Das Erbe des General Suharto
Von FREDERIC DURAND *
„Kannibalismus“, „Gemetzel“, „Wiederkehr der Kopfjäger“, „ethnische Säuberung der Dayak gegenüber den Maduresen“, „zügelloses Blutbad“ – in der internationalen Presse der vergangenen Wochen mangelte es nicht an blutrünstigen Beschreibungen der Massaker an den Maduresen in der Provinz Mittelkalimantan, im indonesischen Teil Borneos. Manche muslimischen Medien scheuten sich nicht, von einem „Genozid“ der „heidnischen Kannibalen“1 an den Muslimen zu sprechen, während westliche Kommentatoren darauf verwiesen, dass die politischen Führer in den postkolonialen Ländern nicht mehr in der Lage seien, ihr Schicksal zu lenken. Die außerordentlich schwerwiegenden Massaker und das Ausmaß der menschlichen Tragödien lassen sich nicht bestreiten. Und doch tragen solche verbalen und ideologischen Verirrungen letztlich dazu bei, die historische Verantwortung der Zentralgewalt in Java und auch die komplexen Bedingungen vor Ort zu verschleiern.
Die Ursachen der Gemetzel zwischen den Gemeinschaften, die sich in den letzten Monaten in der Region Kalimantan ereigneten, sind in der Umsiedlungspolitik des Regimes von General Mohamed Suharto (1965-1998) zu suchen. Über Jahrzehnte hinweg wurde im indonesischen Archipel die Migration von Javanern und Maduresen nach Kalimantan und in die anderen „Randprovinzen“ vorangetrieben, in denen sich heute der Widerstand gegen die Zentralgewalt formiert. Mit dieser „Umsiedlungspolitik“ wollte die Regierung in Jakarta für Entlastung im dicht bevölkerten Java sorgen und zugleich die Kontrolle über die großen Inseln des Archipels sicherstellen. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen wurden lokale Ressourcen zunächst beschlagnahmt – und dann den regimetreuen Eliten ausgeliefert.
So wurden die Dayak auf Kalimantan in ihrem eigenen Territorium zunehmend an den Rand gedrängt. Dabei ist klarzustellen, dass die Dayak keineswegs eine einheitliche ethnische Gruppe darstellen. Der Begriff bezeichnet einfach alle nicht islamisierten Völker im Innern Borneos. Diese lassen sich in mindestens zehn verschiedene Gemeinschaften unterteilen, von denen einige so unterschiedliche Sprachen sprechen, dass sie einander nicht verstehen, auch wenn sie manche kulturellen Gemeinsamkeiten aufweisen.2
Für die Völker im Innern Borneos sind die Regenwaldgebiete zugleich Lebensraum und wirtschaftliche Grundlage, ein Territorium, in dem sie wohnen, jagen, Nahrung sammeln und die Kautschukbäume wirtschaftlich nutzen. Solche traditionellen Rechte der indigenen Bevölkerung interessierten General Suharto nicht, er ließ das Gebiet kurzerhand durch die Regierung beschlagnahmen.3 Seit 1967 wurden mehr als 40 Prozent der Fläche von Westkalimantan und 75 Prozent der Fläche von Mittelkalimantan der Nutzung durch private Konzessionäre aus Java überlassen. Diese heuerten Arbeitskräfte vornehmlich von außerhalb an und ließen den Wald abholzen. Ob der Baumbestand sich je wieder regenerieren wird, ist mehr als fraglich.
Gleichzeitig wurden immer mehr Plantagen für die industrielle Agrarproduktion oder schnell wachsende Holzarten angelegt und weitere Gebiete für Umsiedlungsprojekte freigegeben. Dazu gehörte auch das Megaprojekt „Eine Million Hektar Reisfelder“, das der Präsidentengeneral Suharto im Inselinneren aufbauen wollte und das nach seinem Sturz wegen der horrenden Kosten und der absehbaren ökologischen Katastrophe wieder eingestellt wurde. Heute sind gerade noch 34 Prozent der Fläche Kalimantans mit dichtem Regenwald bedeckt, während es in den Sechzigerjahren noch 76 Prozent waren. Marginalisiert wurde die autochthone Bevölkerung auch in politischer Hinsicht: 1995 stand nur in einem der sechs Distrikte von Westkalimantan, und zwar in dem entlegensten, ein Dayak an der Spitze der örtlichen Verwaltung.
