Makedonien und Großkosovo
Von CHRISTOPHE CHICLET *
Einen Monat nach den ersten freien Wahlen im Kosovo vom 28. Oktober 2000 brach die albanische Frage erneut auf und erfasste, von Südserbien ausgehend, alsbald den Norden Makedoniens. In beiden Gebieten sind Freischärlergruppen nach dem Vorbild der UÇK aufgetaucht, die für die Befreiung der dort lebenden Albaner kämpfen. Doch die Situation lässt sich nicht mit der im Kosovo vergleichen, das zehn Jahre unter der Repression des Milošević-Regimes zu leiden hatte. Seit Oktober 2000 befindet sich Serbien auf dem Weg zur Demokratie. In Makedonien selbst sind die Albaner seit der Unabhängigkeit 1991 an der Regierung beteiligt.
Fast zeitgleich haben sich zwei neue Freischärlergruppen zu Wort gemeldet: am 4. Februar 2000 die Befreiungsarmee von Preševo, Medvedja und Bujanovac (UÇPMB) im Südwesten Serbiens und am 20. Januar 2000 die Nationale Befreiungsarmee Makedoniens (UÇKM) im Nordwesten der Republik. Zunächst beschränkten sie sich auf wenige Sprengstoffanschläge. Dann drang die UÇPMB in die rund fünf Kilometer breite und dreißig Kilometer lange entmilitarisierte Pufferzone zwischen dem Kosovo und Serbien ein. Der serbischen Armee und Polizei ist der Zutritt zu diesem Streifen gemäß Abkommen vom 9. Juni 1999 untersagt.
Von ihren Stützpunkten in dieser Zone aus griffen die Untergrundkämpfer die drei mehrheitlich albanischsprachigen Gemeinden Preševo, Medvedja und Bujanovac an, in denen 70 000 Albaner leben. Dabei kam ihnen die lasche Haltung des US-amerikanischen KFOR-Kontingents zugute, das dieses Grenzgebiet kontrolliert. Die KFOR verstärkte ihre Präsenz vor Ort, doch die serbische Seite antwortete – anders als zu früheren Zeiten – nicht mit Repression, sondern mit Verhandlungen. Daraufhin beschlossen die radikalen Kräfte, eine neue Front zu eröffnen.
Am 16. Februar 2001 trat erstmals die bislang im Untergrund agierende UÇKM in Erscheinung und besetzte im Grenzgebiet zwischen Makedonien, Kosovo und Serbien mehrere abgelegene Dörfer mit albanischer Bevölkerungsmehrheit. Die Radikalen hofften, die „Heldentaten“ der UÇK wiederholen zu können, um dem Westen die albanische Frage erneut aufzuzwingen. Die Regierungen in Skopje und Belgrad setzen trotz Verschärfung der militärischen Lage auf Mäßigung.
Da dieser Konflikt das instabile Gleichgewicht im Kosovo zu gefährden drohte, verstärkte die KFOR ihre Grenzkontrollen, und die Nato erlaubte den serbischen Einheiten wieder den Zutritt zu einem kleinen Teil der entmilitarisierten Zone. Was Makedonien betrifft, so sprachen die europäischen Regierungen der Führung in Skopje ihre volle Unterstützung aus. Am 13. März 2001 stimmte die UÇPMB schließlich einem Waffenstillstand mit Belgrad zu. In Makedonien, dessen Bewohner zu fast 30 Prozent Albaner sind, blieb die Situation dagegen weiterhin unklar. Am 15. März verlagerte die UÇKM den Schauplatz der Kampfhandlungen in die Dörfer um Tetovo, der zweitgrößten Stadt des Landes.
Dieser neue Konflikt ist nur zu verstehen, wenn man auf den Anfang der Krise und die Wende in der US-amerikanischen Balkanpolitik im Herbst 1998 zurückblendet. Ab diesem Zeitpunkt war Milošević für die US-Regierung nicht mehr der Unterzeichner des Dayton-Abkommens und die UÇK nicht mehr eine nationalistische marxistisch-leninistische Bewegung, die in der Region eine großalbanische Lösung anstrebt. Am 24. März 1999 begannen die Luftstreitkräfte der Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens. Am 10. Juni, dem Tag nach dem Rückzug der serbischen Armee aus dem Kosovo, unterstellte der UN-Sicherheitsrat die Provinz in Resolution 1244 der internationalen Kontrolle, ohne sie aus der jugoslawischen Souveränität zu entlassen. Im Lauf der sechsmonatigen Kampfhandlungen hatte die UÇK eine militärische Niederlage nach der anderen einstecken müssen und hunderte Kämpfer verloren. Ihr romantisches Heldenbild zog dennoch scharenweise Freiwillige an. Rund tausend makedonische und einige hundert serbische Albaner schlossen sich, neben den aus Westeuropa zurückkehrenden politischen Aktivisten, den Einheiten der UÇK an.
