Passfoto mit Kopftuch
Von JOCELYNE CESARI *
DASS heute in den großen europäischen Staaten insgesamt mehr als elf Millionen Muslime leben, ist eine Folge der Einwanderungsströme, die seit Beginn der Sechzigerjahre viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien in Afrika und der Karibik nach Europa gebracht haben.1 Mit dem 1974 erfolgten europaweiten Anwerbestopp für Gastarbeiter stellte sich für die hier lebenden Muslime die Frage nach ihrer Verwurzelung in den Aufenthaltsländern. Zugleich sorgte eine verstärkt betriebene Familienzusammenführung dafür, dass die muslimischen Familien in Europa sich von außen ergänzen und vergrößern konnten. Das offene Bekenntnis zur islamischen Identität erwies sich schließlich als entscheidendes Element im Prozess des Sesshaftwerdens. Aber gerade diese zunehmende öffentliche Sichtbarkeit des Islam hat auch Irritationen und oftmals gewaltsamen Widerstand gegen die Integration der Einwanderer ausgelöst.
Auch in den USA ist die öffentliche Präsenz des Islam ein neues Phänomen, das mit der religiösen Dimension der Einwanderungsdynamik zu tun hat. Obwohl es nachweislich bereits unter den Sklaven Muslime gab, beginnt die Geschichte des Islam in Nordamerika eigentlich erst mit den großen Einwanderungswellen im 20. Jahrhundert, insbesondere seit den Sechzigerjahren. Gegenwärtig kommen mehr Muslime aus Indien, Pakistan, Indonesien oder Afghanistan als aus dem Nahen Osten. Diese Neueinwanderer haben seit den Siebzigerjahren viel für den Bau von Moscheen und Schulen oder die Gründung von Zeitungen und Zeitschriften getan. Sie haben also religiöse Aktivitäten entwickelt, die sie deutlich von den ganz auf Assimilation ausgerichteten arabischen Einwanderern am Beginn des Jahrhunderts unterscheiden. Verstärkt wird die öffentliche Präsenz des Islam in der Gesellschaft durch die zunehmende Islamisierung der schwarzen Bevölkerung: Afroamerikaner, die zum Islam übergetreten sind, machen fast die Hälfte der vier bis sechs Millionen Muslime in den USA aus.
Die Mehrheit der in Europa und den USA eingewanderten Muslime kommt aus Ländern, in denen der Islam entweder Staatsreligion oder die Religion der Mehrheit ist. Ihre Übersiedlung in eine nichtmuslimische Welt, die pluralistisch und säkular geprägt ist, bringt neue Formen des Umgangs mit der islamischen Tradition hervor. Dabei spielt die große kulturelle Vielfalt der Herkunftsländer ebenso eine Rolle wie die Traditionen und Prinzipien des jeweiligen Aufnahmelandes.
Heute zeichnet sich die Integration der Muslime im Wesentlichen durch zwei Reaktionsweisen aus: Die eine hält sich an den Dar al-Islam (die islamische Subkultur)2 , die andere lässt sich auf die Eigenheiten des Gastlandes ein. Im Rahmen des Dar al-Islam gibt es in den USA wie in Europa zahlreiche Einrichtungen, die nach Art einer Solidargemeinschaft eine starke, geografisch und national geprägte Bindung an die islamische Welt herstellen. Die integrationswilligen Muslime dagegen stehen in jedem Land vor unterschiedlichen Herausforderungen: In Frankreich ist es der „Kopftuchstreit“, in Deutschland die soziale und kulturelle Marginalisierung, in Großbritannien und den USA die sozioökonomische Ghettoisierung.
Dass der Islam in den USA in einem so dynamischen Wandel begriffen ist, liegt nicht nur daran, dass die Einwanderer unterschiedlichen islamischen Richtungen anhängen, sondern auch an der Rolle der Religion in der amerikanische Gesellschaft, für die sie ein selbstverständlicher Teil des öffentlichen Lebens ist. In Europa dagegen, wo das Denken und die Traditionen weit stärker säkularisiert sind, tut sich der Islam viel schwerer, gesellschaftliche Anerkennung zu finden.
