12.04.2001

Vom guten und schlechten Gebrauch der Geschichte

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Vom guten und schlechten Gebrauch der Geschichte

Von TZVETAN TODOROV *

Wie sollen wir uns die Vergangenheit zu Diensten machen? Öffentliches und privates Leben unterliegen in dieser Frage nicht denselben Regeln. Im Privatleben nämlich ist das Verhältnis zwischen den Worten und der Welt an die Beziehung zwischen zwei Menschen geknüpft – dem, der redet, und dem, der zuhört. Wenn ich eine Wahrheit kenne, von der ich denke, dass sie meinen Freund schmerzt, äußere ich sie nicht, und wenn ich auf eine Enthüllung stoße, die meinen Seelenfrieden stört, weigere ich mich, sie zur Kenntnis zu nehmen.

Im öffentlichen Leben dagegen ist das anders: Hier gilt es, jede Wahrheit zu äußern. Wenn ich eine Information erhalte, soll ich mich nicht zuerst fragen: Aus welchem Grund verbreitet X diese Information? Und wem nützt sie? – sondern ich soll fragen: Ist sie wahr? Goebbels beschuldigte das sowjetische Regime, für die Massaker in Katyn verantwortlich zu sein. Die Aussage wurde dadurch, dass der Naziminister verabscheuungswürdig war, nicht einen Deut weniger wahr. Lange Zeit wusste man auch von den Lagern in der Sowjetunion, doch die Nachricht wurde unter dem Vorwand ignoriert, dass man die roten Arbeiter nicht um ihre Hoffnungen bringen dürfe. Als sich eines Tages die Wahrheit dann doch aufzwang, war die Arbeiterklasse um wesentlich größere Hoffnungen gebracht. Das Recht, die Wahrheit zu erforschen und bekannt zu machen, gehört in einer Demokratie zu den grundlegenden Bürgerrechten. Motiv und Folgen dürfen erst in zweiter Linie analysiert werden, wenn man der Wahrheit so nahe wie möglich gekommen ist.

Individuen wie Gruppen müssen ihre Vergangenheit kennen, denn von ihr hängt ihre Identität selbst ab, ohne sich darin zu erschöpfen. Ein Mensch, der an Alzheimer erkrankt und sein Gedächtnis verliert, verliert seine Identität, ist nicht länger er selbst. Auch jedes Volk braucht ein gemeinsames Gedächtnis. Eine Gruppe kann sich nur als solche erkennen, wenn sie auf ein identitätsstiftendes Ensemble aus Leistungen und Leiden zurückgreifen kann. Aber auch wenn der Rückbezug auf die Vergangenheit unvermeidlich ist, folgt daraus nicht, dass er immer gut ist.

Das Gedächtnis ist wie die Sprache ein Instrument; es ist an und für sich neutral und kann sowohl für ein edles Bemühen als auch für schwärzeste Ziele dienstbar gemacht werden. Die „Pflicht, sich zu erinnern“, ist moralisch nicht gerechtfertigt, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit hauptsächlich mein Rache- oder Revanchebedürfnis stillt, wenn ich mir auf diese Weise schlicht Privilegien sichern oder meine Untätigkeit im Heute rechtfertigen will. Man kann niemand einen Vorwurf daraus machen, dass er die Vergangenheit instrumentalisiert. Nicht nur weil es alle tun, sondern auch weil es nur legitim ist, dass die Vergangenheit dem Heute dient. Doch nicht jeder Gebrauch des Gedächtnisses ist gut, manchmal ist es eher ein Missbrauch. Aber woran erkennt man das?

Scylla und Charybdis der Gedächtnisarbeit heißen „Sakralisierung“ und „Banalisierung“. Sakralisierung ist nicht gleichzusetzen mit dem Herausarbeiten der Besonderheit eines Ereignisses. Will man die Besonderheit herausarbeiten, muss man es zu anderen Ereignissen ins Verhältnis setzen (um seine historische Singularität zu benennen); die Sakralisierung hingegen fordert, dass man das Ereignis isoliert, in einem eigenen Raum aufbewahrt, damit ihm nichts nahe kommen kann.

Auch das Sakrale kann durchaus im Privatleben eines Menschen Platz haben. Wenn ich etwa ein Kind verloren habe, möchte ich in keiner Weise, dass diese für mich einzigartige Erfahrung mit der Trauer eines anderen Menschen um einen anderen Toten gleichgesetzt wird. Dies ist in der öffentlichen Debatte anders. Hier verhindert die Sakralisierung nachgerade, aus dem Einzelfall eine generelle Lehre zu ziehen, Vergangenheit und Zukunft in Beziehung zu setzen. Die Sakralisierung verhindert also, dass diejenigen, die nicht zu der betroffenen Gruppe gehören, von der Erfahrung profitieren können. Aber für gewöhnlich, bemerkte einst melancholisch Marcel Proust, profitiere man von keiner Lektion, weil es einem nicht gelinge, zum Generellen vorzudringen, und weil man sich immer vorstelle, dass die eigene Erfahrung einzigartig sei und es keine Entsprechungen in der Vergangenheit gebe.

