Das Militär hat die Fäden in der Hand
Von LAHOUARI ADDI *
Algerien erlebt das zehnte Jahr der blutigen inneren Konflikte, und es scheint kein Ende in Sicht. Keine Aussicht auf Frieden – die großen Hoffnungen, die sich im April 1999 an die Wahl von Abdelaziz Bouteflika zum Staatspräsidenten knüpften, sind zerstoben. Gleich nach seiner Amtsübernahme hatte sich Bouteflika bemüht, einen „Pakt der Nationalen Versöhnung“ durchzusetzen. Grundlage dieses Pakts war ein – geheim gehaltenes – Abkommen zwischen dem Militär und der Islamischen Armee des Heils (AIS), dem bewaffneten Arm der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS).
Bouteflika unterstützte dieses Abkommen, das noch unter der Präsidentschaft von Liamine Zéroual (1995–1999) – allerdings ohne dessen Zustimmung – geschlossen worden war. Der neue Präsident zeigte sich bereit, die Vereinbarung nun politisch abzusegnen. Er hoffte, damit einen echten Friedensprozess in Gang zu setzen und den Einfluss jener Generäle zurückzudrängen, die im Januar 1992 die von den Islamisten gewonnenen Parlamentswahlen für ungültig erklärt und damit den Konflikt ausgelöst hatten.
Seither hat der Krieg Tausende von Opfern gefordert, zumeist unter der Zivilbevölkerung. Dorfbewohner wurden in ihren Häusern ermordet, ohne dass die örtliche Polizei wirkliche Ermittlungen aufgenommen hätte, zur Verhaftung von Schuldigen ist es so gut wie nicht gekommen. So kam es zu Gerüchten und Spekulationen über die Urheber der Massaker.
Angesichts der Aktivitäten der Untergrundkämpfer muss der „Versöhnungspakt“ wohl als gescheitert gelten. Für viele Beobachter ist das eine unmittelbare Folge der strikten Geheimhaltung des Abkommens mit den Islamisten. Man zieht sogar in Zweifel, dass es die Verträge überhaupt jemals gegeben hat, und behauptet, das Ganze sei eine Inszenierung gewesen, bei der angebliche Islamisten durch den militärischen Geheimdienst in den Untergrund eingeschleust worden seien. Dafür spreche auch, dass nach Informationen einiger Zeitungen eine Reihe von übergelaufenen Kämpfern straffrei ausgingen, obwohl sie sich zu Kapitalverbrechen bekannten und eigentlich vor ein Gericht hätten gestellt werden müssen.1
Wohl wissend, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, will Präsident Bouteflika nun mit den Islamisten über ein neues Abkommen verhandeln, das zur „Nationalen Versöhnung“ führen soll. Nichts anderes hatte auch sein Amtsvorgänger General Liamine Zéroual angestrebt. Für die Militärs ist das eine Kampfansage. Ihrer Meinung nach sind sie – und nicht der Präsident – zuständig für die politische Regelung des Konflikts mit den Islamisten.
Der Präsident ist daraufhin in die Kritik der Regierungskoalition2 geraten. Man hat ihn gewarnt, dass seine Autorität nur so lange respektiert werde, wie er sich an die ungeschriebene Grundregel des politischen Systems in Algerien hält: Die Armee hat über den staatlichen Institutionen zu stehen. Die Koalitionsparteien, die angeblich die ideologischen Strömungen der Gesellschaft repräsentieren – so soll etwa der RCD (Rassemblement pour la culture et la démocratie) von Saïd Sadi das „laizistische Lager“ vertreten und der MSP (Mouvement de la société pour la paix) von Mahfud Nahnah die Islamisten –, hatten die Kandidatur Bouteflikas im April 1999 unterstützt und den Vereinbarungen mit den Islamisten zugestimmt. Dafür wurden sie an der Regierung beteiligt.
