Liebe in den Zeiten des Widerstands
Von PHILIPPE LAFOSSE *
Man muss sich „Eloge de l’amour“ (Lobpreis der Liebe) zunächst einmal ansehen. Dann muss man den Film ein zweites Mal sehen, so, wie man auch ein Bild noch einmal betrachtet, ein Musikstück wiederhört oder ein Buch zum zweiten Mal liest. Erst danach kann man darüber sprechen. Wir haben uns derart daran gewöhnt, immer gleich daraufloszureden, noch bevor wir einen Film überhaupt gesehen haben. Vor allem wenn es um Godard geht, der von den einen vergöttert, von den anderen verhöhnt, in jedem Fall also verraten, zementiert und in eine Schublade gesteckt wird, haben wir uns daran gewöhnt. Und so kann man schon beinahe davon träumen, dass wir eines Tages seine Bilder einfach betrachten, seinen Filmen einfach nur zuhören. „Interessant ist doch, vom Film selbst zu reden und nicht von der Person, die ihn gemacht hat“, sagt der Regisseur. „Aber wo geschieht das schon? In der Literatur, da ist das kein Problem: Dort spricht man oft genug von den Büchern, nicht von den Autoren. Aber wenn es um Filme geht, ist das eher die Ausnahme, meistens spricht man vom Budget oder von dem, was der Regisseur machen wollte. Die Regisseure reden viel, sie sagen, was sie machen wollten, und das Publikum glaubt ihnen, auch wenn sie es gar nicht gemacht haben. Das Publikum betrachtet nicht die Bilder, es sieht das, was es sehen soll, was man ihm eingeredet hat zu sehen. Es folgt den Anpreisungen der Fernsehwerbung, die vom Kassenerfolg diktiert werden und sich nicht auf das Produkt beziehen.“
„Eloge de l’amour“, das ist vor allem echtes Schwarzweiß, wie es heutzutage niemand mehr macht. Und es geht um etwas, um etwas in der Liebe und um die Liebe zu etwas. Die Liebe zum Widerstand, zur Erinnerung, zum Kino, zur französischen Sprache, zur Geschichte. Edgar, das ist Bruno Putzulu. Man sieht ihn einfach – von vorn oder von hinten, wie er in seinem Büro steht oder auch sitzt, den Regenmantel über den Knien, wie er einfach aus dem Fenster schaut, als unternähme er eine Reise in die Zeit, wie er durch Reglosigkeit und Schweigen kommuniziert –, um zu begreifen, was dieser Mann ist, was dieser Mann für Jean-Luc Godard bedeutet: „Eine große Aufrichtigkeit, eine Ehrlichkeit und Integrität als Schauspieler.“ – „Er hat versucht durchzuhalten, und er hat es geschafft.“ Das springt ins Auge.
Edgar hat einen Plan, er spricht es selbst aus: „Die Geschichte hat etwas mit den drei Lebensabschnitten zu tun: Es gibt Junge, Erwachsene und Alte. Und dieses Etwas, das ist einer der Augenblicke, einer der vier Augenblicke der Liebe.“ Musik. „Und zwar die Begegnung, die körperliche Leidenschaft, dann die Trennung und dann die Wiederbegegnung. Und Sie, welche Rolle spielen Sie dabei? Und Sie?“
Bei „dabei“ geht es um beides: um die „kleine“ und um die „große“ Geschichte. Wie gelangt man von der kleinen zur großen Geschichte? Edgar sucht Leute, er stellt Nachforschungen an, „vielleicht für so etwas wie einen Dokumentarfilm, aber wer kennt noch den genauen Sinn dieses Ausdrucks? Eine filmische Abhandlung über die Katholiken in der Résistance.“ Aber die Résistance, was ist das? Es sind diese Felsen, die dem Ansturm der Wellen standhalten, ein Boot mit dem Namen „La France-libre“, Fotos der Vergangenheit, die Madame Bayard betrachtet, das Recht auf Erinnerung. „Alle reden von der Pflicht zur Erinnerung“, sagt Godard, „aber mir scheint, es müsste von einem Recht die Rede sein. So jedenfalls lautet meine Hypothese: Das Recht ist entweder eine Division oder eine Multiplikation der Pflicht. Man hat die Pflicht, menschlich zu sein, man ist es sich schuldig, zu essen: Das Recht ist etwas anderes, es ist die Organisation der Pflicht.“
Die Erinnerung, das sind die Orte und die Monumente der großen Geschichte: „Eloge de l’amour“ zeigt sie heute mit ihrer Fracht an Vergangenheit, mit ihrem erinnerungsträchtigen Wert; es sind aber auch Orte und Monumente der kleinen Geschichte: Parkbänke, auf denen die Elenden liegen und schlafen, auf denen andere sitzen und plaudern oder lesen – Bänke, auf denen die Zeit vergeht, auch dort. Und zwischen der großen und der kleinen Geschichte oder vielmehr einhergehend mit allen Geschichten, der Film, auch er ein Ort des Gedächtnisses: Ort der Zeit, der Treue, des Begehrens.