Auch muss man wissen, dass die meisten Konflikte zwischen den Gemeinschaften, die seit den Siebzigerjahren immer wieder aufflackerten, durch kollektive Übergriffe seitens der maduresischen Immigranten ausgelöst wurden.4 Die jüngsten Gewalttätigkeiten der Dayak gegen die Maduresen waren in der Tat von außerordentlicher Brutalität, doch darf man nicht vergessen, dass sich hier nicht einfach zwei Gruppierungen gegenüberstehen. Die ethnische Vielfalt auf der Insel, die zahlreiche lokale Völker wie die Banjar, die Malaien oder die Punan und auch zugewanderte Gruppen wie die Bugis, Javaner oder Sinoindonesier umfasst, wurde von den Dayak nie in Frage gestellt. Im Übrigen standen sich bei den schweren Ausschreitungen von 1999 indigene muslimische Malaien und maduresische Migranten der gleichen Religion gegenüber, zwischen denen keine großen kulturellen Unterschiede bestehen. Die Dayak haben sich damals den Malaien angeschlossen, waren allerdings nicht die treibende Kraft bei den Auseinandersetzungen.
Die Eruption der Gewalt wurde durch die wirtschaftliche, ökologische und politische Krise gegen Ende der Neunzigerjahre noch verschärft. Zusätzlich haben drei wichtige Entwicklungen seit 1997 dazu beigetragen, dass die Probleme immer komplexer wurden und die Unruhen in den letzten Jahren derartig eskalieren konnten: Im Gefolge der ökonomischen Krise von 1997 leben inwischen zwei Drittel der indonesischen Bevölkerung und 80 Prozent der Dayak unterhalb der Armutsgrenze, was die vorhandenen sozialen und ökonomischen Rivalitäten weiter verschärft hat. Parallel dazu hat sich seit dem Sturz Suhartos die Kontrolle des Militärs über das Gebiet deutlich gelockert, womit auch die disziplinierende Angst vor den Ordnungskräften nachgelassen hat. Die überstürzte Dezentralisierungspolitik, die Präsident Wahid im Januar eingeleitet hat, ohne sie in ausreichendem Maße zu kontrollieren, wird die Probleme nicht lösen können. Womöglich hat diese Politik sogar zum Anwachsen der Spannungen beigetragen. Die Reform sieht vor, dass ein großer Teil des aus der Forstwirtschaft erwirtschafteten Geldes, das heißt etwa 80 Prozent der Einkünfte, in der jeweiligen Region verbleiben. Zudem sollen die Bedürfnisse der Bevölkerung stärker berücksichtigt werden, einschließlich des Wunsches, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auf diese Weise soll der alte, übertriebene Zentralismus aufgelöst werden.
In diesem Sinne haben die Gesetzgeber den insgesamt 364 Distrikten eine finanzielle Autonomie eingeräumt – allerdings nicht ganz ohne Hintergedanken. Denn damit wollte man auch verhindern, dass die insgesamt 26 Provinzen, die bislang einflussreichste Verwaltungsebene, sich zu übermächtigen Einheiten entwickeln und schließlich die Unabhängigkeit fordern könnten. Mit der Aufspaltung in so viele kleine Einheiten stellen sich allerdings zwei Fragen verschärft: erstens die Frage der Kompetenz (und Unbestechlichkeit) der Gouverneure in den Provinzen, zweitens die Frage nach der Verteilung der Einkommen in einem Land mit besonders ausgeprägten regionalen Ungleichheiten.
Die Ausweitung der Unruhen auf die Provinz im Innern Borneos erklärt sich nicht zuletzt aus dieser Zersplitterung. Bislang waren die Konflikte weitgehend auf den westlichen Teil, das ursprüngliche, alte Siedlungsgebiet beschränkt gewesen, wo die autochthonen Gemeinschaften ohnehin in der Minderheit sind. So stellen in der Provinz Westkalimantan, bis 1999 Schauplatz der meisten Auseinandersetzungen, die Dayak 40 Prozent der Bevölkerung, gegenüber 34 Prozent Küstenmalaien (die islamisiert sind und seit Generationen in Borneo leben), 15 Prozent Sinomalaien, 5 Prozent Bugis aus Sulawesi und jeweils rund 3 Prozent Javanern und Maduresen.5
Derzeit sind die Unruhen auf die Provinz begrenzt, in der sich die Dayak zwar noch in der Mehrheit befinden, die Wirtschaft jedoch zunehmend von den Zugewanderten kontrolliert wird.6 Ähnliche Phänomene sind übrigens auch in anderen südostasiatischen Regionen zu beobachten, vor allem auf den Hochebenen Vietnams, wo sich die „ethnischen Minderheiten“ mit einer massiven Zuwanderung der bereits dominanten Gruppe konfrontiert sehen. Diese Entwicklung hat im Februar 2001 große Protestkundgebungen ausgelöst, auf denen die Forderung erhoben wurde, die Rechte und kulturellen Eigenheiten der Menschen im Landesinneren stärker zu respektieren.
