12.04.2001

Vom Protest zur Lobby

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Vom Protest zur Lobby

Von SERGE HALIMI

Ein neuer Zyklus beginnt. Die kapitalistische Ordnung lässt von ihrer Killer- und Raubtierrhetorik ab und beschwört ein einvernehmliches Miteinander: „Abstimmung“, „Transparenz“, „Ethik“ und „Bürgernähe“ lauten die neuen Stichworte. Doch damit die semantische Metamorphose ihre irreführende Wirkung entfalten kann, damit das System sich mit seinem neuen Image als bürgernah und sensibel verkaufen kann, benötigt es einen Partner: die Protestbewegung.

Die Vereinnahmung ist bereits in vollem Gange. Schon wissen die Globalisierungsgegner nicht mehr, wo sie den Kopf hinwenden sollen vor lauter Kameras und Mikrofonen, vor lauter Einladungen zu Abstimmungs- und Diskussionsrunden. Die Verführungstechniken, mit denen sie geködert werden sollen, sind fast schon zu offensichtlich.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist für den Ruin zahlreicher armer Länder mitverantwortlich und wurde zumal in Russland zum Komplizen weltgewandter Profiteure, die das Land ausraubten. Doch was soll’s: Der ehemalige IWF-Generaldirektor Michel Camdessus pilgerte zum Abschluss seiner Karriere in den Vatikan, wahrscheinlich um ein Jahr der Barmherzigkeit auszurufen. Im Januar dieses Jahres entsandte der IWF einen Beobachter zum Ersten Weltsozialforum nach Porto Alegre, und die Rockefeller Foundation spendierte für dieselbe Tagung 100 000 Dollar. In der südbrasilianischen Stadt, die von der Arbeiterpartei (PT) regiert wird, konnte der IWF-Beobachter auch zwei subalternen Mitgliedern einer französischen Regierung in die Arme laufen, deren sozialpolitisches Engagement sich schon immer in Grenzen hielt.

Ebenfalls im Januar empfingen die erlauchten Teilnehmer des Davoser Weltwirtschaftsforums den französischen Finanzminister Laurent Fabius, der ebenfalls als Sendbote seines Ministerpräsidenten Lionel Jospin fungierte – in dem Fall allerdings, um die Märkte zu beruhigen. In Davos wurde denn auch ein Preis für den „sozialen Unternehmer“ ausgelobt. Einige Monate zuvor hatte sich der EU-Handelskommissar (sprich: Freihandelskommissar) und Sozialist Pascal Lamy zur Sommeruniversität der Bürgervereinigung für eine Tobin-Steuer (Attac) eingeladen, zweifellos mit der Absicht, seine Kenntnisse über die „Zivilgesellschaft“ abzurunden, mit der er nach eigenem Bekunden schon unentwegt via Internet-Chat kommuniziert.

Bill Gates wiederum zeigte sich von seiner Erkenntnis, dass „der Tod eines Kindes in Afrika nicht minder tragisch ist als in Amerika“1 , derart erschüttert, dass er einer nach ihm benannten Aids-Stiftung 100 Millionen Dollar spendierte. Und während der französische Arbeitgeber-Präsident Ernest-Antoine Seillière gestand, am meisten leide er unter „dem Leid der anderen“, bekannte sich Vivendi-Chef Jean-Marie Messier dazu, die Leitartikel der Satirezeitschrift Charlie Hebdo zu goutieren und begeisterter Anhänger „der entstehenden multikulturellen Gesellschaft“ zu sein.

Nichts von alledem – und schon gar nicht die Tatsache, dass auf dem Davoser Forum gleich zwei Mal der Name von Karl Marx gefallen ist – sollte zu der Annahme verleiten, der Kapitalismus sei bereits in der Defensive. Erstens umfassen die westlichen Mittelschichten so viele und so wohlhabende Bürger, dass sie eine solide Stütze des Kapitalismus bleiben; zweitens rückt die Marktbegeisterung der offiziellen Linken eine Alternative zum Neoliberalismus in weite Ferne; und drittens wird durch die immer offensichtlichere Unterwerfung der Medien unter die Interessen der Arbeitgeber, der Werbeindustrie und der Aktionäre2 die Möglichkeit der Ausbreitung sozialer Kämpfe unterminiert, die infolge einer weitgehenden Zersetzung des Solidaritätsbewusstseins ohnehin schon stark beeinträchtigt ist.3