„Eloge de l’amour“ ist eine Hymne an die Zeit. Ein Film, der die Zeit herankommen lässt, sie zum Vorschein bringt. Einfach und einleuchtend – wie ein Federhalter, der, in ein Tintenfass getaucht, sich vor unseren Augen füllt –, aber auch kompliziert. „Es ist wie bei der Quantenmechanik“, erklärt Godard. „Man kennt die Geschwindigkeit eines Teilchens, aber man weiß nicht, wo es sich befindet. Und wenn man weiß, wo es sich befindet, kennt man seine Geschwindigkeit nicht. Das Kino ist dazu da, es müsste in erster Linie dazu da sein, sich solcher Dinge anzunehmen, sie zum Vorschein zu bringen. Man filmt in der Gegenwart und führt den Film vor: Schon ist man in der Vergangenheit. Man sieht ein Bild und denkt daran zurück. Es geht also sehr wohl um Erinnerung.“
Wenn man etwas wissen, etwas schaffen will, muss man Nachforschungen anstellen. „Eloge de l’amour“ ist ein Film noir, mit Edgar als Detektiv. Um zu lernen, um Erfahrungen zu machen, muss man von den Tatsachen ausgehen. Das ist unerlässlich für das Kino, „wenn man will, dass eine erfundene Geschichte mehr ist als diese amerikanischen Komödien“, und überhaupt: unerlässlich für alles. Für die Wirtschaft beispielsweise: „Wenn du wissen willst“, fährt Godard fort, „warum es der japanischen Wirtschaft im Augenblick so schlecht geht, obwohl sie uns vor zehn Jahren als das Modell der Zukunft angepriesen wurde, stell dich nur jeden Morgen um 8 Uhr an die Kreuzung der Avenue-George-V mit den Champs-Elysées: Dort siehst du die Japaner vor den Vuitton-Geschäften Schlange stehen. Und was kaufen sie? Kackfarbene Koffer! Das ist wirklich durch und durch mysteriös! [lacht] Dieses Bild erzählt Bände über die japanische Wirtschaft oder die Wirtschaft im Allgemeinen.“
Das Bild hinter dem Bild
EHE man sich ausdrückt, muss man genau hinsehen, „sonst fügt man Wörter an Wörter, um mit Péguy zu sprechen, bis sie schließlich keine Wirklichkeit mehr in sich haben“. „Im Allgemeinen“, sagt der Filmemacher, „sieht man die Dinge nicht.“ Er aber versucht, sie zu sehen. „Ich sehe nicht weit, weil ich kurzsichtig bin, aber ich sehe aus der Nähe. Ich strenge mich an, zu sehen: Das jüngste Buch von James Ellroy heißt im Original ,The Six Cold Thousand‘, das bedeutet ,Sechstausend kalte Dollar‘; der französische Titel jedoch heißt ,American Death Trip‘. Ist es das, was man Globalisierung nennt?“ Ein anderes Beispiel: die Vereinigten Staaten. „Ich stelle nur fest, dass es für die Einwohner dieses Landes keinen Namen gibt. Amerikaner, das besagt gar nichts. Auch Mexikaner oder Brasilianer sind Amerikaner. Und Brasilien besteht aus einem Bund vereinigter Staaten, ebenso wie Kanada. Was also sagt das aus? Kein Wunder, denke ich, dass ein Land, dessen Einwohner keinen Namen haben, die Geschichten der anderen benötigt. Die Menschen suchen ihren Ursprung, genau wie wir, aber da sie nicht über eine lange Geschichte verfügen, suchen sie ihn bei den anderen: in Vietnam, in Sarajevo.“
Apropos Geschichten: „Man müsste sich fragen, warum die Leute so gern amerikanische Filme sehen“, meint Godard. „Vielleicht sind wir wie Kinder, die sich gern vollstopfen. Von mir aus – man liebt sie also, die Streifen aus Amerika. Nur sollte man dann auch konsequent sein und es mit den Zeitungen genauso machen. Lassen wir unsere Tageszeitungen – Le Figaro, Libération, Le Monde – gleich auf Englisch schreiben, wenn es das ist, was die Leute wollen, nur los, weiter so! Der Figaro könnte seine Arbeit sogar ganz einstellen! Soll er die Gehälter doch einfach weiter bezahlen und sich mit der New York Times zusammentun, um deren Artikel auf Französisch zu bringen!“
