Unsere Bücher sind kein Koran
Von ELISA MORENA *
„Es gibt keine Alternative zur Zerstörung Israels“, liest man in fetten Großbuchstaben, sobald man die Internetseiten der amerikanischen Lobbygruppe Jews For Truth Now1 aufruft. Im November und Dezember 2000 hat diese Interessengruppe in mehreren US-amerikanischen und israelischen Zeitungen in Anzeigen auf diese Losung verwiesen und kritisch festgestellt, es handele sich um ein Zitat aus einer Enzyklopädie („Unser Land Palästina“2 ), auf das in den neuen palästinensischen Schulbüchern für die sechste Klasse verwiesen werde. Nach Ansicht der jüdischen Lobbyisten zeigt sich hier ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Intifada und der „antisemitischen Indoktrination“ palästinensischer Schulkinder. Jews For Truth Now fordert von den Vereinten Nationen, eine internationale Kommission solle die „rassistischen Inhalte“ der von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) herausgegebenen Schulbücher untersuchen, in denen „zum Völkermord aufgerufen“ werde.
Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung, die im vergangenen Herbst exakt mit Beginn der zweiten Intifada einsetzte, ist eine Studie mit dem Titel „Die neuen Schulbücher der Palästinensischen Autonomiebehörde für die erste und sechste Klasse“, die von einer US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation erstellt wurde, dem Center for Monitoring the Impact of Peace (CMIP). Die Autoren kommen darin zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Schulbücher „in keinem Fall darum bemüht sind, Frieden und Koexistenz mit Israel zu lehren, sondern genau das Gegenteil“3 . Aus dieser Arbeit, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde, ließ sich nur der eine Schluss ziehen: Die PNA fördert ein geistiges Klima des Hasses, und daraus erklärt sich der „Fanatismus“ der Palästinenser.
Seit dem Junikrieg von 1967 hatten die Schüler in den von Israel besetzten Gebieten Gasastreifen und Westjordanland weiterhin die Schulbücher aus Ägypten bzw. Jordanien benutzt, allerdings mit von israelischer Seite verfügten Änderungen, die vor allem in der Streichung antisemitischer und antizionistischer Passagen bestanden hatten. 1991, während der Konferenz von Madrid, begannen die Palästinenser mit dem Aufbau eigener Ministerien (die dann drei Jahre später im Rahmen der Palästinensischen Autonomiebehörde eingerichtet wurden). Die ursprüngliche Kommission zur Erarbeitung eines palästinensischen Bildungsprogramms für den Gasastreifen und das Westjordanland bestand aus 24 Personen aus den besetzten Gebieten und aus dem Exil.
Dieses Programm gehörte 1994 zu den wichtigsten Anliegen des neuen Staatsministers für Bildung, Professor Na’im Abu al-Hommos. „Das Bildungssystem, das wir übernommen haben, war in einem erbärmlichen Zustand“, erklärt er heute. „Überfüllte Klassen, zu wenige Lehrer und völlig veraltete Schulbücher, die noch aus der Zeit vor 1967 stammten. Da wurde den Schülern zum Beispiel erklärt, wie großartig das Königreich Ägypten [Ägypten ist seit 1953 eine Republik] mit seinen zwanzig Millionen Einwohnern sei.“
Ein eigens gegründetes Zentrum wurde mit der Entwicklung eines neuen Curriculums betraut. Zahlreiche Lehrer und Fachleute aus Staat und Wirtschaft wurden um ihre Mitarbeit gebeten. Auch bei anderen arabischen Staaten wie Marokko holte man sich Rat, ebenso bei der Unesco. Das Resultat dieser Bemühungen, ein Dokument von siebenhundert Seiten, wurde schließlich vom palästinensischen Legislativrat einstimmig gebilligt.
Mit Hilfe finanzieller Zuwendungen Italiens, die von der Weltbank verwaltet wurden, begann man 1998 mit der Ausarbeitung von neuen Schulbüchern, zunächst für die erste und sechste Klasse. Im September 2000 standen den Schülern dann die ersten neuen Bücher zur Verfügung. Zwei Klassen werden nun Jahr für Jahr hinzukommen – die übrigen müssen mit den aktuellen Ausgaben der ägyptischen und jordanischen Schulbücher vorlieb nehmen.