Wenn allerdings die Chefin von Hewlett-Packard meint: „Langfristig liegt es im Interesse unserer Unternehmen, auf den Abbau von Ungleichheit hinzuwirken“4 , so drückt dieses bürgerschaftliche Engagement der Arbeitgeberseite durchaus eine reale Klimaveränderung aus. Die Oppositionsbewegungen gegen Freihandel, Privatisierung und Marktwirtschaft, deren Stimmen vom Geschrei der Börsenzocker, der Netzwirtschaft und der Ideologen des „dritten Wegs“ zeitweise völlig übertönt wurden, haben die Kraft zurückgewonnen, mit der sie 1995 – von Frankreich bis Korea – auf den Plan getreten waren.

Die mit öffentlichen Geldern finanzierten, aber fast ausschließlich im Dienst privater Interessen agierenden internationalen Finanzinstitutionen haben begriffen, dass sie ihren Einfluss nur durch flankierende Öffentlichkeitsarbeit aufrechterhalten können. Die Mittel dazu haben sie, und sie wissen auch aus Erfahrung, dass sich der Protest, mit dem sie konfrontiert sind, nur mit Hilfe des ökonomischen Konkurrenzkampfes vereinnahmen lässt, also durch Verführung oder durch Partnerschaftsangebote.5

Das Problem besteht ja nicht nur darin, dass sich die Globalisierung seit einiger Zeit „wie ein wild gewordener Hund“ aufführt, wie der Tagungsdirektor des Davoser Weltwirtschaftsforums es formulierte, das Problem liegt auch darin, dass dies so deutlich sichtbar geworden ist. Der Absturz der „New Economy“-Aktien, der Konjunkturrückgang in den USA, die ökologischen Gefahren und die Tierseuchen, die zumindest zum Teil auf die beschleunigte Entwicklung des Welthandels zurückgehen (mit einem Zuwachs von 10 Prozent im Jahr 2000), enthüllen die hässliche Kehrseite eines Entwicklungsmodells, das auf privater Aneignung des Reichtums beruht.

Die Komödie des offenen Gehörs und der öffentlich zelebrierten Reue ist bereits in vollem Gange. Der Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit bei der OECD hat erklärt: „Seit dem Multilateralen Abkommen über Investitionen haben wir versucht, die Konsultationen und den Meinungsaustausch mit der Zivilgesellschaft voranzutreiben, um unsere Organisation transparenter und offener zu gestalten.“6 Weltbank-Präsident James Wolfensohn verstieg sich im vergangenen September in Prag sogar zu der Behauptung: „Wir verfolgen ähnliche Ziele wie die Demonstranten auf der Straße.“ Und IWF-Exekutivdirektor Horst Köhler sekundierte: „Ich habe mir vorgenommen zuzuhören. Und ich bin in der gefestigten Überzeugung nach Hause gefahren, dass wir versuchen müssen, eine bessere Welt aufzubauen.“7 Wenn sich alle guten Menschen die Hand reichen, könnte glatt eine weltumspannende Menschenkette zustande kommen.

Doch wer sich nicht einlullen lässt von dem, was Pierre Bourdieu „den ebenso großherzigen wie realitätsfernen Elan“ nennt, „der etliche Intellektuelle dazu gebracht hat, Revolutionen in Wort und Text mit wirklichen Revolutionen zu verwechseln“8 , der wird wissen, dass die Kinderreime der neuen Gemeinwohlprediger in Wirklichkeit keine grundstürzenden Veränderungen ankündigen. Als die Bosse der multinationalen Konzerne in Davos um das radikalste Bekenntnis zu ihrer „sozialen Verantwortung“ wetteiferten, präsentierte sich DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp als einer der rührseligsten Moralapostel. Und kurz darauf verkündete sein Konzern die Entlassung von 26 000 Beschäftigten in den USA.9