Für Godard, der darauf besteht, dass „das wahre Imaginäre über die Realität laufen muss“, soll das Kino dazu dienen, zu sehen, zu denken und Anstöße zu geben. „In der fast obszönen Debatte, die sich seit einigen Jahren darauf kapriziert, die Toten des Gulag mit denen der Konzentrationslager zu vergleichen – wo man doch nur zu sehen braucht, dass die ersten drei Buchstaben von Lager die letzten drei von Gulag sind –, einer Debatte, in der nur Satz an Satz gereiht wird“, schlägt Godard vor, „einen sowjetischen Film der grande époque und eine nazideutsche Wochenschau nebeneinander zu stellen: Dann sieht man, wie verschieden das Lächeln der vor den Karren der Partei gespannten jungen Leute in Russland und in Deutschland war. Das russische Lächeln war ganz anders als das deutsche. Es ist unglaublich, wie sehr man das den jungen Mädchen ansieht. Es ist nicht das Gleiche. Und mit den Toten verhält es sich genauso. Eine solche Gegenüberstellung, das wäre wirkliche Feldforschung, Arbeit vor Ort auf dem Gebiet der Verständigung und des Verstehens: Es bliebe nicht bei leeren Worten.“
Kehren wir zur „Eloge de l’amour“ zurück, und fangen wir beim Titel an. „Der Titel eines Films“, sagt Godard, „ist eine Art Eingangsbemerkung, ein Fingerzeig. Titel sind keineswegs Spielereien: Man spricht von Titeln, wenn es um Eigentum oder um eine Schuldüberschreibung geht.“ – „Eloge de l’amour“ handelt von Liebe. Ständig. Von Liebe und ihrer Abwesenheit, vom Zusammenfinden des Paares und von dessen Schwierigkeiten, vom Zusammenleben. Von Paaren aller Art: Gegenwart/Vergangenheit, Schwarzweiß/Farbe, Gedächtnis/Vergessen, Frieden/Krieg, Dokumentation/Fiktion, Etwas/Nichts, und, nicht zu vergessen, Aktion/Reaktion, „das älteste Paar der Geschichte“. Und natürlich von Männern und Frauen. Von all diesen Paaren erzählen uns Monsieur und Madame Bayard, Tristan und Isolde, Eglantine und Parzival, Edgar und . . .? Edgar ist auf der Suche: Er geht sogar in ein Depot der SNCF, um ein Mädchen zu suchen „mit großen Augen“, das keine leeren Reden von sich gegeben, sondern „wirklich etwas gesagt hat: Etwas über den Staat und darüber, dass ein Staat sich unmöglich verlieben kann“. Der Titel des neuen Godard ist nicht nur ein Fingerzeig; er öffnet uns die Türen, er ist der Schlüssel zum Film.
Wie bei dem Warnschild der SNCF „Un train peut en cacher un autre“ kann auch ein Bild ein anderes verdecken oder das gesprochene Wort ein Bild, und umgekehrt. Wiederholungen sind unerlässlich für die Reflexion, und wie immer bei Godard muss man sich vor und zurück bewegen, Zusammenhänge herstellen und umschalten, das heißt, man muss schon ein wenig arbeiten – vielleicht, weil man, wie Edgar sagt, „nur an etwas denken kann, wenn man an etwas anderes denkt“. „Du siehst eine neue Landschaft. Sie ist dir neu, weil du sie im Kopf mit einer anderen Landschaft vergleichst, einer alten, die du schon kennst.“ Es ist kein einfaches Kino. Der Zuschauer muss sich verunsichern lassen, nachdenken über den Sinn, über seinen Platz. Über die Bedeutung der Wörter: Widerstand, Verteilung, Liebe, Titel, Gedächtnis. Dies ist einer der Wege, die ihm ein Filmemacher vorschlägt, der daran arbeitet, den äußeren Schein zu durchbrechen und in Frage zu stellen, was als Wahrheit präsentiert wird.