So erscheint die Frage, welche institutionellen Formen der Islam in der Fremde annehmen kann, als ein spezifisch europäisches Problem, das weniger von der Bereitschaft der Muslime abhängt, die Trennung von Kirche und Staat zu akzeptieren, als vielmehr von den Besonderheiten dieses Verhältnisses im jeweiligen Lande. Zwar erkennen alle europäischen Staaten das Prinzip der Religionsfreiheit an, aber die Trennung von Kirche und Staat ist keineswegs überall die Regel. Die Muslime wollen diese politischen Grundsätze nicht in Frage stellen. Vielmehr hängt es vom institutionellen Rahmen des jeweiligen Landes ab, wie sie sich zusammenschließen und welche Forderungen sie stellen. Ihre Bemühungen sind stets darauf gerichtet, den Islam in die bestehenden Rechtsverhältnisse einzugliedern.
Wo der Staat alle Religionen rechtlich anerkennt (Belgien, Italien, Spanien und Deutschland), hat die institutionelle Legitimierung des Islam erhebliche Fortschritte gemacht. In Spanien wurde mit dem Gesetz vom 28. Januar 1992 als rechtliche Vertretung des Islam die Islamische Kommission Spaniens (CIE) anerkannt, in der die Mehrheit der muslimischen Vereine und Verbände des Landes vertreten ist. Vorreiter in diesem Bereich war Belgien, das bereits 1974 den Islam als Religionsgemeinschaft anerkannte – es dauerte dann allerdings bis 1998, bevor ein Islamischer Zentralrat gewählt wurde, der nunmehr mit dem Staat verhandelt.
Der Akzeptanz des Islam stehen aber nicht so sehr juristische und institutionelle Hindernisse entgegen als vielmehr Widerstände, die im Denken, in den Vorstellungen der Menschen angelegt sind. In Deutschland scheitert die Hauptforderung der wichtigsten islamischen Vereinigungen (als Glaubensgemeinschaften anerkannt zu werden, was unter anderem Steuerfreiheit bedeuten würde) nicht zuletzt daran, dass die Gesellschaft noch nicht bereit ist, den Islam als offizielle und institutionell verankerte Religion zu begreifen.
Der Islam auf dem Weg zur gleichberechtigten Religion
AUCH in Ländern, die eine Staatsreligion haben (wie Großbritannien, Dänemark und Griechenland) oder in denen eine bestimmte Religion aus historischen und kulturellen Gründen eine Vormachtstellung einnimmt, ist die minoritäre muslimische Religion auf dem – mehr oder weniger schnellen – Weg zur Gleichberechtigung. In Großbritannien setzen sich die Muslime seit langem für die staatliche Anerkennung islamischer Schulen ein. Dass unlängst die von Yusuf Islam3 unterstützten Schulen anerkannt wurden, ist ein kleiner Fortschritt.
Selbst in einem Land wie Frankreich mit seiner strikten Trennung von Staat und Kirche steht die Frage der institutionellen Anerkennung des Islam noch auf der Tagesordnung. Seit 1989 ist das Problem hochoffiziell: Der Innenminister hat sich – bislang erfolglos – dafür eingesetzt, den Dialog zu verstärken und die verschiedenen Strömungen und Vereine, die unter den in Frankreich lebenden Muslimen dominieren, an einen Tisch zu bringen. Die jüngste und für diese Art von Dirigismus besonders typische Episode begann im Oktober 1999, als der Innenminister eine Reihe von islamischen Vereinigungen aufforderte, eine Erklärung zu unterzeichnen. Darin waren die grundlegenden Prinzipien des Verhältnisses von Staat und Religion festgeschrieben, die auch für die islamische Glaubensrichtung gelten sollten. Trotz der Ausflüchte einiger Vertreter der Muslime, die den Vorstoß als „Bevormundung“ und Verstoß gegen den Geist der Laizität qualifizierten, wurde dieser Text am 28. Januar 2000 von fast allen Vertretern des Islam in Frankreich unterzeichnet. Seither gehen die Beratungen weiter.
