12.04.2001

Die zwei Gesichter des Eichmann-Prozesses

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Die zwei Gesichter des Eichmann-Prozesses

Von TOM SEGEV *

AM 15. Februar 2000 versammelten sich einige hundert Menschen zu einer philosophischen Debatte über das Erinnern. Auf Einladung des Instituts d‘études livinassiennes1 versuchten Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut den „Sinn“ von Auschwitz und die Einzigartigkeit des Holocaust zu beleuchten. Es ging um die Frage, ob das Erinnern über das Vergessen oder umgekehrt das Vergessen über das Erinnern gesiegt habe, und darum, ob die Kultivierung des Holocaust-Gedenkens Israel letztlich nutze oder schade. Es schade wohl eher, meinte Alain Finkielkraut, denn wenn die Juden den Holocaust als das absolute Böse hinstellten, leugneten sie ein wesentliches Erbe Europas: den Antisemitismus.

Derart groß angelegte, abstrakte Debatten sind in Israel selten. Für die Mehrheit der Bevölkerung sind die Schrecken der Vergangenheit schlicht Teil der eigenen Biografie bzw. integrativer Bestandteil der kollektiven Identität. Fast täglich findet man in einer Zeitung einen Bezug zum Holocaust, auch wenn nur wenige Israelis das Erinnern als solches reflektieren.

Die Debatte fand im Übrigen – symbolträchtig – in genau dem Raum statt, in dem man vor vierzig Jahren Adolf Eichmann verurteilt hatte. Damals, mit diesem Prozess, begann Israel, sein kollektives Gedächtnis vom Holocaust zu entwickeln.

Der SS-Obersturmbannführer und Organisator der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, war vom israelischen Geheimdienst im Mai 1960 aus Buenos Aires entführt worden. Die Mossad-Agenten hätten ihn auch töten können, aber das wollten sie nicht. Bis dato war die Jagd auf Altnazis für Israel nicht von vorrangiger Bedeutung gewesen. Premierminister David Ben Gurion interessierte sich nicht für die Person Eichmann, sondern er wollte den Prozess: „Wichtig ist nicht die Strafe, sondern die Tatsache, dass der Prozess stattfindet, und zwar hier in Jerusalem.“

Ben Gurion hatte zwei Ziele vor Augen: Erstens sollte die Weltöffentlichkeit an ihre Pflicht erinnert werden, nach dem Holocaust den einzigen jüdischen Staat der Welt zu unterstützen. „Die Nazi-Anhänger in Ägypten und Syrien“, sagte er, „wollen Israel zerstören – das ist die derzeit größte Gefahr, der wir ausgesetzt sind.“ Und dann fügte er hinzu, die antizionistische Propaganda der arabischen Staaten mit ihrem nazistischen Gedankengut nähre sich aus dem Antisemitismus. „Sie sagen ,Zionisten‘ und meinen ,Juden‘.“ Daraus wurde kurzerhand der Schluss, dass die Feinde Israels immer auch die Feinde des jüdischen Volkes seien und dass jeder Unterstützer Israels gegen den Antisemitismus streite. Entsprechend konnte der Völkermord die moralische Geltung der zionistischen Idee untermauern und den Interessen des Staates Israel von Nutzen sein.

Bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die zionistische Bewegung den Holocaust als diplomatisches Mittel eingesetzt, um die Staatsgründung voranzubringen. Die Behauptung, Israel sei aus dem Völkermord hervorgegangen, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Natürlich führten Schock, Schrecken und Schuldgefühle weltweit zu einem tiefen Mitgefühl mit den Juden im Allgemeinen und den Zionisten im Besonderen, was denn auch deren diplomatischen Zielen nutzte. Doch die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fundamente Israels wurden dreißig Jahre vor dem Holocaust gelegt. Tatsächlich hat die Vernichtung des europäischen Judentums den zionistischen Traum stark lädiert, denn sie zwang Israel, Juden aus den arabischen Staaten einwandern zu lassen, was den ursprünglich angestrebten europäischen Charakter des Staates abschwächte.

Tatsächlich trugen die sozialen Unruhen dieser Bevölkerungsteile, vor allem der neu eingewanderten marokkanischen Juden2 , wesentlich dazu bei, dass Ben Gurion den großen Holocaust-Prozess initiierte. „Sie kamen aus Asien oder Afrika und hatten nicht die geringste Vorstellung davon, was Hitler getan hatte. Man musste ihnen das alles von Anfang an erzählen“, erklärte der Premierminister.

Das zweite Ziel, das Ben Gurion mit dem Eichmann-Prozess verfolgte, war also, den Bewohnern Israels, vor allem den jungen, ein paar Lektionen über den Holocaust zu geben. Es ging darum, die Gesellschaft in einer nationalen, ergreifenden, reinigenden und patriotischen Katharsis zu einen. Darüber hinaus wollte man mit dem Prozess zweifellos auch der Anschuldigung entgegentreten, die von Ben Gurion angeführte zionistische Bewegung habe während des Krieges nicht alles in ihrer Macht Stehende getan, um die europäischen Juden zu retten. Mit dem Prozess erbrachte man den Beweis, dass man dem Holocaust nicht gleichgültig gegenüberstand, und dies, obwohl man enge wirtschaftliche und militärische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland zu knüpfen suchte.