Die entgegengesetzte Gefahr, die der Banalisierung, besteht nun darin, die Vergangenheit auf die Gegenwart zu übertragen, die eine simpel und einfach mit der anderen gleichzusetzen – was im Effekt bedeutet, dass man beide verkennt. Die jüngsten Kriege in Jugoslawien illustrieren diese Variante. So wurde der Konflikt zwischen den verschiedenen Ethnien entgegen allem Augenschein mit dem Zweiten Weltkrieg gleichgesetzt – mit Slobodan Milošević in der Rolle Hitlers. Im Fernsehen sieht man ausgemergelte Gesichter bosnischer Muslime hinter Stacheldraht: „Das sieht aus wie zur Zeit des Holocaust“, sagt sofort ein Berater des Weißen Hauses, der vielleicht nur diesen einen Vergleich aus der Vergangenheit kennt.

1995 erklärt der US-amerikanische Sondervermittler für Jugoslawien, Richard Holbrooke, dass er bereit sei, seine moralische Überzeugung hintanzustellen und mit den Machthabern in Jugoslawien zu verhandeln, auch wenn er sie für Verbrecher halte. Zum eigenen Trost vergleicht er sich mit Raoul Wallenberg, der, um verfolgte Juden vor dem sicheren Tod zu retten, sogar mit den Nazi-Schlächtern verhandelte. Doch Holbrooke übersieht bei seiner historischen Parallele, dass er als Redner die stärkste Militärmacht der Welt repräsentiert, während Wallenberg, der im von Nazis besetzten Budapest Legationsrat der Schwedischen Botschaft war, sein Leben aufs Spiel setzte, das er im Übrigen letztlich durch eine tragische Ironie der Geschichte in den Kerkern eines anderen totalitären Staats, der Sowjetunion, verlor.

Madeleine Albright, die 1997 US-Außenministerin wurde und deren Familie während des Zweiten Weltkrieges aus der Tschechoslowakei geflohen war, sieht die gegenwärtigen Ereignisse durch das Prisma ihrer Kindheitserinnerungen: Die Bosnienkriege erinnern sie an den Nationalsozialismus, die Haltung der westlichen Regierungen fast schon an die Haltung der Engländer und Franzosen in München 1938. In ihrer Rede „Bosnien im Licht des Holocaust“, die sie 1994 – damals noch als amerikanische UN-Botschafterin – im Washingtoner Holocaust-Museum hielt, erklärte sie: „Die Führung der bosnischen Serben sucht für das Problem der auf ihrem Territorium lebenden nichtserbischen Bevölkerung eine Endlösung, sei es durch Vernichtung, sei es durch Vertreibung.“

Man gewinnt den Eindruck, jeder wolle heute am liebsten von sich sagen können, er habe einen neuen Holocaust verhindert. Dabei wirft der Holocaust-Vergleich überhaupt kein neues Licht auf die Ereignisse in Bosnien, vielmehr macht er jeden blind, der versucht, die Ereignisse zu analysieren. Kein Wunder, dass Clinton sich desselben fragwürdigen Vergleichs bediente, um die Militärintervention zu rechtfertigen. „Was wäre geschehen, wenn wir rechtzeitig auf Churchill gehört und Hitler früher bekämpft hätten? Wie viele Menschenleben, auch amerikanische, hätten gerettet werden können?“, fragte er am 23. März 1999. Gewiss wäre es besser gewesen, früher gegen Hitler zu intervenieren. Aber wie könnten die potenziellen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs die Bombardierung in Jugoslawien rechtfertigen? Kann jemand ernsthaft vertreten, Milošević sei eine ebenso große Gefahr für Europa und die Welt wie Hitler im Jahr 1938? Man kann nicht einfach zur Begründung irgendeiner Handlung die Vergangenheit heraufbeschwören.