Im faktisch unabhängig gewordenen Kosovo übernahmen die ehemaligen Untergrundkämpfer die Kontrolle über die Provinz, vertrieben die Minderheiten der Serben, Roma und Goran1 und begannen, sich in diversen Schwarzhandelsgeschäften zu engagieren. Ein Teil der UÇK wurde am 21. September 1999 in die Kosovo-Schutztruppe (TMK) übernommen. Diese offiziell zivile Einheit gerierte sich wie eine Miliz des Hashim Thaçi, der sich selbst zum Ministerpräsidenten Kosovos ernannt hatte. Mit der Gloriole des Sieges versehen, drängten die ehemaligen Untergrundkämpfer auf die politische Bühne. Am 15. Oktober 1999 gründete Hashim Thaçi die Demokratische Fortschrittspartei des Kosovo, die wenige Monate später in Demokratische Partei des Kosovo (PDK) umbenannt wurde. Sie präsentierte sich als die Partei der UÇK und fungierte als Auffangbecken für alle von Rugova enttäuschten Kräfte. Die Volksbewegung Kosova (LPK), das politische Rückgrat der UÇK, beschloss daraufhin, in der neu gegründeten Partei aufzugehen. Ihre Aktivisten wachten über die korrekte politische Doktrin der PDK, deren Hauptpunkte sind: rechtliche Unabhängigkeit des Kosovo und Unterstützung der Albaner in Serbien, Makedonien und Montenegro.
Entgegen den Empfehlungen der ehemaligen LPK-Aktivisten gab der Pragmatiker Hashim Thaçi seine panalbanischen Losungen auf. Ramush Haradinaj, früher LPK-Mitglied in der Schweiz und später UÇK-General, trat im März 2000 aus der PDK aus und gründete die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK). Diese versuchte, alle Unzufriedenen unter ihrer Fahne zu sammeln, von den verstreuten ehemaligen UÇK-Kämpfern über LPK-Ideologen und langjährige Rugova-Gegner bis hin zu alten Kadern des Bundes der Kommunisten. In den Reihen der AAK fanden sich auch albanische Aktivisten, die für die Befreiung Südserbiens und Westmakedoniens eintraten.
Zu den Kommunalwahlen vom 28. Oktober 2000 präsentierte sich die AAK als die Partei der Radikalen. Sie war überzeugt von ihrem bevorstehenden Triumph über die Demokratische Liga des Kosovo (LDK) des Pazifisten Ibrahim Rugova. Dessen Image war angeschlagen, weil er während der Nato-Bombardierungen mit Slobodan Milošević verhandelt hatte. Doch die beiden aus der Untergrundarmee hervorgegangenen Parteien hatten sich durch Schwarzhandel und Erpressungen, durch blutige Abrechnungen in den eigenen Reihen und durch ihren autoritären Führungsstil in den von ihnen regierten Gemeinden bei der Bevölkerung unbeliebt gemacht, die sich in erster Linie nach Frieden sehnte. Das Wahlergebnis fiel entsprechend eindeutig aus: Die LDK Rugovas erhielt 58 Prozent der Stimmen, die PDK und die AAK dagegen nur 27 bzw. 8 Prozent.
