Materialisten müssen nicht verzweifeln
Von MATHIAS GREFFRATH *
Jeder aufgeklärte Stammtisch beklagt heutzutage die Herrschaft der Finanzmärkte, die chronische Arbeitslosigkeit, die sich öffnende Schere zwischen den reichen und den armen Ländern, die Dekonstruktion der Staatlichkeit, die Regression der Sozialstaaten, den Abstieg der Mittelschichten, die Zerstörung der Natur und die Ausweidung von Kultur und Lebenswelt durch den digitalen Kapitalismus. Aber wo wäre die Gegenmacht? In der Fernsehdebatte der „Globalisierungsgegner“ in Porto Alegre mit Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums in Davos zeigte sich die Schwäche der Veranstaltung: Gegen eine ausgeruhte Schar freundlich-liberaler Weltenlenker, die in moderaten Worten für eine soziale und ökologische Einhegung des Kapitalismus plädierten, konnte die bunte Basiskoalition nur schrillste Moral aufbieten.
Kritik und Straßenkämpfe mit Öffentlichkeitswirkung werden auch in Zukunft dazu führen, dass kapitalistische NGO-Führer zum „Dialog“ kooptiert werden (wie in Davos schon lange geschehen), sie führen zu einer Verfeinerung der Prozeduren („Wir nehmen euch ernst“), aber begründen noch lange keine „Gegenmacht“. Der Kampf gegen das MAI, der immer wieder als Beispiel herhält, war (einstweilen) erfolgreich, weil er in den Medien und Parlamenten der kapitalistischen Öffentlichkeit wirkte und dort Fragen und Widerstand initiierte. Aber der rhetorische Kampf gegen den Neoliberalismus kommt an seine Grenzen, wenn der ehemalige Währungsspekulant Soros auf dem linken Zitationsindex hohe Werte erzielt: als Kapitalismuskritiker und Propagandist einer Rückkehr zur Politik.
Aber jenseits der Rhetorik deutet zur Zeit nichts darauf hin, dass die WTO-Welt ihre Regeln aus freien Stücken und Einsicht ändern wird. Die USA werden den „freien“ Handel bis aufs Letzte verteidigen; und wenn die Geschäftsleute sich gegen die Isolationisten und Militärs durchsetzen, wird auch China der Freihandelswelt beitreten. Die Europäer – die Einzigen, die die Wirtschaftsmacht der USA balancieren könnten – hätten zwar ein Interesse daran, den Freihandel einzudämmen, um ihre politische Zivilisation zu bewahren, sind aber uneins und unfähig, eine Weltmachtrolle zu spielen – was die Politiker der drei restlichen Kontinente gern sähen – und im Übrigen eher dabei, weiter zu privatisieren, zu deregulieren und ihre sozial befriedete Zone gegen die Armutsmigration abzuschotten. Gelegentlich geben sie ökologische Protestnoten im Weißen Haus ab.
Änderungen der Handelsordnung sind erst im Gefolge schwerster Krisen zu erwarten. Die sind nicht durch noch so moralische und noch so stringente theoretische Argumente herbeizuzwingen. Im Übrigen dürfte die Bewältigung schwerer Krisen ungemütlich werden, wenn die Regierung der Schutzmacht des „freien Welthandels“ – wie derzeit – aus Öl- und Aluminiumindustriellen, Generälen und christlichen Fundamentalisten zusammengesetzt ist.
Die Beschleunigung der kapitalistischen Globalisierung rückt so den theoretischen Fluchtpunkt der Marxschen Kritik wieder in den Blick: auf der einen Seite ein hochkonzentrierter globaler Kapitalismus, in dessen Maschinenparks, Wissensspeichern und Verteilungsnetzen der Reichtum der Welt konzentriert ist und der, relativ gesehen, immer weniger Menschen braucht – und auf der anderen Seite eine verbindungslose Masse Einzelner, die mehr oder weniger gut alimentiert werden, von Gruppen, die gelegentlich revoltieren, aber – anders als in Marxens Zukunftsprojektionen – schon lange nicht mehr die Verweigerungsmacht einer Klasse haben: sie bringen kein Rad mehr zum Stillstand, denn sie drehen keine Räder mehr. Sie sind substituierbar. Das Projekt der kulturellen Emanzipation der unteren Klassen findet keinen Anhalt mehr in der Realität.