Diesen Parteien gemeinsam ist vor allem eine feindliche Haltung gegenüber der Islamischen Heilsfront (FIS) und der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS). Und auch gegen den Präsidenten ergreifen sie Partei, sobald es zu Streitigkeiten zwischen ihm und der Militärführung kommt. Das gilt jedenfalls für die Parteiführungen, denen von vielen ihrer Anhänger vorgehalten wird, dass sie die geheimen Abkommen mit den bewaffneten Islamisten mitgetragen haben und nicht dazu bereit waren, sich an offenen Verhandlungen mit dem politischen Flügel der FIS zu beteiligen. Solche Gespräche sind von anderer Seite geführt worden und haben 1995 den Weg frei gemacht für die Plattform von Rom, die seinerzeit in Sant’Egidio ausgehandelt wurde.3
Das Regime hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert, und folglich kleben die Militärs noch genauso an ihren Posten wie im Januar 1992. Fünf Staatspräsidenten hat es seither gegeben, aber noch immer sind es dieselben hohen Offiziere, die bestimmte Funktionen innehaben oder entscheidenden Einfluss ausüben. Letztlich waren es die Generäle Mohamed Lamari, Tewfik Médiène und Smaïn Lamari sowie die pensionierten (aber einflussreichen) Generäle Khaled Nezzar und Larbi Belkheir4 , die zunächst Chadli Bendjedid aus dem Amt jagten, dann (nach der Ermordung von Mohamed Boudiaf) auch Ali Kafi und Liamine Zéroual zum Rücktritt zwangen, um schließlich Abdelaziz Bouteflika auf den Schild zu heben. Man darf sich fragen, ob ihre aktuellen Meinungsverschiedenheiten mit Bouteflika als Vorboten der nächsten vorgezogenen Präsidentschaftswahl zu deuten sind.
An der militärischen Kompetenz kann es wohl kaum liegen, dass sich die Generäle so lange auf ihren Posten halten: Die blutigen Anschläge der Untergrundkämpfer können sie nicht eindämmen. Die militärische Führung nimmt zwar Einfluss auf die Politik – dementiert das aber lautstark. Dabei bedient sie sich des militärischen Geheimdienstes, einer Einrichtung, die nur zu diesem Zweck geschaffen wurde. Sie hat freilich auch ihre Leute in den Parteien, in der Presse, den Gewerkschaften und in verschiedenen Verbänden und Vereinigungen.
Vorwürfe gegen die Geheimdienste wegen Menschenrechtsverletzungen werden daher abgeblockt. Dieser Logik entsprechen auch das Vorgehen gegen amnesty international oder das Verbot der Bücher „Qui a tué à Bentalha?“ und „La Sale guerre“5 sowie die Hetzjagd auf Intellektuelle, die Petitionen zur Einberufung einer internationalen Untersuchungskommission unterzeichnet haben. Natürlich richten sich solche Maßnahmen auch gegen diejenigen innerhalb des Regimes, die offen für eine politische Lösung der Krise eintreten.
Die Armeeführung verwendet ihr ganzes Geschick darauf, den Doppelcharakter der Staatsmacht weitgehend zu verschleiern und zu vertuschen, dass die Militärspitze den zivilen Institutionen die Weisungen gibt. Damit soll zugleich die Politik der Unterdrückung verdeckt werden, die von der internationalen Gemeinschaft nicht mehr hingenommen wird – was den Militärs ein Dorn im Auge ist.
Bedenklich finden die Generäle vor allem die Einmischung von amnesty international: Die Organisation droht damit, sie vor einem Internationalen Strafgerichtshof wegen „Verstoßes gegen nationale Gesetze und internationale Menschenrechtsabkommen“ anzuklagen. Als die Mitglieder einer amnesty-Delegation, die im November 2000 Algerien bereiste, Gespräche mit den Generälen Mohamed Lamari, Tewfik Médiène und Smaïn Lamari über die „verschwundenen“ Personen und andere außergesetzliche Exekutionen führen wollten, sahen sie sich heftigen Angriffen durch die algerische Presse ausgesetzt. Kein Wunder – sie hatten es gewagt, den Ruf hoher Offiziere in Frage zu stellen, die von den Zeitungen als Helden gefeiert werden.
Staatspräsident Bouteflika, mit dem die Armeespitze Katz und Maus gespielt hat, kann das nur recht sein: Wenn die Generäle unter Druck geraten, kann er den ihm auferlegten knappen Handlungsspielraum etwas auszuweiten versuchen. Der Präsident hofft, seinen Vorteil daraus zu ziehen, dass die Generäle mit Massakern in Verbindung gebracht werden.6 Natürlich ist auch der Militärführung klar, dass der Präsident, den sie derzeit nicht so hart angehen kann, jede sich bietende Gelegenheit zu einem Gegenschlag nutzen wird.
Im Übrigen sind auch die Offiziere der algerischen Armee alles andere als eine verschworene Gemeinschaft. Dieselben Konfliktlinien, die die algerische Gesellschaft durchziehen, zeigen sich auch hier – nur war bislang der Korpsgeist immer noch stark genug, um die Geschlossenheit der Armee zu sichern. Gleichwohl bedeuten die Vorwürfe, die gegen die Generäle Mohamed Lamari, Tewfik Médiène und Smaïn Lamari erhoben werden, eine Schwächung ihrer Position. Andere hochrangige Offiziere könnten nämlich auf die Idee kommen, sie zu opfern, um die Armee als Institution zu retten.
