber Ländern wie der früheren Sowjetunion, dem heutigen China oder dem Iran. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler würde sich, um das Verhalten der Staatsoberhäupter dieser Gesellschaften und die Motive für ihr Handeln zu ergründen, auf deren Verlautbarungen stützen.

Kaum geht es um die westlichen Gesellschaften, wird dieses methodologische Prinzip über Bord geworfen.Vielmehr ist es mittlerweile fast ein Muss, die von den Regierungen proklamierten Ziele als die wahren Triebfedern ihres Handelns anzuerkennen. Man darf Zweifel daran äußern, dass sie die Fähigkeit und Intelligenz besitzen, die proklamierten Ziele zu erreichen; aber wer die Reinheit ihrer Absichten anzweifelt, wer ihr Handeln durch die Zwänge anderer Mächte erklärt, läuft Gefahr, sich vom „seriösen“ Diskurs auszuschließen.

So durfte man während des Kosovokrieges trefflich über die Ziele und das Vorgehen des Nato-Einsatzes streiten, nicht aber über die Auffassung, dass es sich um einen humanitären Krieg handele. Man hat die Methoden kritisiert, mit denen die Vereinigten Staaten in den Achtzigerjahren in Mittelamerika agierten, aber kaum die Absicht angezweifelt, dass die USA diese Länder vor der sowjetischen oder kubanischen Bedrohung schützen wollten. Das Argument, das dieser dualistischen politischen Betrachtung zugrunde liegt, ist, dass unsere Gesellschaften „wirklich anders“ seien – anders als die Gesellschaften, die aus Ländern wie der UdSSR und China hervorgegangen sind, weil man bei uns Menschenrechte und Demokratie „wirklich“ achte.

Die Tatsache, dass man demokratische Prinzipien „bei uns“ oft höher hält als anderswo, hindert jedoch keineswegs daran, die These von der spezifisch westlichen „Einzigartigkeit“ empirisch zu überprüfen. Etwa indem man zwei einigermaßen ähnliche Tragödien (Kriege, Hungersnöte, Attentate etc.) und die unterschiedlichen Reaktionen unserer Regierungen und Medien vergleicht. Wenn es Ereignisse sind, die in die Verantwortung unserer Feinde fallen, herrscht allgemeine Entrüstung; in diesem Fall kennt die Berichterstattung kein Pardon. Wenn dagegen die Verantwortung bei den westlichen Regierungen oder ihren Verbündeten liegt, werden die Katastrophen häufig heruntergespielt. Wären die Handlungen unserer Regierungen tatsächlich so altruistisch motiviert, wie behauptet wird, müssten sie vorrangig auf die Tragödien eingehen, die sie selbst zu verantworten haben, anstatt diejenigen in den Vordergrund zu stellen, die sie ihren Feinden anlasten können.

Die Beobachtung, dass fast systematisch das Gegenteil geschieht, lässt den Vorwurf der Heuchelei berechtigt erscheinen. Ein beträchtlicher Teil von Chomskys Werk ist Vergleichen dieser Art gewidmet. Die Schlussfolgerungen, die sich aus ihnen ergeben, sind nicht sehr schmeichelhaft, weder für die westlichen Gesellschaften noch für die Art, in der Medien deren Handeln kommentieren.2

Im Falle Indochinas und insbesondere Kambodschas hat Chomsky in seinen oft als „Verteidigung Pol Pots“ verschrienen Texten die Reaktionen westlicher Regierungen und Medien auf zwei nahezu zeitgleiche Ereignisse verglichen: die Massaker der Roten Khmer in Kambodscha und die Indonesiens während der Invasion in Osttimor.

Was Kambodscha betrifft, war der Protest groß – und nicht minder heuchlerisch.3 Als dagegen die indonesische Invasion anlief, wahrten sowohl die Medien als auch ihre intellektuellen Aushängeschilder ein fast völliges Stillschweigen, derweil die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, darunter Frankreich, Waffen an Indonesien lieferten, in dem Wissen, dass sie in Timor eingesetzt werden würden.4 Wollte man die lange Liste derartigen Stillschweigens erstellen, müsste man die Türkei und die Kurden, Israel und die Palästinenser aufführen, den Irak nicht zu vergessen, wo im Namen des internationalen Rechts hunderttausende Menschen einem schleichenden Tod überantwortet wurden.

Indem Chomsky diese Art von Vergleichen anstellte, hat er die seit der großen Wende so oft angeprangerte Lagermentalität vom Kopf auf die Füße gestellt: doch da die Guten (der Westen und seine Verbündeten) die Bösen angriffen (die Nationalbewegungen in der Dritten Welt sowie die so genannten sozialistischen Länder), war ein solcher Vergleich verboten. Mehr noch: Chomsky weigerte sich nicht nur, die heuchlerische Haltung einzunehmen, die er unseren Regierungen und Medien vorwirft; er war auch stets der Meinung, dass die Regierungen zuallererst jene Verbrechen anprangern müssten, die in ihrem Einflussbereich stattfanden.

Obschon er sich bei seinem Vorgehen keinen Illusionen hinsichtlich der revolutionären Regime hingab und die Verbrechen der „anderen“ keineswegs entschuldigte, war es doch fast unausweichlich, dass gerade diejenigen, die solche Illusionen gehegt und solche Absolutionen erteilt hatten, ihm vorwarfen, in ihre Fehler zu verfallen. Die Reaktion von Teilen der französischen Intellektuellen ist verständlich; sie waren darauf bedacht, das zu verteufeln, was sie angebetet hatten, und anzubeten, was sie verteufelt hatten. Natürlich reizte es sie, sich auf dem Rücken anderer für jene Fehler zu rächen, die sie dereinst selbst begangen hatten.