Enttäuscht über diese Niederlage, setzten die Aktivisten der albanischen Volksbewegung (LPK) erneut auf Unabhängigkeit. Am 22. Juli 2000 hatte in Priština die fünfte Generalversammlung der LPK stattgefunden. Ihr Programm verkündet unmissverständlich: „Die albanische Frage auf dem Balkan ist noch immer ungelöst. Die Situation der Albaner in Makedonien, Montenegro und im Osten des Kosovo ist die eines unterdrückten Volkes. Das albanische Volk im Kosovo muss für seine Unabhängigkeit und einen Staat kämpfen, der alle Gebiete einschließt, in denen die Albaner die Mehrheit stellen.“2
Schon vier Monate vorher hatte die LPK begonnen, in der Diaspora Geld für die UÇPMB zu sammeln. Deren militärischer Befehlshaber, Shefket Hasani, reiste kurz vor den Wahlen im Kosovo in die Schweiz und beschuldigte Hashim Thaçi, für den Untergrund bestimmte Gelder in Höhe von 1,5 Millionen Schweizer Franken unterschlagen zu haben.3 Am 26. und 27. August wurde in der Schweiz auf einem weiteren Kongress der Volksbewegung eine neue Leitung gewählt. Das Amt des Generalsekretärs der Auslandsorganisation übernahm der albanische Makedonier Fazli Veliu, der politische Führer der damals noch geheimen UÇKM. Diese trat am 11. März 2001 erstmals öffentlich in Erscheinung. Die LPK wurde damit erneut zum politischen Rückgrat der Anhänger eines Großalbanien. Als ihr politisches Schlachtross fungiert der Ultranationalismus, während ihre marxistisch-leninistische Ideologie insgesamt eher in den Hintergrund tritt. Angesichts der offenen Kritik der sozialistischen Regierung in Tirana an ihrem Großalbanien-Projekt propagiert die LPK neuerdings jedoch ein „Großkosovo“, das alle Albaner des ehemaligen Jugoslawien einschließen soll.
Am 5. Oktober 2000 wurde Slobodan Milošević durch den demokratisch gewählten Präsidenten Vojislav Koštunica abgelöst, und am 23. Dezember errangen in Serbien die Demokraten einen souveränen Sieg bei den Parlamentswahlen. Damit war das serbische Schreckgespenst, das den Westen zur Unterstützung der UÇK bewogen hatte, verschwunden.
Um die albanische Frage wieder hochzukochen, entschlossen sich die radikalen Kräfte zu einer Politik der Eskalation, deren Ziel darin besteht, durch die Destabilisierung Serbiens und Makedoniens ein „albanisches Dayton“ zu erzwingen. Am 22. November 2000 explodierte vor der jugoslawischen Vertretung in Priština eine Bombe, und in der Nähe von Preševo wurden vier serbische Polizisten getötet. Drei Wochen später konnte die UÇPMB die Führer der südserbischen Parteien PVD (Partei der demokratischen Aktion) und PBDSH (Partei der demokratischen Einheit der Albaner) für eine gemeinsame Front gegen Belgrad gewinnen.
Während 300 bis 400 gut bewaffnete Freischärler die entmilitarisierte Zone in Südserbien besetzten, trat zugleich ihre politische Führung an die Öffentlichkeit. An der Spitze des „Politischen Rates“ von Preševo, Medvedja und Bujanovac (KKPMB) steht Jonuz Musliu, ein Mitglied der LPK-Leitung. Sein Stellvertreter ist Halil Selimi, früher führendes Mitglied von Hashim Thaçis PDK. Die militärische Führung besteht aus den Kommandanten Lleshi4 , Rasni und Shaban. Die aus LPK-Aktivisten und UÇK-Kämpfern zusammengesetzten Einheiten gründeten in Mali Trnovac ihr Hauptquartier und übernahmen die Kontrolle über das Städtchen Veliki Trnovac, ein lokales Zentrum für den Drogen- und Waffenschmuggel und für den Handel mit zur Prostitution bestimmten Frauen. Ihr rückwärtiger Stützpunkt liegt in Gnjilane, dem Zentrum des amerikanischen KFOR-Sektors. Während die britischen KFOR-Soldaten ihnen den Weg nach Medvedja versperrten, warteten die Amerikaner bis Dezember, bevor sie die Nachschubwege der UÇPMB bombardierten.
EU drängt Skopje zum Kompromiss
DIE Radikalen wissen, dass sie allein mit den Kampfhandlungen im Preševo-Tal kein zweites Kosovo heraufbeschwören können.5 Also trugen sie den Kampf in das benachbarte Makedonien hinein, wo eine fragile ethnische Balance herrschte. Am 25. Februar besetzten rund 25 Freischärler das Dorf Tanusevci – unterstützt durch etwa 300 mobile, gut ausgerüstete Männer aus dem Kosovo und der Umgebung von Preševo, die sich in Tanusevci, Malina, Brest und Gosince festsetzten. Die Zusammenarbeit zwischen KFOR und makedonischer Armee zwang die UÇKM am 7. März zum Abzug. Doch die Untergrundkämpfer verfügen über zwei rückwärtige Stützpunkte in Debelde und Vitina im Kosovo, wo Geld und Waffen der LPK hinfließen. Da sie nicht auf die Unterstützung der traditionellen Parteien der albanischen Makedonier zählen können, gründeten sie am 11. März die Demokratische Nationalpartei (PDK) unter Vorsitz von Kastriot Haxhirexha. Dieser ist von der Demokratischen Partei der Albaner (DPA) abgesprungen, die an der makedonischen Koalitionsregierung beteiligt ist.