Die zentrale Bedeutung dieses Prozesses jedoch lag in seiner kollektiven therapeutischen Funktion. Vor dem Eichmann-Prozess war der Völkermord an den Juden in Israel weitgehend tabuisiert. Eltern sprachen nicht mit ihren Kindern darüber, die Kinder trauten sich nicht, Fragen zu stellen. Schrecken, Schuld und Scham sorgten dafür, dass der Holocaust gründlich beschwiegen wurde. Viele Israelis fühlten sich schuldig, weil sie vor Beginn der Katastrophe aus Europa geflohen waren und ihre nächsten Angehörigen dort zurückgelassen hatten. Und viele Entkommene empfanden Scham, weil sie überlebt hatten und glaubten, sich andauernd dafür rechtfertigen zu müssen. Zahlreiche Israelis verachteten die Opfer für deren Schwäche und fragten, warum die Juden sich nicht gewehrt hätten. Einige schauten von oben auf die Überlebenden aus den Lagern herab und sahen sich selbst als die „neuen Juden“ der zionistischen Mythologie. Einige Überlebende waren körperlich und geistig gebrochen und warfen den Israelis Gleichgültigkeit vor. Viele hätten nur zu gerne ihre Erfahrungen mitgeteilt, aber kaum jemand interessierte sich dafür.

Daher war der Eichmann-Prozess der Anfangspunkt für etwas Neues: Der Holocaust wandelte sich von einem geheimnisvollen und schrecklich schmerzhaften Trauma zu einer institutionalisierten nationalen Erinnerung und wurde schließlich ein wesentliches Element der israelischen Identität – seiner Kultur wie seines politischen Lebens.

Die meisten Israelis von heute betrachten sich, wie Meinungsumfragen zeigen, als Überlebende des Völkermords, auch wenn ihre Familien aus der arabischen Welt stammen. Die Studienreise an die Orte der Vernichtung in Polen gehört zum festen Lehrplan der Gymnasiasten.

Die Art und Weise, wie der Holocaust zu einem zentralen Element des täglichen Lebens geworden ist, hängt nur zu Teilen mit dem israelisch-arabischen Konflikt zusammen. Vielmehr spiegeln sich in der veränderten Haltung Israels gegenüber dem Völkermord zwei Hauptentwicklungen der letzten Jahre, die Israels postzionistisches Stadium einläuten könnten: Israel ist sowohl jüdischer als auch amerikanischer geworden, und beide Entwicklungen haben ihren Höhepunkt wahrscheinlich noch nicht erreicht.

Im Gegensatz zu den Träumen der Gründungsväter haben die meisten Einwohner Israels nach wie vor jene in der zionistischen Ideologie so verhasste „entartete“ Mentalität des Exils: Je mehr Jahre verstreichen, desto mehr entdecken sie ihre jüdischen Wurzeln und pflegen die jüdischen Traditionen. Die alternative Identität des „neuen Menschen“, die unmittelbar an die großen biblischen Gestalten anknüpft, erweist sich als unzureichend. Zweitausend Jahre Geschichte lassen sich eben nicht durch eine neue Ideologie ersetzen. Allenthalben ist zu erkennen, dass die Bedeutung der jüdischen Tradition wächst – das belegt nicht zuletzt der zunehmende Einfluss der Religion. Ein weiteres Beispiel ist der Raum, den der Holocaust vor allem für die nichtreligiösen Israelis einnimmt. Die Erinnerung hat sie zum Judentum zurückgebracht.

Im Zentrum von Jerusalem gibt es ein koscheres McDonald’s-Restaurant, das in den US-Medien gerne als Beispiel für die Amerikanisierung Israels angeführt wird. Außerdem ist in Israel der Anteil an Internetnutzern höher als in vielen anderen entwickelten Ländern. Der amerikanische Einfluss hat in den letzten zwanzig Jahren das wirtschaftliche, politische und kulturelle Gefüge der israelischen Gesellschaft grundlegend verändert.

Während der Achtzigerjahre, als der Holocaust zum zentralen Element der israelischen Identität wurde, gab es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sowohl der USA als auch anderer Länder eine ganz ähnliche Entwicklung. So gesehen könnte man sagen, das nationale Gedächtnis habe neben vielen anderen Tendenzen aus Amerika auch den Holocaust als identitätsstiftenden Mythos übernommen.

Die meisten Israelis sind heute jüdischer und amerikanischer, selbstsicherer und ganz offensichtlich reifer, individualistischer und weniger ideologisch denn je. Sie leben nicht mehr in einer geistigen Welt der Lager- und Stammesmentalitäten, sie existieren vielmehr im Hier und Jetzt, ganz so wie die Menschen in den USA. Diese neue Grundeinstellung erklärt, warum so viele den Friedensprozess von Oslo mittlerweile unterstützen.

