12.04.2001

Kritik der totalen Muße

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Kritik der totalen Muße

Von LUCIEN SFEZ  *

DIE Datenautobahnen – angeblich das achte Weltwunder – werden nichts anderes sein als eine Kreuzung von Telefon, Audiovision und Computer. Das Gleiche gilt für den Schnickschnack von morgen, den die Techniker der Telekommunikation erst noch erfinden müssen. Was immer da herauskommt, es handelt sich letztlich stets um stapelweise Handys mit Zugang zum Internet in Verbindung mit Festnetzanschlüssen, Bildtelefonen, dreidimensionalen Bildschirmen, Tasthandschuhen, Computern, Modems, Datenbanken, Geschäften, Verwaltungen und Pannenhilfen. Lauter Warenstapel, die um technische und gesellschaftliche und professionelle Netze herum aufgebaut sind.

In dieser ausgefüllten Welt gibt es keine Leere, kein schwarzes Loch, keine Negation, keinen Gegensatz. Alles läuft glatt und funktioniert genauso lautlos wie die elektronische Umwandlung. Gerade mal ein Klingelton von Zeit zu Zeit, und auch der lässt sich abstellen. Kommunikation ist ein Kinderspiel, wenn die Sache sich auf die Verbindung von Maschinen und die Verbindung durch Maschinen beschränkt. Wer aufhören will zu kommunizieren, um wieder mit sich selbst allein zu sein, der braucht einfach nur den Hörer aufzulegen und den Bildschirm abzuschalten.

Der Mensch, der sich solcher Maschinen bedient, ist frei und fröhlich. Er denkt nie etwas Schlechtes, weder von den anderen noch von sich selbst, da er sich in der Effizienz des kommunizierenden Augenblicks immer gut aufgehoben fühlt. Sein Ziel ist kurzfristige Rentabilität, weil es Langfristigkeit in diesem System nicht gibt. Produktivität, Nützlichkeit, Verwaltung – das sind die Hauptwörter des Homo communicans, von dem die Technologen der Kommunikationsindustrie träumen.

Kein Zweifel, dieser Mensch ist untrennbar mit den Maschinen verbunden. Er lebt von ihren Fähigkeiten. Er hat ihre Eigenschaften angenommen. In gewissem Sinne ist er ebenso ihr Diener, wie er sich ihrer bedient. Aber er weiß nichts von diesem zirkulären System, das ihn einbindet und einzwängt, denn er fühlt sich mächtig, von der Macht der Maschinen beseelt, leicht durch ihre Leichtigkeit. Für ihn ist alles positiv, alles ist in Ordnung. Eine Welt ohne Kehrseite, ohne Schatten auf dem Bildschirm. „Flatland“ der Cyberkultur, sagt Douglas Coupland in seinem Roman „Microsklaven“1 .

Da ist kein Preis zu entrichten: Man spricht von Clan, von Stamm, von Gemeinschaften. Metaphern ohne Bezug zur Realität der Cyberkultur: Um in einen Clan aufgenommen zu werden, muss man Opfer bringen. In diesem glatt polierten Flatland, in dem es keinen Preis und keine Schattenseite gibt, ist die einzig denkbare Gefahr der Ausfall der Maschinen: die Panne.

Der Organisationswissenschaftler Martin Landau gab mir bei einem Interview in Berkeley auf die Frage nach einer Theorie der Kommunikation folgende Antwort: „Wissen Sie, warum die Boeing 747 das sicherste Flugzeug der Welt ist? Weil seine vier Steuerungs- und Kontrollsysteme – für jedes Triebwerk eines – voneinander unabhängig sind und der Pilot darüber hinaus über ein manuelles Steuerungssystem verfügt, das wiederum von den vier anderen unabhängig ist.“2 In der Luftfahrt bedeutet die Panne den Tod. Hat sie diesen Sinn nicht auch in der Kommunikation? Tod der Beziehung, Tod der Positionierung, Tod der kommunizierenden Existenz für den Homo communicans, der sich allein durch die maschinelle Verbindung zu anderen Maschinen-Menschen definiert?