Die Fragen von Kultur und Identität sind in diesen Konflikten von zentraler Bedeutung. Seit langem beklagen sich alle Dayak-Gruppen darüber, dass die „Immigranten“ sie und ihre Kultur missachteten. Sie kritisieren dabei insbesondere negative Darstellungen bzw. mangelnden Respekt gegenüber ihren Traditionen und Riten, die Versuche der Zwangsbekehrung zu fremden Religionen7 , die Verschmutzung der Flüsse und Zerstörung der Wälder, die manchen als heilige Orte gelten. Das Gefühl, dass man ihre Traditionen missachtet, verstärkte sich noch, als die Armee bei der Intervention 1997 die Körper der getöteten Dayak nachts heimlich vergrub – für die Dayak ein skandalöser Vorgang. Die Zahl der Toten und ihre Identität wurden nie bekannt gegeben. Die Angehörigen konnten keine Begräbniszeremonie durchführen. In den offiziellen Listen wurden nur die maduresischen Opfer aufgeführt.
Des Weiteren ist noch ungeklärt, ob es Druck von außen gegeben hat. Es ist weitgehend unstrittig, dass die bewaffneten Streitkräfte in der Vergangeheit Dayak-Gruppen zu ihren Zwecken manipuliert und funktionalisiert haben. Dies war vor allem 1967 der Fall, als es zu Übergriffen von Dayak gegen die sinomalaische Bevölkerung kam und vor allem kleine Händler und Geschäftsleute, die in den Augen der Militärs allesamt Kommunisten waren, überfallen wurden. Auch in den Jahren 1996/97 und bei den allerjüngsten Eskalationen waren einige der protestierenden Dayak mit halbautomatischen Gewehren ungeklärter Herkunft ausgestattet, und einige wurden von Männern in Zivil angeleitet, die mit Funkgeräten ausgestattet waren.
Untersuchungen vor Ort haben außerdem ergeben, dass systematisch Falschmeldungen verbreitet wurden, um den Hass unter den beiden Gemeinschaften zu schüren, während die Polizei auf unentschuldbare Weise die Hände in den Schoß legte.8 Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass die Gewaltausbrüche von 1997, 1999 und 2001 jeweils exakt mit den Zeiträumen verschärfter politischer und juristischer Probleme des ehemaligen Präsidenten Suharto und seines Gefolges zusammenfielen.
Die aktive Beteiligung von Teilen der indonesischen Armee bei der Formierung und Ausbildung von Milizen in Osttimor, die gegen die Unabhängigkeit kämpften, macht die überaus dubiose Rolle der Armee noch einmal deutlich. Auch die Muslime, die auf den Molukken gegen die Christen vorgingen, wurden von Einheiten des Militärs unterstützt.9
In der Ära des Präsidentengenerals Suharto spielte die Armee eine vor allem finanziell lohnende Doppelrolle als zivile und militärische Ordnungsmacht. Mit der Einsetzung einer demokratischen Regierung sind diese alten Besitzstände zumindest teilweise gefährdet. Als dann im letzten Jahr Gerüchte über einen Staatsstreich in Indonesien kursierten, gab die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA, für alle Fälle zu verstehen, dass man ein Militärregime, das mittels Gewalt an die Macht gelangt, nicht unterstützen werde.
Sollten aber die Unruhen weiter um sich greifen, könnte sich die Armee sozusagen als „letzte Rettung“ erweisen, um die Einheit des Archipels zu wahren. Denn in der Tat steht Indonesien schon heute – nach dem Referendum über die Autonomie in Osttimor, mit den Separatistenbewegungen in Aceh und in Westpapua10 und mit den religiösen Konflikten auf den Molukken – vor der Gefahr des Zerfalls.
In dieser unübersichtlichen Lage erklären die Vertreter der Gemeinschaften der Dayak und der Maduresen immer wieder ihre Bereitschaft zu Einigung und Versöhnung.11 Allerdings sind zahlreiche Probleme nach wie vor ungelöst. Die strukturellen Konflikte werden nur beizulegen sein, wenn eine starke Militärpräsenz erhalten bleibt. Ebendiese Präsenz aber ist einer der Gründe dafür, dass die Zwietracht fortbesteht und gerade nicht eingedämmt wird. Tausende Maduresen sind im Dschungel oder in Lagern in Kalimantan nach wie vor erheblichen Gefahren ausgesetzt. Und völlig ungewiss ist die Lage für die 50 000 maduresischen Flüchtlinge, die derzeit auf ihrer Herkunftsinsel in provisorischen Lagern zusammengepfercht leben. Dasselbe gilt für die Maduresen in Borneo, die mit Dayak verheiratet oder aus gemischten Ehen hervorgegangen sind.
dt. Erika Mursa
* Maître de conférence an der Universität Toulouse II – Le Mirail. Autor von „La jungle, la nation et le marché; chronique indonésienne“, Nantes (Editions de l‘Atalante) Januar 2001.