Am 13. März demonstrierten in der Hauptstadt Skopje rund 20 000 Albaner für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Tags darauf eröffnete die PDK den Reigen der Gewalt mit einer Demonstration in Tetovo, der Albanerhochburg in Makedonien. Aus einer Menge von rund 5 000 Teilnehmern schossen eine Hand voll Leute auf die Polizeikräfte. Am 15. März postierte die UÇKM ihre Granatwerfer auf den Höhen über der Stadt und zielte auf das Zentrum. Nach einem tagelangen Schusswechsel sah sich Skopje gezwungen, einen Teil der Reservisten einzuberufen und über Tetovo eine Ausgangssperre zu verhängen. Die DPA und ihr Führer Arben Xhaveri kritisierten einerseits die UÇKM und den Radikalismus der PDK, profitierten andererseits aber von der Situation, um ihr proklamiertes Ziel zu erreichen, dass die albanische Minderheit als „konstitutives Volk“ mit denselben Machtbefugnissen anerkannt wird wie die makedonische Mehrheit. Die EU drängte Skopje, diesem Konzept zuzustimmen.6
Nach Ansicht der Radikalen werden die Albaner von den Makedoniern unterdrückt. Gleichwohl sind die Albaner eine anerkannte Minderheit mit eigenen Parteien, Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern und albanischsprachigem Unterricht in der Grund- und Sekundarstufe. Mangels eigener Universität gründeten sie 1995 die Freie Hochschule Tetovo, deren Diplome allerdings nicht anerkannt werden. Anfang des Jahres endlich verpflichtete sich der Erziehungsminister zur Beilegung des Konfliktes, in Tetovo eine dreisprachige Universität (Albanisch, Makedonisch, Englisch) zu eröffnen.
All dies vermag die Frustrationen eines Großteils der Albaner jedoch nicht zu lindern. Zwar litten sie in Makedonien nicht unter einem Apartheid-Regime wie ihre „Brüder“ im Kosovo. Angesichts der alltäglichen Xenophobie und häufiger Polizeiübergriffe, die als „Ausrutscher“ abgetan werden, haben sie dennoch allen Grund, sich als diskriminierte Minderheit zu fühlen, obwohl nur wenige von ihnen auf ultranationalistische Parolen hören.
Aus Angst, ein zweites Bosnien heraufzubeschwören, waren die makedonischen Parteien stets um gute Kontakte zu den politischen Albanerorganisationen bemüht. Zwischen 1991 und 1998 arbeiteten die gemäßigten Kräfte der Partei der demokratischen Prosperität (PDP) mit den Sozialisten zusammen. Nach der politischen Wende 1998 trat die für Autonomie eintretende PDA in die Regierungskoalition unter Führung der makedonischen Nationalisten (VMRO-DPMNE) ein.7 Die Albaner stellten stets fünf Minister und gegenwärtig auch noch mehrere Staatssekretäre und Botschafter. Auch die Nummer zwei des Geheimdienstes ist ein Albaner.
Dennoch sind wirtschaftliche und soziale Diskriminierungen nicht zu leugnen. Lange Zeit waren Albaner wie Roma sozial schlechter gestellt, auch wenn sich dies in den letzten zehn Jahren geändert hat. Dank des von den Emigranten geschickten Geldes, aber auch der Einnahmen aus Drogen- und Waffenhandel sowie Prostitution erlebt der Westen Makedoniens derzeit einen Aufschwung, und Tetovo ist die reichste Stadt des Landes.
Die radikalen LPK-Aktivisten und verstreuten ehemaligen UÇK-Kämpfer, die von Großalbanien oder zumindest von einem Großkosovo träumen, haben die Gewalt in zwei demokratische Länder getragen, in der Hoffnung, einen Anschluss von Südserbien und Westmakedonien an das Kosovo zu erreichen. Diese extremistische Politik radikalisiert einen Teil der albanischen Bevölkerung, die sich die Erfüllung ihrer Hoffnungen nur im Rahmen einer territorialen Autonomie vorstellen kann. Das aber wäre der Auftakt zur erneuten Zerstückelung existierender Staaten.
dt. Birgit Althaler
* Mitglied des Redaktionskomitees von „Confluences Méditerranée“; gemeinsam mit Bernard Ravenel Autor des Buches „Kosovo: le piège“, Paris (L’Harmattan) 2000.