Die „Wissensgesellschaft“ ist der Deckname für die digitale Aufrüstung zum „reibungslosen Kapitalismus“ (Bill Gates), die weltweite Patentierung des bisher nicht Patentierbaren, die Einverleibung der letzten Inseln kultureller Selbständigkeit. In ihrer kapitalistischen Form ist sie die größte Enteignung der Weltgeschichte – Enteignung an Land, an öffentlichem Reichtum, am Menschheitsbesitz an Wissenschaft und Kultur, an Gesellschaftlichkeit. Aber diese Einsicht begründet keinen Herausgabeanspruch. „Die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung“, von der sich Marx eine Weltrevolution versprach, hat hundert Gestalten, aber wird nur durch theoretische Erkenntnis verbunden; sie konstituiert vorerst keine „neue globale politische Kraft“, wie es in Porto Alegre selbstbewusst hieß.
Bis auf weiteres wird Widerstand lokal und regional begrenzt sein und sich auf die Verteidigung von Lebensformen, Leben und Natur beschränken. Das Schicksal der westeuropäischen Arbeitslosen und der malayischen Textilhersteller; der mexikanischen Fabrikarbeiter und der amerikanischen Rentner; der afrikanischen Ölexporteure und der europäischen Autofahrer; der deutschen Gewerkschaften und der polnischen Arbeitsmigranten; der chinesischen Handarbeiterinnen und der deutschen Spielzeugfabrikanten; der verarmenden Mittelschichten und der unterbezahlten Dienstboten; der dequalifizierten Facharbeiter und der Software-Designer – sie werden vom selben globalen System dominiert, ausgebeutet, entfremdet, aber sie sind nicht unter ein Interesse subsumierbar; sie begründen bis heute nur moralische Koalitionen, ohne faktische Macht. Und ohne eine einigende, organisierende, nicht nur negative Vision.
Die überzeugendsten theoretischen Globaldeutungen der letzten Jahre verschweigen denn auch nicht die Ohnmacht der „Welt-Linken“. Jean-Christophe Rufins „Das Reich und die Neuen Barbaren“, Antonio Negris „Empire“, John Grays „False Dawn“, Altvater/Mahnkopfs „Grenzen der Globalisierung“ – sie alle gehen bei aller Betonung der Instabilität der globalen Finanzmärkte davon aus, dass dieses System und seine destruktive Dynamik bis auf weiteres unangreifbar ist. Zumal, wenn es ihm gelingen sollte, die Finanzkrisen zu dämpfen (und das begründet das Interesse auch des Kapitals an der Tobin-Steuer), zumal, wenn es gelingt, die Mehrzehl der haves (inklusive Russland) auf eine Politik der technomilitärischen Strafaktionen gegen unbotmäßige have-nots mit anschließender humanitärer Linderung einzuschwören.
Aber Materialisten müssen nicht verzweifeln, zumindest nicht auf lange Sicht. Sie wenden ihren Blick auf die langfristigen Entwicklungen – und finden etwas, das stärker ist als die Moral: die Produktivkräfte. Der Begriff der Globalisierung – es ist wichtig, das nicht zu vergessen – kam Anfang der Achtzigerjahre auf, als Präsident Carter die Studie „Global 2000“ vorlegte, ein Manifest zur Vorsorge für die Zeit der globalen Erschöpfung fossiler und mineralischer Ressourcen im 21. Jahrhundert. Für ein gutes Jahrzehnt riefen diese Perspektiven tiefe Erschütterungen hervor, die bis in die Eliten der kapitalistischen Welt reichten; ein Hauch von Menschheitsaufbruch lag in der Luft. Er ist verweht im Ende des Kalten Krieges.