Aus den Berichten von amnesty international über Folter, verschwundene Personen und außerrechtliche Exekutionen (die im Übrigen durch zwei jüngst in Paris veröffentlichte Arbeiten gestützt werden; siehe die nebenstehende Buchbesprechung von Akram B. Ellyas) wird deutlich: Mit Ausnahme von Afghanistan gibt es heute kein Land auf der Welt, in dem die Menschenrechte so massiv verletzt werden wie in Algerien und in dem eine Militärführung, die dem Staat dienen sollte, dessen rechtliche Verfassung derart grob missachtet.
Wie konnte es dazu kommen, dass eine einst geachtete Führung so repressiv gegen die eigene Bevölkerung vorgeht? Das algerische Regime ist aus einer aufständischen Bewegung hervorgegangen, die bei ihrem Unabhängigkeitskampf viele Menschenleben geopfert hat. Das Massaker von Melouza, nachträglich der französischen Kolonialarmee zugeschrieben, ist ein Beispiel für diesen Blutzoll.7 Den Untergrundführern galt damals jeder Algerier, der sich nicht auf die Seite der Nationalen Befreiungsfront FLN schlug, als Verräter, der den Tod verdiente.
An diesem Todeskult (der sich in seiner religiös legitimierten Form auch bei den Islamisten findet) haben die Generäle festgehalten: Für sie ist die Armee die Verkörperung einer Nation, die allein durch eine Führung im Geiste der FLN gegen die „Verräter“ verteidigt werden kann. Mit einer Kultur der staatsbürgerlichen Tugenden ist diese Mentalität unvereinbar – sie gesteht vielmehr den Militärs das Recht zu, über Leben und Tod zu entscheiden, wenn es um Menschen geht, die im Verdacht stehen, die Fundamente der Nation erschüttern zu wollen.8
Die Massaker unter den Dorfbewohnern – vor allem in Rais, Bentalha, Relizane und Médéa – folgen den gleichen mentalen Mechanismen wie einst in Melouza. Nur dass damals für das Blutbad die Militärführer einer nationalen Befreiungsbewegung verantwortlich waren, die sich im Krieg mit einer Besatzungsmacht befand, während die heutigen Massaker in einem unabhängigen Algerien stattfinden, das sich – im Prinzip – als Rechtsstaat versteht.
Dass die internationale Gemeinschaft ein solches Ausmaß an Repressionen keinesfalls hinnehmen würde, war den Generälen klar. Aber sie wussten sich zu helfen, indem sie die Berichterstattung über die Massaker einschränkten und den Vertretern der wichtigen ausländischen Medien keinen Zugang zu den Schauplätzen gewährten – der Konflikt sollte möglichst „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ ausgetragen werden. Obwohl also mediale Verschleierung verordnet war, ist es den Menschenrechtsorganisationen und den Vereinigungen der Familien von Verschwundenen und Opfern des Terrorismus mit Hilfe vieler Journalisten und NGOs gelungen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und die Algerier wie die internationale Gemeinschaft auf die Wirklichkeit eines Konflikts aufmerksam zu machen, dessen Parteien ihre Taten häufig als die des Gegners ausgeben. Dass als Militärs verkleidete Islamisten Erschießungen durchführen und die Militärs umgekehrt als Islamisten maskiert ihre Strafmaßnahmen ausüben, ist typisch für diese Auseinandersetzung, in der beide Seiten die öffentliche Verurteilung des Gegners erreichen wollen, indem sie ihm Verbrechen unterschieben, die sie selbst begangen haben.
Um diese Spirale tödlicher Gewalt und das Verhalten der Kontrahenten zu begreifen, muss man noch einmal rekapitulieren, wer sich hier gegenübersteht und warum. Zunächst die Armee: Sie geht in diesem Krieg auf drei verschiedene Arten vor. Zum einen durchkämmt sie mit ihren regulären Truppen bestimmte Gebiete. Von diesen Einsätzen wird die Presse unterrichtet, und manchmal ist das Fernsehen dabei. Zum anderen führen Spezialtruppen „gezielte Schläge“ durch, um bewaffnete Gruppen in genau eingegrenzten Gebieten auszuschalten. Und drittens gibt es die Sonderaufträge des militärischen Geheimdienstes, der Informationen durch eingeschleuste Agenten gewinnt oder durch Folter erpresst und dann ohne Gerichtsverfahren Menschen töten lässt, die im Verdacht stehen, die Islamisten zu unterstützen.