Meinungsfreiheit für Auschwitz-Leugner?

AN dieser Stelle muss die „Affäre Faurisson“ zur Sprache kommen, die in Frankreich zu den schärfsten Angriffen gegen Chomsky Anlass gegeben hat. Robert Faurisson, Professor für Literatur an der Universität von Lyon, wurde Ende 1970 vom Dienst suspendiert, weil er unter anderem die Existenz der Gaskammern während des Zweiten Weltkriegs geleugnet hatte. Mehr als fünfhundert Personen, darunter auch Noam Chomsky, unterzeichneten eine Petition zur Verteidigung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung. Als Antwort auf die heftigen Reaktionen, die sein Tun hervorrief, verfasste Chomsky einen kurzen Text: Einem Menschen das Recht zuzubilligen, seine Meinung zu sagen, erklärte er, bedeute keineswegs, sie zu teilen. Dieser Unterschied, in den Vereinigten Staaten eine Sache der Selbstverständlichkeit, schien in Frankreich schwer zu verstehen.

Doch Chomsky beging einen Fehler, den einzigen in dieser Affäre. Er übergab den Text seinem damaligen Freund Serge Thion und erlaubte ihm, nach Gutdünken davon Gebrauch zu machen. Thion setzte daraufhin den Text als „Bekanntmachung“ an den Anfang der Denkschrift zur Verteidigung Faurissons. Chomsky hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er nie die Absicht hatte, seinen Text an dieser Stelle veröffentlicht zu sehen, und dass er, allerdings zu spät, versucht habe, dies zu verhindern.5

Wer Chomsky in dieser Sache verurteilen will, sollte fairerweise sagen, wogegen er sich wendet: gegen den taktischen Fehler oder gegen das Prinzip einer bedingungslosen Verteidigung der Meinungsfreiheit. Im zweiten Fall wäre anzumerken, dass Frankreich in Sachen Meinungsfreiheit nicht die libertäre Tradition der Vereinigten Staaten besitzt. Dort schockiert Chomskys Haltung fast niemanden. Die American Civil Liberties Union etwa, ein Pendant zur Liga für Menschenrechte, die zahlreiche Antifaschisten in ihren Reihen hat, zieht auch dann vor Gericht, wenn Demonstrationen des Ku Klux Klan oder von Nazigruppen – und sei es in Uniform und durch überwiegend schwarze oder jüdische Viertel – verboten werden . . . Im Streit um diese Angelegenheit stehen sich also zwei unterschiedliche politische Traditionen gegenüber, von denen die eine in Frankreich vorherrschend ist, die andere in den Vereinigten Staaten, nicht aber ein Noam Chomsky als Vertreter einer fehlgeleiteten Ultralinken hier und ein republikanisches Frankreich dort.

In einer Welt, in der botmäßige Intellektuelle und liebedienerische Medien bereitstehen, die Handlungen der Mächtigen abzusegnen, ist die Lektüre von Chomskys Texten ein Akt der Selbstverteidigung. Sie kann helfen, falsche Gewissheiten und partielle Blindheit innerhalb des herrschenden Diskurses zu korrigieren. Sie erinnert daran, dass man die Welt objektiv betrachten muss, wenn man sie verändern will, und dass es einen großen Unterschied gibt zwischen revolutionärer Romantik – die oft mehr Schaden anrichtet, als dass sie Gutes bewirkt – und einer zugleich radikalen und rationalen Sozialkritik. Nach Jahren der Resignation scheint sich eine Infragestellung des kapitalistischen Systems auf internationaler Ebene neu zu formieren. Die Kombination aus Hellsicht, Mut und Optimismus, die Leben und Werk Noam Chomskys prägen, kann ihr von Nutzen sein.

dt. Christian Hansen

* Professor an der Universität Louvain (Belgien).

Fußnoten: 1 Jüngste Schriften von Noam Chomsky auf Deutsch: „Wege zur intellektuellen Selbstverteidigung. Medien, Demokratie und die Fabrikation von Konsens“, hg. von Mark Achbar, Grafenau (Trotzdem) 1996; „Der Neue militärische Humanismus. Lektionen aus dem Kosovo“, Zürich (edition 8 /PRO) 2000; „Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung“, Hamburg (Europa Verlag) 2000. 2 Vgl. Edward S. Herman und Noam Chomsky, „Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media“, New York (Pantheon) 1988, und Noam Chomsky, „Necessary Illusions. Thought Control in Democratic Societies“, London (Pluto Press), 1989. 3 Als die Vietnamesen 1979 Kambodscha besetzten und das Pol-Pot-Regime absetzten, beschloss der Westen, die Roten Khmer diplomatisch in der UNO, aber auch indirekt, über einen Militärplan, zu unterstützen. Ganz anders im Falle Indonesiens, wo ein wenig Druck seitens des Westens zweifellos ausgereicht hätte, die Massaker zu stoppen. 4 Der damalige französische Außenminister, Louis de Guiringaud, begab sich nach Djakarta, um dort ein militärisches Abkommen zu unterzeichnen. Anschließend erklärte er, Frankreich werde Indonesien wegen Osttimor bei den Vereinten Nationen nicht in eine peinliche Lage bringen; vgl. Le Monde, 14. September 1978. 5 Die englische Version des Textes – „Some elementary comments on the right of freedom of expression“ – ist im Internet abrufbar unter www.zmag.org/chomsky/articles/8010-free-expression.html.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von JEAN BRICMONT