Wer behauptet, dies alles wäre ihm fremd, dem sei die Panik des Benutzers in Erinnerung gerufen, wenn der Computer abstürzt, der Fernseher versagt oder das Telefon nicht geht. Besser ließe sich doch gar nicht veranschaulichen, wie sehr die Maschinen Bestandteil unserer selbst geworden sind, oder vielmehr wir Bestandteil der Maschinen. Die Panne ist eine Qual; die Furcht vor der Panne ein Albtraum.

Sie ist der einzig mögliche Widerspruch zum System, das einzig denkbare Unglück. Die Angst vor der Panne hat die Angst vor dem Teufel der Apokalypse abgelöst. Kurz, nur die drohende Panne haucht dem System Leben und Gefühle ein, die ihm sonst fehlen. Sie ist die letzte Lebenschance des Kommunikationssystems. Northrop Frye zeigt in seinem Buch „Anatomy of Criticism“3 , dass die Apokalypse in eine Reihe von Texten eingebettet ist, die vor allem die ersehnte himmlische Einheit zwischen Gott und den Menschen preisen. Wie die Angst vor der Apokalypse also dem Glauben dienen soll, dient die Angst vor der Panne dazu, den Cyberkult zu konsolidieren. Aber der ausgefüllte, positive Mensch, der kein rauhes Pflaster und kein Opfer kennt, weiß das alles nicht. Er glaubt, immer zu gewinnen. Er weiß nicht, dass man verlieren muss, um zu gewinnen. Er weiß nicht, was er verliert.

Die Maschinen, die Produktivität und Effizienz gewährleisten sollen, haben paradoxe Folgen: Sie schaffen einen faulen und nutzlosen Menschen. Einen Menschen, der von selbst nicht mehr viel tut, dem die geringste Handbewegung abgenommen wird. Er will ins Büro? Der automatisierte Wagen steht für ihn bereit, er braucht nur am Steuer zu träumen, bis der Autopilot „Fahrtende“ anzeigt.

Der alte Slogan der Lastwagenfahrer, „Ich fahre für euch“, hat auf seltsame Weise uns alle eingeholt. In der Kontinuität der technologischen Entwicklungen ist der künftige Homo communicans die Faulheit selbst. Eine absolute und abgrundtiefe Faulheit, deren Anfänge sich in unseren alltäglichen Verhaltensweisen bereits bemerkbar machen.

Wo immer sich die Gelegenheit bietet, überlassen wir es den Maschinen, für uns zu memorieren, zu speichern, zu sprechen. Das reicht vom Adressbuch mit Telefonnummern und E-Mail-Adressen bis zur Verwaltung von Bibliografien, Texten, Geschäftsterminen, Konten und Kalendern. Unsere einmal aufgezeichnete Stimme – oder, besser noch, eine synthetische Stimme – antwortet für uns. Wir öffnen die Türen aus der Ferne und zappen gleichgültig mit der Fernbedienung in der Hand. Es fehlt nicht mehr viel und wir verfallen in eine Art dösende Lässigkeit.

Diese Lässigkeit wiegt sich übrigens im Gefühl großer Sicherheit, das die Überwachungs- und Kontrollmaschinen verleihen, die Überwachung der Überwachung im Quadrat. Faulheit stellt sich ein, wenn keine Angst da ist. Der faule Mensch fühlt sich von allen Seiten abgeschirmt, gut geschützt im warmen Nest. Um Feinde muss er sich nicht kümmern, es gibt ausgetüftelte Systeme, die für ihn Wache halten. Erkennen der Stimme und des Blicks, digitaler Fingerabdruck, Kameras mit Bedienungscode: Von Eindringlingen ist nichts zu befürchten.