Johanan Manor, Vizepräsident des CMIP, das die Studie über die Schulbücher erstellt hat, stammt aus Frankreich, ist Absolvent der École nationale supérieure (ENA) und lebt heute in Israel. Er bestreitet jede Verbindung seiner Organisation mit der kalifornischen jüdischen Lobby Jews For Truth Now und erklärt sogar, er werde rechtliche Schritte gegen die Lobbyisten einleiten, weil diese ohne Erlaubnis einen Link zum CMIP in ihre Internetseiten eingefügt hätten. Aber: Auch in der CMIP-Studie findet sich der Verweis auf „Unser Land Palästina“ und das Zitat „Es gibt keine Alternative zur Zerstörung Israels“.
Die Verantwortlichen im palästinensischen Bildungsministerium verweisen darauf, dass es 1947, als die zitierte Enzyklopädie entstand, den Staat Israel noch gar nicht gegeben hat, aber der Vizepräsident des CMIP stellt fest, das inkriminierte Zitat sei auch in der überarbeiteten Ausgabe von 1965 nicht herausgenommen worden. Um es noch einmal klarzustellen: In dem palästinensischen Schulbuch ist die Losung nicht enthalten. Und in dem Schulbuch wird tatsächlich auf die Ausgabe von 1947 verwiesen.
Auf den Landkarten ist Israel ein weißer Fleck
DIE in der CMIP-Studie geäußerte Kritik stellt vor allem heraus, dass die Schulbücher die Tendenz haben, Israel seine „Existenzberechtigung“ abzusprechen. Bei den zitierten Passagen geht es um die Geschichte des Konflikts, die zionistische „Eroberung“ Palästinas in der Zeit von 1917 bis 1948, die Vertreibung der Palästinenser usw. Dahinter steht die Frage, ob es nur dann Frieden geben wird, wenn die Palästinenser ihre Sicht auf die Geschichte aufgeben und ein Geschichtsbild übernehmen, in dem das zionistische Projekt als gerechtfertigt erscheint. Darf jeder, der von der Vertreibung der Palästinenser spricht, wie dies bereits zahlreiche israelische Historiker getan haben, des „Aufrufs zum Völkermord“ bezichtigt werden? Kann man den Schulbüchern wirklich zum Vorwurf machen, dass sie Izz ad-Din al-Kassem als Helden des palästinensischen Kampfes in den Dreißigerjahren rühmen, nur weil heute der militärische Flügel der Hamas seinen Namen benutzt?
Ein schwierigeres Thema ist die Frage, was in den Schulbüchern ausgelassen wurde. In der CMIP-Studie wird darauf verwiesen, dass auf verschiedenen Palästina-Karten in den Geografie- und Staatskundelehrbüchern der sechsten Klasse das Nachbarland Israel nicht verzeichnet ist, sondern nur Städte im Westjordanland und im Gasastreifen, außerdem jene Städte innerhalb des israelischen Staatsgebiets, die einst einen hohen palästinensischen Bevölkerungsanteil besaßen (wie Jaffa und Haifa) oder ihn noch heute haben (wie Nazareth). Auf einer anderen Karte sind der Gasastreifen und das Westjordanland deutlich gekennzeichnet – Israel müssen sich die Betrachter selbst hinzudenken. Die Oslo-Verträge von 1993 zwischen der PLO und Israel finden gerade mal Erwähnung – und das nur im Zusammenhang mit der Rückkehr der PLO nach Palästina.
Als Antwort auf diese Kritik erinnert Professor Abu al-Hommos daran, dass Israel selbst bis heute seine Staatsgrenzen nicht eindeutig festgelegt hat. Deshalb habe das palästinensische Bildungsministerium sie nicht einzeichnen lassen. Ob nun mit oder ohne klare Grenze – dies alles ist kein Grund, den Staat Israel aus den Karten völlig verschwinden zu lassen, sodass nicht einmal der Name erscheint. Bezüglich der Oslo-Verträge meint der Staatsminister: „Für die Palästinenser haben sie nichts als Enttäuschung und Frustration gebracht. Es werden mehr jüdische Siedlungen gebaut als je zuvor, und kaum einer der vereinbarten israelischen Truppenabzüge ist durchgeführt worden. Sollen wir darauf noch Loblieder singen?“ Warum aber als Alternative zum Loblied völliges Verschweigen? Letztlich hat sich das CMIP mit seiner Sicht der palästinensischen Schulbücher durchgesetzt: Im Dezember 2000 gab die italienische Regierung dem Druck bestimmter Parlamentsfraktionen nach und beschloss (mitten im Wahlkampf), die Förderung des palästinensischen Schulprogramms einzustellen. Das palästinensische Bildungsministerium erhielt eine offizielle Mitteilung der Weltbank, dass die für Erstellung und Drucklegung der Schulbücher für die Klassen eins, zwei, drei und fünf sowie für die Lehrerausbildung vorgesehenen Mittel nun anderen Zwecken zugeführt würden.