Wie aber entgeht man diesen beiden spiegelbildlichen Bedrohungen, der Sakralisierung und der Banalisierung? Hier muss die Arbeit des Erinnerns ansetzen, und zwar so, dass man nicht unter Berufung auf eine wie auch immer geartete Kontingenz oder Ähnlichkeit von einem besonderen Fall auf den nächsten schließt, sondern vom Besonderen auf das Universelle: auf das Prinzip der Gerechtigkeit, auf eine moralische Regel, auf ein politisches Ideal – Rückschlüsse also, welche sich mit Hilfe rationaler Argumente überprüfen und kritisieren lassen. Auf diese Weise wird die Vergangenheit weder bis zum Überdruss wiedergekäut noch in universellen Analogien strapaziert, sondern in ihrer Beispielhaftigkeit gelesen. Die Lehre, die man daraus zieht, muss ihre Legitimation aus sich selbst schöpfen, nicht daraus, dass sie von einer Erinnerung herrührt, die mir heilig ist; der Gebrauch des Gedächtnisses ist dann gut, wenn er einer gerechten Sache dient, nicht wenn er lediglich meine Interessen fördert.

Ausgangsbasis der Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit – und diese kennt kein Vorgehen nach der Regel „zweierlei Maß“. Das ist einer der Gründe, weshalb die Intervention der Nato im Kosovo keine Legitimität hatte: Nie, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, hat die Nato in vergleichbaren Situationen eine Interventionsabsicht bekundet. Dem Gleichheitsgrundsatz folgend ist auch die Weigerung Koštunicas, den Internationalen Strafgerichtshof als unparteiisch anzuerkennen, und die Weigerung Baraks, eine internationale Untersuchungskommission über die „Fehler“ der israelischen Armee zuzulassen, auf einer gleichen Ebene anzusiedeln: Entweder man verurteilt beide, oder man heißt sie beide gut . . .

Wenn man sich für das Prinzip der Restitution als Ausgleich für vergangene Ungerechtigkeiten entscheidet, dann müssen die gleichen Zeiträume für alle gelten, für polnische Juden, denen 1939, wie für arabische Palästinenser, denen 1948 Unrecht widerfahren ist. Die Frage des Zeitraums ist schwierig: Bis zu welchem Datum soll man zurückgehen? Soll man die Nachfahren der als Sklaven verkauften Schwarzen entschädigen? Und die der Indianer, denen nach der „Eroberung des Westens“ ihr Land enteignet wurde? Erst jüngst hat übrigens die US-Regierung Amerikanern japanischer Herkunft eine Summe von 1,8 Milliarden Dollar bezahlt, als Entschädigung für die Internierung während des Zweiten Weltkriegs.

Zum modernen Gerechtigkeitsverständnis gehört auch, anzuerkennen, dass es ein Menschenrecht auf Würde gibt, weshalb kein Rückbezug auf irgendeine Vergangenheit jemals Folter rechtfertigen kann, da diese eine Leugnung der Würde darstellt. Das gilt für die Behandlung der Algerier durch die Franzosen in den Fünfzigerjahren ebenso wie für die Behandlung der Palästinenser in Israel seit Ende der Achtzigerjahre. Die gleiche schmerzliche Vergangenheit – das Leiden der Juden – kann zu völlig verschiedenen Schlussfolgerungen führen: Unter Berufung auf diese Vergangenheit hat der israelische Richter Mosche Landau1 1987 die Anwendung von Folter gegen „Feinde“ legalisiert, der israelische Professor Jeschajahu Leibowitz dagegen bekämpfte unter Berufung auf dieselbe Vergangenheit die Legalisierung der Folter mit allen Kräften. Daraus lernen wir: Wir sollten nach ethischen und rechtlichen Prinzipien urteilen, nicht mittels Verweises auf vergangene Ereignisse.

Der große Maler Zoran Music verbrachte das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs in Dachau. Nach der Zeit in dieser Todesfabrik fühlt er sich unfähig, das Gesehene darzustellen. Seine Erfahrung ist einzig, er kann sie nicht mitteilen. Doch dann, in den Fünfzigerjahren, gibt es erneut Kriege (in Korea, in Algerien) und wieder die Grausamkeiten, die Menschen einander antun können. Angesichts dieser so verschiedenen und doch so ähnlichen Gegenwart entschließt sich Music zu einer neuen Serie von Bildern: Sie zeigt Leichen aus dem Lager und heißt „Wir sind nicht die Letzten“. Durch diese keineswegs banalisierende Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit gelang es dem Maler, ein erschütterndes Werk zu schaffen, das wahr und gerecht zugleich ist.

dt. Marie Luise Knott

* Forschungsdirektor am CNRS in Paris. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien „Mémoire du mal, tentation du bien. Enquète sur le siècle“, Paris (Laffont).

Fußnote: 1 Richter Mosche Landau (geb. 1913 in Danzig) war 1961 Vorsitzender im Eichmann-Prozess. Er war Mitglied des Obersten Gerichtshofs in Israel, dessen Vorsitz er von 1980 bis 1982 innehatte. Als er in Pension ging, gründete er die Landau-Kommission, die 1987 den „gemäßigten physischen Druck“ auf palästinensische Gefangene legalisierte.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von TZVETAN TODOROV