Die Zähmung der Widerspenstigen

DER schulterklopfende Diskurs über die Zivilgesellschaft verfolgt also offenbar das Ziel, die „Zivilgesellschaft“ durch ein paar symbolische Zugeständnisse (oder Spenden an irgendeine Stiftung) für die Strategie der Arbeitgeber einzunehmen, um dann zu einem geeigneten Zeitpunkt die eine oder andere Symbolfigur des Protests in das herrschende System zu kooptieren. Solche Pseudomitbestimmung kostet nicht viel und hat als Frühwarnsystem zudem den Vorzug, den sozialen Frieden zu sichern. Protest soll zur Lobbytätigkeit verkommen. Ihr kritisiert den Ultraliberalismus der Europäischen Kommission? Die Kommission lädt euch gleich ein, euren Standpunkt darzulegen. Die Irreführung der Öffentlichkeit durch die Nato während des Kosovokriegs hat euch empört? Kommt nach Brüssel und erklärt den Verteidigungsministern, wie sie die Sache hätten anpacken sollen. Wenn dann wieder einmal ein „Ausrutscher“ das Image einer Militärkoalition, einer Wirtschaftsorganisation oder eines Großunternehmens gefährdet, verweist man auf die „Partner“ in der „Zivilgesellschaft“, um den Rückhalt unter „den Bürgern“ zu belegen.

Im Übrigen sitzt neuerdings bei immer mehr multinationalen Konzernen ein hoch bezahlter Verantwortlicher für „Corporate Citizenship“ im Aufsichtsrat.10 Die Beschäftigten der indonesischen Zulieferbetriebe von Nike werden nach wie vor extrem ausgebeutet und haben keine angemessene Krankenversicherung, aber die Konzernzentrale schmückt sich mit einer Vizepräsidentin für Unternehmensethik.

Eine internationale Umfrage unter so genannten Meinungsführern hat ergeben, dass sich „soziales Engagement positiv auf den Unternehmenserfolg auswirkt“11 . Bernard Arnault, Chef der Luxusartikelgruppe LVMH (Dior, Vuitton, Givenchy) erklärt denn auch ohne falsche Scham, was ihn am ethischen Sponsoring am meisten interessiert: „Wir müssen den Menschen mehr Lebenssinn vermitteln, beispielsweise durch Unterstützung humanitärer Anliegen, was uns unter anderem ermöglicht, dem Konsum bestimmter Marken einen Sinn zuzuschreiben.“12 Und Arnaults Konkurrent, Vivendi-Chef Jean-Marie Messier, verkündet sogar, sein Unternehmen werde „bei der Schaffung eines europäischen und internationalen Sozialrechts eine Pilotfunktion übernehmen“13 .

Humanitäre Anliegen, Lebenssinn, Recht: Die Wirtschaft fühlt sich für alles zuständig, selbst für die Organisation von Gegenmacht. So unterstreicht der ehemalige Generalsekretär des französischen Bauernverbands Confédération Paysanne, René Riesel: „Wer die Entwicklung dieser Gesellschaft unvoreingenommen beobachtet, kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass eine ihrer Stärken darin besteht, (nötigenfalls auch antizipierende) Antworten auf die Probleme zu finden, die sich infolge ihres unzweifelhaften historischen Siegs bei der Verwaltung, Regulierung und Kontrolle des sozialen Zusammenhangs ergeben. [...] Sie hat gelernt, dass es stets von Vorteil ist, fiktive Konflikte zu inszenieren und eigens zu diesem Zweck ausgewählte Pseudogegner mit der Aufgabe zu betrauen, Beschwerdehefte zu verfassen und eine Liste aller nötigen Umgestaltungsmaßnahmen zu erstellen.“14

Die Erneuerung des Systems durch kritische Impulse, seine Fähigkeit, den Protest zu vereinnahmen und paternalistische Kontrolle zur Mitbestimmung umzuschminken, ist freilich nichts Neues. Nach dem Mai 68 etwa griff das Management die libertäre Kritik an hierarchischen Strukturen und fordistischer Unternehmensorganisation auf und ließ sie, um ihre Spitze gebracht, auf die Umgestaltung der Produktionsabläufe einwirken. „Die Protestbewegungen, mit denen sich der Kapitalismus Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre konfrontiert sah, mündeten in eine Umgestaltung seiner Funktionsweise und seiner Strukturen, sei es indem die Kritik als völlig berechtigt anerkannt wurde, um sie zu beschwichtigen, sei es durch Herumlavieren und partielle Veränderungen, um sich der Kritik ohne wirkliche Antwort zu entziehen.“15

Die Führungsriegen in den Medien und im PR-Sektor haben längst erkannt, dass sich einige Altachtundsechziger Gewinn bringend als Produzenten der neuen herrschenden Ideologie recyceln lassen, angefangen von den kommerzialisierten Freien Radios bis hin zu manchen großen Tageszeitungen, die sich noch immer als Gegenmacht stilisieren. In der Tat spielen die Medien bei der Vereinnahmung des Protests oft eine entscheidende Rolle.

