12.04.2001

Beklemmende Wahrheiten

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Beklemmende Wahrheiten

WER sind die Mörder?“ Als die entsetzlichen Massaker im Herbst 1997 ihre blutigen Spuren in der Region um Algier hinterließen, haben sich viele diese Frage gestellt. Bereits damals behaupteten zahlreiche Beobachter, die Armee habe ihre Hand im Spiel – und zogen sich den Unmut nicht nur des algerischen Staates, sondern auch jener französischen Intellektuellen zu, die dem algerischen Regime zu Hilfe eilten und mit Reportagen und Dokumentationen zu beweisen suchten, dass allein die Islamisten und ihr „bewaffneter Arm“ als Urheber solcher Verbrechen in Frage kämen.

Knapp vier Jahre später sind in Frankreich zwei Bücher (beide bei La Découverte) erschienen, die wieder Öl ins Feuer einer Auseinandersetzung gießen, die in Wahrheit nie aufgehört hat. Es geht um eine einfache Frage: Hat das algerische Regime die Welle der Gewalt gefördert, um sich an der Macht zu halten? Haben die Militärs dabei, um ihre Repressionspolitik gegenüber den Islamisten zu rechtfertigen, Mitglieder der Sicherheitskräfte, als Islamisten verkleidet, eingesetzt – um die Bewaffneten Islamistischen Gruppen (GIA) in der Bevölkerung verhasst zu machen und um zugleich mehr Unterstützung aus dem Westen zu erhalten?

Nesroulah Yous, ein Überlebender des Massakers von Bentalha, dem am 22. September 1997 mehr als 200 Bewohner einer Siedlung am Stadtrand von Algier zum Opfer fielen, bietet in seinem Buch ein bewegendes Zeugnis der alltäglichen Schrecken, denen die Menschen in den Ortschaften rund um Algier zur schlimmsten Zeit des Terrors ausgesetzt waren.1 Sein Bericht über das Massaker ist beklemmend zu lesen, es stockt einem der Atem. Der Autor erhebt an keiner Stelle offene Anschuldigungen gegen die Armee, doch er lässt keinen Zweifel, an wen sich seine hartnäckigen Fragen nach den Urhebern des Massakers richten. Weshalb forderten die Bewohner Bentalhas vergebens den Schutz durch die Armee? Und weshalb griff die Armee nicht ein, obwohl sie ganz in der Nähe war und das Blutbad die ganze Nacht dauerte? Was hat es zu bedeuten, dass während des Massakers ein Hubschrauber über dem Gebiet kreiste?

Habib Souaïdia, der einst sein Offizierspatent an der Militärakademie von Cherchell erworben hat und heute als politischer Flüchtling im Exil lebt, bezieht viel deutlicher Stellung.2 Nach seiner Darstellung haben die Streitkräfte, auf Befehl des Oberkommandos, seit Beginn der Krise (also seit 1992, und nicht erst seit 1995 oder 1996, wie viele Experten behaupten) die Gewalt geschürt. Racheakte, Massaker unter der Zivilbevölkerung durch Militärs in der Maske der Islamisten, permanenter Terror – Souaïdia macht präzise Angaben, liefert die Einzelheiten und nennt die Namen.

SOLCHE Veröffentlichungen müssen all jene, auch aus den Reihen der algerischen Opposition, die der Armee stets Achtung, wenn nicht gar Wohlwollen entgegengebracht haben, unangenehm treffen. Denn nun können jene, die dem algerischen Regime vorwerfen, Urheber der Gewalt zu sein, unter der das Land seit Anfang der Neunzigerjahre leidet, zwei Anklageschriften zitieren – und auf ausführlicheren Antworten bestehen, statt sich mit dem ständigen Verweis auf eine „ausländische Verschwörung“ abspeisen zu lassen. Auch wenn bei manchen schlecht gestützten Behauptungen von Habib Souaïdia ernste Zweifel angebracht sein mögen, so beweisen die beiden Bücher doch, dass niemand ungestraft Nachrichtensperren und durchgreifende Zensurmaßnahmen über ein Land verhängen kann.

Diese „Tragödie unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ ist auch das Thema des jüngsten Essays von Benjamin Stora.3 Es waren die Zensur und die Einschüchterung der Journalisten, die letztlich bei der internationalen Öffentlichkeit zu dem Eindruck führten, die algerische Krise sei ein unverständlicher Konflikt, eine Auseinandersetzung, in der nur die Logik der Gewalt vorherrsche. Es wird sich zeigen, dass die algerischen Intellektuellen durch die beiden erstgenannten Bücher in einen unangenehmen Zugzwang geraten: Sich mit der Armee anzulegen ist schließlich eines der letzten Tabus in diesem Land. Zum besseren Verständnis dieses Dilemmas sei die aufmerksame Lektüre einer weiteren Veröffentlichung empfohlen, des Buches von Tassadit Yacine-Titouh.4

AKRAM B. ELLYAS

Fußnoten: 1 Nesroulah Yous, „Qui a tué à Bentalha?“, Paris (La Découverte) 2000. 2 Habib Souaïdia, „La Sale guerre“, Paris (La Découverte) 2001. 3 Benjamin Stora, „La guerre invisible, Algérie, années 90“, Paris (Presses de Sciences-Po) 2001. 4 Tassadit Yacine-Titouh, „Chacal, ou la ruse des dominés“, Paris (La Découverte) 2001.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von AKRAM B. ELLYAS