In Frankreich entstehen die Probleme, weil das Prinzip der Laizität so streng definiert wird, dass etwa religiöse Symbole im öffentlichen Bereich nicht zugelassen sind. Weil diese Auffassung gerade in Schulen strikt befolgt wird, kam es zu endlosen Debatten um das Tragen des muslimischen Kopftuchs. Zugleich hat Frankreichs oberstes Verwaltungsgericht, der Conseil d’Etat, seit 1989 wiederholt festgestellt, dass das Tragen religiöser Symbole mit dem Prinzip des Laizismus nicht unvereinbar sei.4
In den USA dagegen stellt sich die Frage nach der institutionellen Organisationsform und der rechtlichen Gleichstellung des Islam überhaupt nicht. Hier gelten Glaubensfragen als Angelegenheit der Zivilgesellschaft, und jede Einmischung des Zentralstaats oder eines Einzelstaats würde als unangebracht, ja sogar als ungehörig empfunden.
Ganz besonders deutlich treten die Unterschiede zwischen den USA und Europa in der Stellung der Religionsgemeinschaften innerhalb der Gesellschaft zutage. Für Muslime ist es ungewohnt, in säkularen Gesellschaften zu leben, in denen religiöse Bezüge weder sozial noch politisch von zentraler Bedeutung sind, sondern mehr und mehr in den Bereich des Privaten verwiesen werden. Allerdings ist auch in dieser Hinsicht die Situation von Land zu Land verschieden.
Trotz der klaren Trennung von Staat und Religion hat das religiöse Bekenntnis in den USA nach wie vor einen höheren Stellenwert als in jedem anderen Land der westlichen Welt. 70 Prozent der Amerikaner glauben an Gott, 90 Prozent beten täglich oder wenigstens einmal in der Woche, 70 Prozent gehören einer religiösen Gemeinde an und 40 Prozent nehmen jede Woche an einem Gottesdienst teil. Aber auch hier gibt es, ähnlich wie in Europa, immer mehr Anzeichen für den Niedergang dieser Religiosität. Die widersprüchliche Situation ist offenbar Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung der Religion, in der sich Formen der religiösen Erneuerung und eine Tendenz zur Abkehr von der institutionalisierten Religion überlagern. Vollständig durchgesetzt ist die Säkularisierung – sofern man darunter nur die Entmachtung der Kirchen und die soziale Abwertung der Glaubensbekenntnisse versteht – allein in Europa.
Im Alltag haben es die Muslime daher in den USA viel leichter als in Europa: die allgemeine Akzeptanz religiöser Aktivitäten gilt auch für den Islam, er ist insofern nur eine der zahlreichen Komponenten der amerikanischen Religionsvielfalt. Und dieser Islam dehnt sogar zunehmend seinen Einfluss aus. Laut Statistik liegt die Zahl der Übertritte zum Islam weit über den vergleichbaren Prozentsätzen in Europa. Dieses Phänomen zeigt sich vor allem unter der schwarzen Bevölkerung, aber auch in anderen sozialen Gruppen, etwa bei den Latinos und sogar unter den Angloamerikanern.5
Das heißt nun nicht, dass der Islam in den USA vollständig akzeptiert wäre. Es gibt nach wie vor Diskriminierung und Vorurteile, typische Phänomene der widersprüchlichen US-Gesellschaft. Man muss sich nur das Bild des Islam in den Medien anschauen. In den Hollywood-Produktionen, die im Fernsehen laufen, ist Islam schlicht identisch mit Terrorismus. Und wie in Europa auch spüren die Muslime die Folgen dieser Darstellung in ihrem Alltag. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York wurden sie in vielfacher Weise eingeschüchtert und bedroht. Das erinnert an die Welle der Diskriminierung von Jugendlichen maghrebinischer Herkunft in Frankreich während des algerischen Bürgerkriegs, vor allem nach den Attentaten von 1995 in Paris.
In den USA haben Muslime allerdings andere Möglichkeiten, sich zu wehren. Freie Meinungsäußerung und Gewissensfreiheit sind Grundpfeiler der amerikanischen Zivilgesellschaft und können von jedem Bürger eingeklagt werden. Von solchen Freiheiten dürfen ihre Glaubensbrüder in Europa nur träumen – ganz zu schweigen von der Situation in den muslimischen Staaten. In den vergangenen fünfzehn Jahren wurden in den USA überdies eine Reihe von Zeitschriften, Instituten und Organisationen gegründet, die der Verteufelung des Islam in der Öffentlichkeit entgegenwirken.