Die ökologischen Probleme waren gerade international politisch „salonfähig“ geworden und konnten nicht mehr ideologisch abgetan werden, als neue Kommunikationsmedien die kapitalistische Weltmaschine beschleunigten, das Finanzkapital die Systemführung übernahm und panischer Optimismus zur herrschenden Ideologie wurde und sich in einer zukunftsblinden Privatisierungs-, Deregulierungs- und Flexibilisierungsmanie, einer Art kapitalistischem Johannisfieber, Bahn brach. Das WTO-Abkommen von Marrakesch (1994) hat über die Agenda 21 gesiegt, in der dieselben Staaten zwei Jahre zuvor ihre ökologische Verantwortung unterschrieben, ebenso wie über die Rio-Konvention. Es erleichtert und beschleunigt weltweit den Transfer und Verbrauch von Energie, Rohstoffen, Waren, Menschen. Es kurbelt durch die Beschleunigung des Warenaustausches den Bedarf an Transportenergie an. Es fördert den Einsatz von naturzerstörenden Anbaumethoden und erweitert die Macht der Agrarkonzerne über die Welternährung. Ohne Verantwortung für Menschen, Natur und Zukunft errichten die vom Finanzkapital angetriebenen Multis eine „privatunternehmerisch organisierte globale Planwirtschaft in Form globaler Kartelle“, um sich die Energie- und Rohstoffressourcen zu sichern – kurz vor ihrer Erschöpfung.
Aber diese Ordnung – das ist inzwischen nicht mehr bestritten – ist nicht lebensfähig, sie endet berechenbar in Klimakatastrophen und Ressourcenerschöpfung, in Hunger, Elend und wirtschaftlichen Kriegen. Der Treibhauseffekt ist bereits eingetreten, und die Schätzungen der Mineralölkonzerne sagen die Erschöpfung der Öl- und Gasreserven (und einiger der wichtigsten mineralischen Rohstoffe) bis Mitte dieses Jahrhunderts voraus. Die Verdrängung dieser Tatsache scheint eher stärker zu werden; und die Zeichen stehen darauf, dass – wie Max Weber es heroisch resigniert vor hundert Jahren schrieb – die Weltvernichtungsmaschine erst zum Stillstand kommt, wenn der „letzte Tropfen Mineralöl verbrannt ist“. Dass erst dann – und dann allerdings mit zwingender Notwendigkeit – neue Produktivkräfte die alten Produktionsverhältnisse sprengen.
Aus dieser Notwendigkeit kann die gegenwärtige, zersplitterte Kritik Perspektive, Maß und Realismus gewinnen. Denn das Projekt, die Vision, die Herausforderung, die – und hier kann man über alle Differenzierungen hinweg wirklich „wir Menschen“ sagen – vor uns liegt, ist also nichts weniger als: der weltweite und vollständige Übergang der Weltwirtschaft zu erneuerbaren Energien und Rohstoffen. Dieser Übergang zu einer neuen Produktionsweise wird stattfinden – nicht im Konjunktiv, sondern ob wir es wollen oder nicht, und noch in diesem Jahrhundert. Die politischen Formen dieses Übergangs sind nicht abzusehen. Friedlich ist er nur vorstellbar durch den Kampf von Bürgern in aller Welt gegen den strukturkonservativen fossilen Block und für das Projekt der wahren Globalisierung und eines neuen Weltmarkts.