Große Empörung, nicht nur in Israel, hat außerdem das Kapitel über Toleranz im Staatskundelehrbuch für die sechste Klasse hervorgerufen. Auf einem der Bilder sieht man zwei Palästinenser – einen Christen und einen Muslim –, die sich die Hand geben. Das CMIP kritisierte, dass hier kein Jude oder Israeli zu sehen sei, und verwies darauf, dass in der Geschichte des Islam beides, Christentum wie Judentum, zu den dhimmi, den anerkannten und geschützten Religionen, gehört hätten. Professor Abu al-Hommos verteidigt das Bild: Die CMIP-Studie, sagt er, verkenne hier, dass es sich, wie der Name schon sagt, um ein Schulbuch handele, das die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden müsse – und in der Wirklichkeit des Landes lebten nun einmal christliche und muslimische Palästinenser zusammen.
Professor Ruth Firer, die eine andere Studie leitet, welche vom Truman-Institut für Forschungen zur Förderung des Friedens in Auftrag gegeben wurde,4 widerspricht den Vorwürfen des CMIP: „Dieses Kapitel ist nichts Besonderes, so oder ähnlich behandelt man diese Frage in fast allen Schulbüchern der Welt. Das zeigt nur, dass dem CMIP jede pädagogische und didaktische Einsicht fehlt und dass diese Studie allein politisch motiviert war – man wollte nur zeigen, dass es keinen Frieden mit den Palästinensern geben kann.“
Ruth Firer konstatiert zwar, dass ihre Studie sich im Ergebnis nicht von der CMIP-Studie unterscheide – vor allem hinsichtlich der bestehenden Tendenz zum Märtyrerkult –, aber sie distanziert sich von der Interpretation ihrer US-Kollegen und deren politischer Instrumentalisierung: „Mein Forschungsgegenstand ist die Darstellung des israelisch-arabischen Konflikts in den Schulbüchern, die bei den beiden Völkern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch waren. Für mich steht dabei das Bild vom Anderen im Zentrum, verbunden mit der Frage, wie es entstanden ist und sich gewandelt hat. Langsam nur erkennt man an, dass es eine israelische Verantwortung für den palästinensischen Exodus gibt, aber das hat fünfzig Jahre gebraucht. Für die Palästinenser war es das erste Mal, dass sie eigene Schulbücher konzipieren konnten. Diese Bücher mit den aktuellen Büchern in Israel zu vergleichen wäre nicht gerecht und intellektuell unredlich.“
Ruth Firer wird noch deutlicher: „Für eine Besatzungsmacht ist es doch immer einfacher, sich den Besetzten gegenüber großzügig zu zeigen, als umgekehrt. Die Israelis nehmen den Alltag in den besetzten Gebieten nicht zur Kenntnis und begreifen auch nicht, was es bedeutet, dass die Verträge von 1993 den Palästinensern nicht den erhofften Wohlstand gebracht haben.“ Und weiter: „In den neuen palästinensischen Schulbüchern finden sich weit weniger negative Vorurteile gegenüber Juden und Israelis als in den jordanischen und ägyptischen Texten, die vorher in Gebrauch waren. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, was die Palästinenser unter der israelischen Besatzung zu erdulden hatten.“ Man muss nur einmal in Gasa gewesen sein und sich durch die Menschenmassen in den Gassen der Flüchtlingslager gedrängt haben, um zu begreifen, wie der „Märtyrerkult“ genährt wird – also nicht nur durch palästinensische Parolen, sondern gleichermaßen durch die israelische Repression.