Ein gutes Beispiel sind die Aktivitäten des Council on American Islamic Relations (CAIR). Diese Organisation verfolgt das Ziel, alle Diskriminierungen des Islam und der Muslime zu verfolgen und juristische Kompensation zu verlangen. Inzwischen kann sie auf eine große Zahl gewonnener Prozesse verweisen – darunter Verfahren gegen so namhafte Firmen wie Nike und Budweiser. Beide Unternehmen wurden für schuldig befunden, einen Bezug auf den Islam hergestellt zu haben, der die Würde der Gläubigen verletzt hat, oder muslimische Angestellte wegen ihres Glaubens diskriminiert zu haben.
In den vergangenen zehn Jahren sind weitere Lobby-Organisationen dieser Art entstanden. 1990 gründete ein kleiner Kreis muslimischer Aktivisten und Intellektueller den American Muslim Council (AMC), der gegenüber dem Kongress und dem Weißen Haus für den Schutz der Rechte und der Identität der Muslime eintreten will und sich als Vermittler zwischen den islamischen Gemeinschaften und den Schaltstellen der Macht versteht. Mit Nachdruck verfolgt der AMC vor allem das Ziel der politischen Gleichstellung der Muslime mit den anderen Religionsgemeinschaften. Es geht dabei letztlich darum, die eingespielte Formel von der „jüdisch-christlichen Gesellschaft“ abzulösen: Wenn statt dessen von einer „jüdisch-christlich-islamischen“ Gesellschaft gesprochen würde, wäre endlich allgemein anerkannt, dass der Islam in der gleichen Wertetradition steht wie die anderen großen Religionen.
Sich in dieser Weise Gehör zu verschaffen gelingt den Muslimen in Europa nicht. Kürzlich sah sich CAIR veranlasst, beim französischen Konsulat in Chicago vorstellig zu werden, damit eine junge Muslimin auf ihrem Passfoto mit einem Kopftuch abgebildet sein durfte. So weit haben es die Muslime in Frankreich wahrlich noch nicht gebracht!
Zweifellos können Staatsbürger in keinem Land so wirksam gegen Diskriminierungen im Bereich der Gewissensfreiheit vorgehen wie in den USA. Die US-Richter schöpfen, wo immer es um den Schutz religiöser Minderheiten geht, den Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten aus – im Namen einer Rechtsauffassung, die in der Religionsfreiheit einen zentralen Aspekt der Menschenwürde sieht. Das nützt den Muslimen in Amerika und belegt zugleich, dass der Islam für sie zu einem positiven Integrationsfaktor werden kann.
Dass die Muslime sich gerade in der Öffentlichkeit der USA ihren Platz erobern, hat auch mit den Besonderheiten der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der eingewanderten Bevölkerung zu tun. Die USA sind das wichtigste Emigrationsziel für die Elite der islamischen Welt – es gibt dort mehr Ärzte, Hochschullehrer, Ingenieure und Firmenchefs muslimischen Glaubens als in den islamischen Ländern selbst. An US-Universitäten sind die Muslime deutlich stärker vertreten als im akademischen Bereich in Europa. Daraus erklärt sich wiederum, dass in den USA die heftigsten und interessantesten Debatten über Fragen des Islam geführt werden.
Eine solche Elite hat sich in den wichtigsten europäischen Ländern bislang noch nicht herausgebildet. Hier entstanden die Einwanderungsströme als Resultat der Verarmung der Gesellschaften in Afrika, Indien und Pakistan. Deshalb sind aus diesen Ländern vornehmlich besitzlose Menschen mit niedrigem Bildungsniveau nach Europa gekommen. Das heißt: Obwohl sich in der zweiten und dritten Generation der Einwanderer auch eine Mittelschicht entwickelt, und obwohl es inzwischen Intellektuelle gibt, die ihre Ausbildung in Europa absolviert haben, haben Muslime in den europäischen Staaten nach wie vor eine große soziale Kluft zu überwinden.6
dt. Edgar Peinelt
* Forscherin am CNRS-GSRL, Gastprofessorin an der Columbia University; Autorin von „Faut-il avoir peur de l’islam?“, Paris (Presses de Science-Po) 1997, sowie „Musulmans et républicains: les jeunes, l’islam et la France“, Brüssel (Complexe) 1998.