Wie jene Gewerkschafter, die sich in Mitbestimmungsorganen aufreiben und die eigentliche Betriebsarbeit vernachlässigen, so glauben auch führende Globalisierungsgegner Zeit und Profil zu gewinnen, wenn sie bei jeder Protesthandlung zuerst an die Journalisten denken. Allzu oft erliegen sie der Versuchung, „Medienwirksamkeit“ mit gesellschaftlicher Realität zu verwechseln. Verkannt wird dabei, dass diese Orientierung nur die Macht der Medien stärkt, die hier das eine Ereignis übertreiben, dort das andere herunterspielen und sich ganz allgemein zum alleinigen Richter darüber aufschwingen, was wichtig ist – und wer dafür zuständig ist, die wichtige Sache zu repräsentieren. Dabei fordert diese Tyrannei einen umso höheren Tribut, als sie in den Händen von kapitalistischen Medienunternehmen und überbezahlten Fernsehmoderatoren liegt, oder auch nur von Journalisten, die mehrheitlich der Mittel- und Oberschicht entstammen. Im Namen der angeblich so bedeutsamen Medienpräsenz opfert der Aktivist, der sich nicht selten durch seine eigene Bekanntheit blenden lässt, ein ganzes Stück der Analyse des vielfältig vermittelten Zusammenhangs kapitalistischer Herrschaft.16 Als wohlerzogener Gast wird er peinlich darauf achten, das Porzellan seiner Gastgeber nicht zu zerschlagen. Er unterwirft sich ihren Erwartungen, indem er mal eben kurz eine Runde dreht und dann wieder verschwindet.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 The Wall Street Journal Europe, 29. Januar 2001. 2 In Frankreich beispielsweise steht gleichzeitig der Börsengang dreier Tageszeitungen zur Diskussion: Figaro, Le Monde und Libération. 3 Die Privatisierungen spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da sich die Beschäftigten des Staatssektors traditionell als besonders kampfstark zeigen. In den zurückliegenden fünfzehn Jahren aber „halbierte sich der Beschäftigungsanteil staatseigener Unternehmen und fiel auf 5,3 Prozent der Gesamtbeschäftigung“ (Les Échos, 21. November 2000). 4 Les Échos, 5. Februar 2001. 5 Dazu „La grande récupération“, PLPL 2-3, Marseille, Februar 2001, und „Trading with the Enemy“, The Nation (New York), 26. März 2001. 6 Le Monde, 23. Januar 2001. 7 In Marianne, 20. November 2000. 8 Pierre Bourdieu, „Pour un savoir engagé“, Contre-feux 2, Paris (Raisons d’agir) 2000, S. 35. 9 „Outside, inside“, Time (New York) 12. Februar 2001. 10 Dazu „Companies explore philantropic side“, The Wall Street Journal Europe, 29. Januar 2001. 11 Vgl. „Les entreprises de plus en plus citoyennes“, CB News, 5. Februar 2001. 12 Bernard Arnault, „La passion créative“, Paris (Plon) 2000, S. 129f. 13 Le Parisien, 23. Januar 2001. 14 René Riesel, „Déclarations sur l’agriculture transgénique et ceux qui prétendent s’y opposer“, Paris (Éditions de l’Encyclopédie des Nuisances) 2001, S. 57. 15 Luc Boltanski und Eve Chiapello, „Le Nouvel esprit du capitalisme“, Paris (Gallimard) 1999, S. 241. Eine ähnliche Analyse findet sich bei Charles Sabel, „Work and Politics“, Cambridge University Press 1982. 16 Fragwürdig ist zum Beispiel, ob die Kritik an gentechnisch veränderten Lebensmitteln in einer Unterhaltungssendung am Sonntagnachmittag (4. März 2001) es unbedingt erforderlich macht, dass sich José Bové in herabwürdigender Anspielung auf seine Verhaftung mit Handschellen an den Produzenten und Moderator der Sendung Michel Drucker ketten lässt.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von SERGE HALIMI