Noch einmal Ruth Firer: „Bis in die Sechzigerjahre waren die israelischen Schulbücher reine zionistische Propagandaschriften, voll von rassistischen Klischees über Gojim (Nichtjuden) und auch über orientalische Juden. Die Existenz eines palästinensischen Volkes wurde schlicht ausgeblendet.“ Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlich verschiedenen Sichtweisen und Erfahrungen also wird die derzeitige polemische Auseinandersetzung ausgetragen. Johanan Manor meint, dass die israelischen Schulbücher dem Gedanken der Koexistenz wesentlich positiver gegenüberstünden als die palästinensischen, räumt jedoch ein, dass auch hier noch vieles im Argen liege: „Sicher, die Schulbücher, die üblicherweise in den Schulen der Ultraorthodoxen benutzt werden, enthalten manchmal sehr rassistische und schockierende Äußerungen über die Araber.“5 Er habe sich deswegen bereits an das israelische Bildungsministerium gewandt. Doch diese Ergebnisse werden nicht groß publik.
Ruth Firer möchte die zählebigen Vorurteile aufbrechen. Zusammen mit palästinensischen Kollegen arbeitet sie an einem Schulbuch für die fünfte Klasse, das von gemeinsamen Grundwerten ausgeht – ein Modellversuch, bei dem es bereits praktische Erfahrungen gibt. Palästinensische und israelische Schüler haben mit einer je eigenen Version des Buchs gearbeitet. Natürlich werde man „diese Bücher erst einsetzen können, wenn sich die politische Situation normalisiert hat“, meint die Forscherin. Vorerst gehe es darum, die Zusammenarbeit zwischen israelischen und palästinensischen Lehrern weiter zu befördern: „Auch wenn die Politiker einen Friedensvertrag schließen, wird es noch Jahre dauern, bis die Menschen umerzogen und so sozialisiert sein werden, dass sie einander akzeptieren und tolerieren können.“
Johanan Manor vom CMIP vertritt einen völlig anderen Ansatz: „Mit der Unterzeichnung der Verträge von Oslo haben sich Palästinenser und Israelis zur wechselseitigen Anerkennung des Existenzrechts verpflichtet. Es ist bedauerlich, dass in den palästinensischen Schulbüchern dieser historischen Entscheidung nicht Rechnung getragen und Israels Existenzrecht bejaht wird. Diese Anerkennung ist für die Palästinenser wahrscheinlich eine schmerzliche Sache, aber auch wir haben im Exil viel Leid erlebt.“
Na’im Abu al-Hommos erwidert darauf: „Wir werden auch in Zukunft, wie bisher, Bücher herausbringen, die von Palästinensern für Palästinenser verfasst sind. Sie behandeln unterschiedlichen Lernstoff und werden stets der wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Wirklichkeit angepasst. Unsere Bücher sind kein Koran – man kann sie ändern.“ Beide, Ruth Firer und Abu al-Hommos, halten das CMIP für eine Einrichtung mit vorgefassten Meinungen. Itamar Marcus, der für den Schulbuchreport verantwortliche Forschungsdirektor, ist eine bekannte Figur aus den Siedlerkreisen, er lebt in der 1982 geschaffenen jüdischen Siedlung Efrat.
Abu al-Hommos hofft, für die Schulbücher der verbleibenden zehn Jahrgangsstufen neue finanzielle Förderung im Ausland zu finden: „Allerdings unter der Bedingung, dass wir nicht zensiert oder unter Druck gesetzt werden – sonst müssen wir eben im Rahmen unserer eigenen Möglichkeiten weitermachen.“ Jeder Schüler habe dem Zentrum für die Ausarbeitung der Schulbücher im Bildungsministerium fünf Schekel (etwas über zwei Mark) gezahlt, berichtet er – eine symbolische Geste, aber genug, um einige Monate weiterzuarbeiten. Wie alle öffentlichen Einrichtungen der Palästinenser leidet auch diese Institution unter der israelischen Politik der Blockaden und der wirtschaftlichen Abschnürung der autonomen palästinensischen Gebiete. Mehr als jedes Schulbuch trägt diese Unterdrückungsstrategie dazu bei, den Graben zwischen Palästinensern und Israelis zu vertiefen.
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin, Ramallah