Die offenbar hoffnungslos festgefahrenen Friedensverhandlungen verhindern, dass die historische Veränderung der israelischen Position bereits sichtbar wird. Noch vor einigen Jahren weigerte sich Israel kategorisch, die PLO anzuerkennen. Es gab sogar ein Gesetz, das private Kontakte von Israelis zu Mitgliedern der PLO untersagte. Friedensaktivisten, die dem zuwiderhandelten, wurden damals bestraft und inhaftiert. Israel erklärte, dass bis zu einem endgültigen Friedensvertrag von den 1967 besetzten Gebieten kein Quadratmeter aufgegeben werde – und hat sich bis heute daran gehalten. Israel lehnte die palästinensische Unabhängigkeit ab – und hat seine Haltung inzwischen geändert. Israel verweigerte früher jegliche Veränderung am Status von Jerusalem – Ehud Barak hat den Palästinensern eine gemeinsame Verwaltung der Stadt angeboten und damit fast ein Sakrileg begangen. Mehr Israelis als erwartet haben all diese Schritte gutgeheißen. Und die Mehrzahl der Israelis hat den Rückzug der Armee aus dem Libanon begeistert unterstützt.

All diese Entwicklungen vollzogen sich in den Jahren, in denen der Holocaust an Einfluss gewann: Das heißt, die Erinnerung hat die Köpfe der Israelis nicht härter gemacht. Am schwierigsten ist es letztlich, klar zu unterscheiden zwischen den authentischen, durch den Holocaust erzeugten Gefühlen und gezielt manipulativ eingesetzten Argumenten. Israel hat gewiss unter dem Eindruck der Ersteren gehandelt, aber auch Letztere benutzt. Man kann mit gutem Grund annehmen, dass bei Ben Gurions Entscheidung, das Land mit Atomwaffen auszurüsten, der Holocaust eine wichtige Rolle gespielt hat. Hier handelt es sich unzweifelhaft um ein authentisches Gefühl. Aber als Premierminister Menachem Begin dem US-Präsidenten Ronald Reagan schrieb, er wolle seine Armee nach Beirut schicken, um Adolf Hitler – das heißt Jassir Arafat – in seinem Bunker gefangen zu nehmen, hat er den Holocaust in ein politisches Argument umgefälscht. Auch die Gegner von Oslo haben den Völkermord weidlich für ihre Zwecke genutzt: Noch kurz vor seiner Ermordung war Jitzhak Rabin auf einem Plakat in SS-Uniform zu sehen.

In der Debatte gibt es zwei Gruppen: Die einen betonen die nationalen, die anderen die universellen Lehren des Holocaust. Trotz der nach wie vor quälenden Frage, welche Rolle Gott im Holocaust gespielt hat, hegen diverse ultraorthodoxe Bildungsinstitutionen ihre eigene Ansicht über den Holocaust und machen sie auch öffentlich. Rabbi Ovadia Josef, der Anführer der nichtaschkenasischen, ultraorthodoxen Schas-Partei, hat erst kürzlich gefordert, man dürfe ihn nicht länger aus dem nationalen Gedächtnis des Holocaust ausschließen.

Je mehr Zeit vergeht, umso weniger werden die Überlebenden. Die meisten, die heute noch am Leben sind, haben die Erfahrungen im Lager als Kinder durchgemacht – weshalb in der Darstellung der Judenvernichtung zunehmend Verbrechen an Kindern im Mittelpunkt stehen. Dass man heute weniger als früher von den „sechs Millionen“ Toten redet und sich stattdessen auf konkrete Einzelerinnerungen konzentriert, ist symptomatisch für den wachsenden, typisch amerikanischen Individualismus. All diese Veränderungen liegen in der Natur der Sache und vollziehen sich zumeist spontan. Sie prägen derzeit den politischen und kulturellen Diskurs einer Gesellschaft, der es bislang nicht gelungen ist, eine konsensfähige gemeinsame Identität herauszubilden.

Wer die israelische Erinnerung an den Völkermord als blankes zionistisches Propagandainstrument darstellt – wie es einige Holocaust-Leugner, unverbesserliche Antizionisten und Palästinensersprecher tun – ist bösartig oder dumm oder beides. Im Falle der Palästinenser könnte diese Position schädlich sein: Denn Israel verstehen kann nur, wer versteht, welche Rolle der Holocaust tatsächlich für die Mentalität der Israelis spielt. Und man weiß schließlich, dass nur der mit einem Feind Frieden schließen kann, der ihn zuvor verstanden hat.

dt. Marie Luise Knott

* Journalist und Historiker in Jerusalem. Autor zahlreicher Bücher, u. a. „Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“, Reinbek (Rowohlt) 1995; „One Palestine, Complete“, London (Little, Brown & Company) 2001.

Fußnoten: 1 Benannt nach dem jüdischen Philosophen litauischer Herkunft Emmanuel Levinas (1906–1995). 2 Im Jahr 1959 gab es in Israel sehr heftige Unruhen, vor allem in Haifa, im Stadtviertel Wadi Salib. 3 In dieser Geschichte klang immer der Vorwurf mit, dass die Zionisten 1934 mit den Nazis verhandelt hatten.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von TOM SEGEV