Wenn der Mensch sich nicht selbst zu verteidigen braucht, erscheint er als ein nutzloses Wesen. Er wirkt wie eine zufällig abgestellte Nebensächlichkeit, die ebenso gut nicht existieren könnte. Was die Maschinen mit vollendeter Perfektion ausführen, führt er nur ungeschickt aus, zögerlich und fehlerhaft. Ganz im Sinne der schon alten Idee, dass das Gehirn nur eine armselige Ausführung des allmächtigen Computers sei, wird der Mensch sich seiner Ohnmacht bewusst und lässt sich von dem Gefühl seiner Nutzlosigkeit überschwemmen.

Sein eigenes, faul gewordenes Gedächtnis ist porös und voller Löcher, aber das ficht ihn nicht an, da er das mnemotechnische Vermögen, wenn man so sagen darf, in guten Händen weiß. Und was das Alltagsleben betrifft, so laufen die Dinge besser, wenn er sich nicht einmischt. Er tut also gut daran, sich zurückzuhalten und zu träumen oder zu spielen.

Anders als ständig behauptet und zur Selbstverständlichkeit erklärt, ist der künftige Homo communicans kein gehetztes und gestresstes Wesen. Warum sollte er? Die Maschinen werden seine Fehler ebenso zielsicher berichtigen, wie die ganze Gesellschaft dank der technologischen Errungenschaften von ihren auffälligsten Mängeln – Ungleichheit, Armut, Krieg und Tod – geheilt werden wird.

Diese Gesellschaft des kommunizierenden Ganzen ist keine Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, sondern eine Gesellschaft der Langsamkeit, des Nichtstuns, der Betrachtung und des Spiels. Sicher handelt es sich dabei nicht um die von Pierre Sansot gerühmte Langsamkeit4 , nicht um das genüssliche Empfinden der verstreichenden Zeit, das Sichlaben an Früchten, frischer Luft und ausschweifenden Gedanken, sondern um eine auferlegte Langsamkeit, die, euphorisierend und einlullend, ohne Erwartung und ohne Überraschung ist. Träumen? Betrachten? Das sind in der Tat die Dinge, die der Homo communicans am allerbesten kann. Und zweifellos sind diese Träumereien geeignet, neue Ideen auszubrüten – Ideen für neue Kommunikationsmaschinen, Anstöße zu Erfindungen oder zur Innovation. Vielleicht ist das die reale Arbeit, die dem Menschen im Rahmen der Zukunftskommunikation vorbehalten ist. Alles andere – Projektplanung und Durchführung – übernehmen die Maschinen.

Platon hat die jungen Philosophen vor der Schrift und den Büchern gewarnt, die um der Bequemlichkeit willen das lebendige Gedächtnis durch ein totes Gedächtnis ersetzen, die zur Faulheit führen und den Leser passiv werden lassen. Ein Rat, der einer vorgeschichtlichen Vergangenheit anzugehören scheint (und den die Pädagogen von heute nie geben würden, denn die Leute sollen ja lesen!). Aber so sehr sich Platons Aussage in der Form verändert haben mag, ist der Inhalt doch der Gleiche geblieben: Es geht immer noch um die Übertragung der eigenen Pflichten auf einen äußeren Mechanismus. Die Faulheit, weit davon entfernt, das Ergebnis einer Befreiung von der den Maschinen überlassenen Arbeit zu sein, wäre aus Platons Sicht der Beweis einer des Menschen unwürdigen Versklavung.

dt. Grete Osterwald

* Professor an der Universität Sorbonne-I, Paris.

Fußnoten: 1 Douglas Coupland, „Microsklaven“, Hamburg (Hofmann & Campe) 1996. 2 Erschienen in „Critique de la communication“, Paris (Seuil) 1988. 3 Northrop Frye, „Anatomy of Criticism“, London (Penguin) 1990. 4 Vgl. Pierre Sansot, „Du bon usage de la lenteur“, Paris (Payot) 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von LUCIEN SFEZ