Die zweite wichtige Kraft im Konflikt sind die paramilitärischen Verbände (Milizen und so genannte Selbstverteidigungsgruppen), die sich aus bewaffneten Zivilisten zusammensetzen.9 Mit der großzügigen Verteilung von Waffen an Menschen, deren Angehörige von Islamisten getötet wurden, oder an die Bewohner von Dörfern, die von angeblich islamistischen Gruppen überfallen wurden, versucht die Armee, die Zivilbevölkerung in den Schlagabtausch hineinzuziehen, um dann selbst als neutrale Ordnungsmacht auftreten zu können. Doch diese Strategie gerät schnell an ihre Grenzen: Tagtäglich berichten die Zeitungen von ganz gewöhnlichen Straftaten, bei denen die verteilten Waffen zum Einsatz kommen.
Die dritte Konfliktpartei sind die bewaffneten Islamisten. Sie sind noch genauso aktiv wie zu Beginn der Krise, und niemand weiß so recht, woher sie diese Stärke nehmen. Manchmal sickern Informationen über sie durch, es gibt Gerüchte, doch Journalisten, die davon berichten, droht Gefängnisstrafe. Angeblich soll nach dem fragwürdigen Abkommen zwischen AIS und militärischem Geheimdienst ein Teil der Islamisten wieder in den Untergrund gegangen sein und sich der GSPC10 angeschlossen haben. Deren Führer, Hassan Hattab, ein desertierter Fallschirmjäger, steht im Begriff, zur zentralen Figur des Untergrunds zu werden. Von der Kabylei aus, seiner Heimatregion, soll er die Aktivitäten der Kämpfer in ganz Algerien koordinieren.
Insgesamt ist die Auseinandersetzung geprägt von der Logik eines Systems, in dem die Militärführung grundsätzlich über dem Staat und seinen Institutionen steht. Daher muss etwa jeder Richter, der ein Verfahren wegen Terrorakten eröffnen will, zuvor die ausdrückliche Erlaubnis bei seinen Vorgesetzten einholen. Staatliche Instanzen dürfen im Kampf gegen den Terrorismus nicht die Initiative ergreifen, und der Justiz ist das Recht verwehrt, sich mit politisch motivierten Gewalttaten zu befassen – weil manche der verhafteten Terroristen eben auch für die andere Seite gearbeitet haben.
Allgemein ist man der Ansicht, dass der Konflikt andauern wird, solange die Generäle den Staat und die Medien fest im Griff haben. Zu diesem Schluss kommt auch ein kürzlich in Europa veröffentlichter Bericht, der in Algerien sehr ernüchternd gewirkt hat.11 Dort werden die folgenden „Empfehlungen an die Regierung und den Staatspräsidenten Algeriens“ formuliert:
1. Eine Übergangsregierung aus den Parteien, die an den Wahlen von 1991 teilgenommen haben, soll einberufen werden.
2. Die Bestrebungen und politischen Haltungen der Islamisten sollten eine legitime Ausdrucksmöglichkeit erhalten. Das muss nicht unbedingt die Wiederzulassung der FIS durch die Regierung bedeuten. Vielmehr könnte etwa die Wafa-Partei von Talib Ibrahimi legalisiert werden, die als Nachfolgeorganisation der FIS gilt.
3. Ein öffentlicher und nachvollziehbarer Dialog mit allen islamistischen Gruppen, angeführt durch die Wafa, sollte eingeleitet werden, unterstützt von neutraler dritter Seite. Jede Initiative dieser Art muss auf die Abkommen von Sant’Egidio (1995) Bezug nehmen.
4. Die Nationale Volksversammlung sowie die Regional- und Gemeindeparlamente sind aufzulösen, und ein Zeitplan für die Abhaltung neuer Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen muss aufgestellt werden.
5. Eine Verfassungsänderung sollte in Angriff genommen werden mit dem Ziel, neue institutionelle Formen zu etablieren, die mehr Transparenz und eine erweiterte Mitwirkung aller Parteien sicherstellen. Auch die Rolle der algerischen Streitkräfte sollte neu bestimmt werden.
6. Nach dem Vorbild von Ländern wie Chile, Argentinien und Südafrika müsste eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ gebildet werden, der auch internationale Beobachter angehören. Im Prozess der Aussöhnung müssen die Anliegen der Opfer berücksichtigt werden.
7. Es sollte ein Rahmen und eine Vermittlungsinstanz geschaffen werden, um einen dauerhaften Dialog zwischen der algerischen Regierung und den Islamisten zu unterstützen.
dt. Edgar Peinelt
* Professor am Institut für Politische Studien (IEP) in Lyon, Forschungsarbeit bei CERIEP und GREMMO; von ihm erschien „Les Mutations de la société algérienne“, Paris (La Découverte) 1999