„Eloge de l’amour“ ist ein Film über den Platz jedes Einzelnen in Raum und Zeit, in der Einstellung (Schuss) und in der Gegeneinstellung (Gegenschuss). „Schuss und Gegenschuss“, sagt Godard, „das ist ein Foto von jemandem und dann ein anderes Foto von jemandem, der spricht. Aber wenn man genau hinsieht, dann hat rein technisch gesehen dieses Prinzip Schuss/Gegenschuss noch nie richtig geklappt, es hat immer nur einen Anfang von etwas gegeben, das dann schief ging, es hat noch nie einen Gegenschuss gegeben, so wie sie hätte sein sollen, ein Sehen oder Nichtsehen, eine Abwesenheit, ein Unbenennbares. Und die Tatsache, dass es das nie gegeben hat, lässt mich vermuten, dass sich nichts geändert hat. Etwas hat nicht stattgefunden. Was das Fernsehen betrifft, so wird der Gegenschuss dort im Grunde vollständig ignoriert. Das Fernsehen zeigt nie den, der zuhört. Es zeigt eine Einstellung, dann wird geschnitten, wie man so schön sagt, und es folgt die nächste Einstellung, ohne dass dabei eine menschliche Beziehung artikuliert wird. Manchmal haben diese Einstellungen so wenig miteinander zu tun, dass sogar das kleine Fernsehbild noch unterteilt wird, die Frage ist nur, warum?“ Und er fügt hinzu: „Man könnte darüber diskutieren, wenn solche Diskussionen möglich wären, aber das ist nicht mehr der Fall. Man debattiert nicht mehr, die Leute gehen nicht mehr mit, sie ärgern sich. Sie behaupten, aber sie diskutieren nicht.“
In „Eloge de l’amour“ – wie in vielen anderen seiner Filme – versucht Godard dennoch, eine Diskussion in Gang zu bringen, und wenn er sich auf Wittgenstein, Cioran, Matisse, Bresson, Monet, Simone Weil, Georges Bataille, Robert Walser und andere beruft, so, um Ideen anklingen zu lassen: „Ich verwende diese Wörter, um sie zu bewahren, damit sie zu etwas anderem führen können. Ich fertige ein Klangbild an, und dieses Bild hat einen Sinn: Ich setze Ideen frei. Von da aus kann man nachdenken und eines Tages im Gespräch darauf zurückkommen. Da kann jeder selbst sehen. Wenn es jemandem nicht gefällt, dass man von Schuss und Gegenschuss redet, dann eben nicht.“
Nach einer Stunde wechselt der Film zur Farbe. Keine beliebige Farbe, sondern die einer digitalen Kamera, deren Farbgebung an den Fauvismus erinnert. Das Meer ist rot, der Strand ist blau. Die zinnoberroten Wellen auf dem Meer erscheinen wie ein Echo auf das „Rote Orchester“ von Dufy. Der zweite Teil des Films beginnt: zwei Jahre zuvor, in der Bretagne, wo Edgar den Biografen Jean Lacouture trifft, weil er „den Dingen auf den Grund gehen“ will. Was ist passiert?
Zuerst sieht man Edgar allein auf einer blauen, von gelben und roten Bäumen gesäumten Straße; ein Schild zeigt an: „Vorsicht, Kinder!“. Edgar versucht, die Kindheit hinter sich zu lassen, erwachsen zu werden. Den Rest muss man im Kino erfahren. Dort wird man sehen, dass „Eloge de l’amour“ ein Film noir der Liebe ist, ein politischer, historischer, soziologischer Film, eine unaufhörliche Suche. Ein manchmal melancholischer Blick auf Fragmente des Nichts: „Jeder Gedanke sollte an die Trümmer eines Lächelns erinnern.“ Ein Blick, der uns sehen und hören lehrt, der uns etwas zeigt von den Menschen und der Welt, so wie sie sind.
„Die Dinge nehmen erst einen Sinn an, wenn sie zu Ende sind – denn dann beginnt die Geschichte.“ Nicht Ihre Geschichte und nicht meine, wie schon Edgar sagt. Aber was auch immer kommen mag: die unsere.
dt. Grete Osterwald
* Publizist