Heller Wahn
Von IGNACIO RAMONET
IN der Pest, schrieb Antonin Artaud 1933, breche eine „latente Tiefenschicht der Grausamkeit“ hervor, die „alle perversen Möglichkeiten des Geistes“ – seien es die eines ganzen Volkes oder die eines Individuums – offenbarten.1 Wie die Pest, so offenbart auch die Maul- und Klauenseuche, die die britischen Lande derzeit heimsucht, „eine latente Tiefenschicht der Grausamkeit“, und so manche „perverse Möglichkeit des Geistes“. Denn jede Epidemie – darin stimmen die Historiker überein – ist nicht nur Ursache, sondern auch Folge einer bestimmten historischen Situation.
Kein Zufall daher, wenn sich über England, in dem der Ultraliberalismus seit nunmehr zwanzig Jahren sein Versuchsfeld gefunden hat, der mittelalterliche Lichtschein zahlloser Scheiterhaufen verbreitet, auf denen Hunderttausende von Tieren grundlos2 verbrannt werden. Wie um das Maß voll zu machen, bildet dieser Albtraum den krönenden Abschluss eines Winters voller Plagen: Rinderwahnsinn, Überschwemmungen, Schneekatastrophen, Stromausfälle, Zugunglücke und vieles mehr. Und kein Fluch Gottes, keine „Verschwörung des Schicksals“ (Daily Mail) vermag das Desaster zu erklären.
Die Entscheidungen, die zu diesen Tragödien führten, wurden ganz bewusst unter Bezug auf bestimmte Dogmen getroffen, die sich aus dem neoliberalen Küchenlatein speisen. Die rasante Ausbreitung der Maul- und Klauenseuche beispielsweise, die ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht hat, aber bereits als außer Kontrolle gilt, entspringt einem Rentabilitätsfetischismus, der die wirtschaftlichen Akteure antreibt, Kosten und also Sicherheitsvorkehrungen einzusparen, um die Gewinnmarge zu erhöhen. Im Namen der Deregulierung wandten sich die Regierungen unter Margaret Thatcher in den Achtzigerjahren vom Vorsorgeprinzip ab und gingen dabei so weit, das landesweite Netz tierärztlicher Versorgung regelrecht zu vernichten. Überdies fiel 1991 die verhängnisvolle Entscheidung, die Impfung der Tiere zu verbieten, nur um eine Milliarde Euro zu sparen und den Export anzukurbeln.
Diese beiden Maßnahmen – die charakteristisch sind für die industrielle Landwirtschaft – schufen die Bedingungen für die derzeit grassierende Maul- und Klauenseuche und zwingen nun – da die fortschrittlichen Prinzipien Pasteurs verpönt sind – zum Rückgriff auf archaische Methoden, wie sie in Anlehnung an die hypokratische Maxime „cito, longe, tarde“ (schnell, ausgiebig, nachhaltig) seit der Antike bei Epidemien angewandt wurden. Einer „Landwirtschaft ohne Grenzen“ verpflichtet, mündeten diese Maßnahmen paradoxerweise im striktesten Protektionismus. Leichthin hatte man vergessen, dass auch Viren keine Grenzen kennen: In Zeiten der Globalisierung „sind sie in ständigem Fluss, nur vergleichbar mit den Bewegungen der Kapitalströme“. (International Herald Tribune, 16. März 2001)
DIE verzweifelten Anstrengungen um Wettbewerbsfähigkeit, der entfesselte Wettlauf ums Größte und Billigste sind wohl auch ein Grund für den Ausbruch des Rinderwahnsinns. „Sämtliche Untersuchungen ergaben, dass die Prionen ursächlich mit Veränderungen in der Tiermehlproduktion zusammenhängen. 1981 begannen die britischen Hersteller damit, bestimmte Abläufe des Fabrikationsprozesses einzusparen: Sie reduzierten die Temperatur (Energieersparnis), und sie verzichteten auf Lösungsmittel (Rohstoffersparnis). Diese beiden Veränderungen verhinderten die Vernichtung der Prionen und ermöglichten ihre Ausbreitung.“3
Dieselbe Produktionslogik verleitete die britische Regierung ab 1979 zur fortschreitenden Privatisierung der Staatsbetriebe. Seit dem Verkauf der Bahn 1994 ereignete sich ein Unfall nach dem anderen mit insgesamt 56 Toten und mehr als 730 Verletzten. Die Medien geben den neuen Betreibern die Schuld. Sie hätten die Sicherheit geopfert, um mit hohen Profiten den Aktionären den Bauch zu pinseln.
Hat sich mit der Regierungsübernahme durch Tony Blair etwas geändert? Nicht wirklich. Blairs sozialdemokratischer „dritter Weg“ wird einfach als eine Variante des Neoliberalismus à laThatcher empfunden. Unter seiner Amtszeit ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP auf die niedrigste Quote seit vierzig Jahren gesunken. Großbritannien weist die schärfsten sozialen Kontraste in Europa auf. Die schleichende Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens geht unvermindert weiter. Blair erhöhte die Einschreibegebühren an den Universitäten, sodass nun das Geld zu einem neuen Auslesemechanismus geworden ist.
Was das Gesundheitswesen anbelangt, bildet Großbritannien nach einer Studie der WHO das Schlusslicht Europas. Die Einkommensunterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten haben zugenommen. Über 5 Millionen Briten leben unter der Armutsgrenze. Mehr als die Hälfte der Frauen verfügen als Teilzeitbeschäftigte über zu wenig Einkommen. Ein Viertel aller Kinder wächst in Armut auf, die höchste Quote innerhalb der Industrieländer.
Angesichts dieser Bilanz stellt sich die Frage, ob die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas Herrn Blair und seiner „New Labour“ wohl die Leviten lesen? Immerhin geben sie vor, für mehr Gerechtigkeit und weniger Ungleichheit einzutreten. Doch nichts von alledem. Der „Einheitskandidat“ für die Präsidentschaft der Sozialisten Europas – deren Kongress am 7.-8. Mai dieses Jahres in Berlin stattfindet – heißt Robin Cook. Der britische Außenminister gehört zu Blairs engsten Freunden.