Aber was heißt „Projekt“? Die „solare Weltwirtschaft“ (Hermann Scheer1 ) ist keine schöne Idee, keine moralische Gerechtigkeitsforderung, keine „Alternative“, sondern schlicht: eine Notwendigkeit. Sie beruht auf den Gesetzen der Natur. Sie ist nicht bloß eine „Energiefrage“; sondern ein Projekt der politischen und ökologischen Ökonomie und der kulturellen Wiedergeburt. Denn die produktiven Kräfte der nachfossilen Welt werden nicht zentralisierbar und nur begrenzt transportierbar sein. Sie entstammen den regionalen Wirtschaftskreisläufen oder sind universell verfügbar: Wind, Sonne, Wasser, Energiepflanzen. Sie erfordern neue Technologien des Bauens und des Transports, vor allem aber müssen sie sich auf die regionalen klimatischen Besonderheiten und Rohstoffvorkommen ausrichten. Im Norden wird man neue Techniken der Wärmedämmung fördern, im Süden neue Techniken der Wassergewinnung anwenden. Die agrikulturelle Produktion wird einen Aufschwung erleben: in der Produktion von Energiepflanzen und in der Ersetzung globaler durch heimische Agrarprodukte. Durch die Verteuerung des Transports werden zunehmend regionale Rohstoffe verarbeitet werden, und der Export von Produktionsstätten in Billiglohnländer wird weniger rentabel. Ein funktional differenzierter Weltmarkt wird sich allmählich auf technische Güter und industrielle Massenprodukte beschränken, und Kapital wird stärker in die regionalen Kreisläufe gelenkt.
Der politisch moderierte Übergang zur solaren Weltwirtschaft ist keine Absage an die Globalisierung, sondern ein Projekt nachhaltiger globaler Vernetzung und regionaler Vielfalt. Die Wiederkehr regionaler Lebensmittelproduktion wird die Landflucht umkehren, die Verwüstung ganzer Kontinente durch Exportmonokulturen und die Verschuldung der rohstoff- und energiearmen Nationen beenden. Die Regionalisierung der Weltwirtschaft wird Kriege um Ressourcen verhindern und die Verringerung des internationalen Handels die Steuersouveränität der politischen Systeme wiederherstellen. Die Energieversorgung der Menschheit wird dauerhaft globalisiert, das heißt auf die einzige Energiequelle umgestellt, die global und unendlich ist.
Die solare Weltwirtschaft und der Übergang zu ihr sind kein zentralisierbares Projekt. Ihre Durchsetzung wird abhängig sein von einer Vielzahl von politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die die materielle Basis für die neue Produktionsweise legen. Sie brauchen keinen Masterplan, folgen keiner konstruierten Utopie, sondern der harten Notwendigkeit, die allen regionalen und lokalen Kämpfen um eine Transformation Richtung und Einheit gibt. Auch der Übergang vom Feudalismus zur modernen bürgerlichen Gesellschaft und zur industriellen Revolution folgte keinem „Plan“. An tausend Orten entwickelte sich das Handwerk, wurden neue Produktionsverfahren entwickelt, neues Wissen verbreitet, lange Zeit, ohne dass die politische Ordnung angegriffen wurde. In zwei Jahrhunderten wuchs so ein neues Netzwerk, das irgendwann überlebensfähiger war als die feudale Ordnung. Die neuen Produktivkräfte sprengten die alten Produktionsverhältnisse und ihren herrschaftlichen Überbau.
Anders als der Übergang zur fossilen Periode der Menschengeschichte hat der Übergang zur solaren Weltwirtschaft einen zeitlichen Index; er wird gesetzt durch die berechenbare Erschöpfung vor allem der fossilen Energieträger. Anders als die industrielle Revolution wissen wir vorher von seiner Notwendigkeit. Und anders als die bürgerliche Revolution hat er von vornherein weltweiten Charakter: Er zielt darauf, eine globale Not zu wenden. Er ist kein utopisches Projekt, sondern richtet sich gegen die Wahnsinnsutopie des unendlichen Wachstums. Die Orientierung der sozialen Bewegungen auf diesen notwendigen Übergang begründet mehr als eine „nur“ moralische Koalition disparater sozialer Kämpfe und technischer Vorstöße. Er ist ein Fernziel, das schon jetzt aus „Globalisierungsgegnern“ die Pioniere einer neuen Epoche machen kann, sie nicht nur ideell, nicht nur in der zerstreuten Opposition, sondern faktisch vereinigen kann – im Bemühen, die Geburtswehen der neuen Epoche abzukürzen. Die Orientierung der sozialen Bewegungen auf dieses Ziel ist vielleicht nicht die einzige, sicherlich aber die „härteste“ Grundlage für eine wirkliche und wirkende globale Koalition.
* Lebt als Freier Publizist in Berlin.