Neununddreißig, neunzig
Von MARIE BENILDE *
OCTAVE PARANGO, Held des kürzlich in Frankreich erschienenen Romans „99 F“ von Frédéric Beigbeder, sorgt für Aufregung in der Werbebranche.1 Seit dem Auftritt des kokainsüchtige Antihelden, der sich mit seiner apokalyptischen Erzählung über den Beruf des so genannten Kreativen als Totengräber der Branche gefällt, steckt die kleine Welt dieses Berufszweigs in der Krise. „Vor einigen Jahren genoss der Beruf des Werbetexters noch hohes Ansehen“, entrüstet sich Alexandre Pasche, Direktor der Werbeagentur Agence B., „doch heute werden Werbefachleute mit durchaus aggressiver Verachtung behandelt. Alle Welt empört sich nun über die Untaten der ,Werbefuzzis‘.“2
Frédéric Beigbeder, der „Renegat“, war Konzeptionist der Werbeagentur Young & Rubicam, Redakteur der Regenbogenzeitschrift Voici und bekannt als Stimmungsmacher bei dekadenten Abendunterhaltungen. Die Botschaft des Autors ist einfach. Sein Held, der zwischen Kokainkonsum und pornografischen Szenen die von ihm erfundenen Werbeslogans auflistet, unternimmt alles, um das „universelle Profitdenken“ anzuprangern. Er lässt sich darüber aus, dass das Wort „Glück“ Exklusiveigentum der Firma Nestlé sei, dass es unverwüstliche Waschmaschinen gebe, die aber niemand zu verkaufen gedenke, und dass jeder Mensch bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr im Durchschnitt bereits 350 000 Werbespots konsumiert habe.
Ist der Autor dieses Buches tatsächlich subversiv? Stellt er wirklich ein herrschendes Modell in Frage, oder gefällt er sich als Teil dieses Systems? Beigbeders Buch, von dem bisher in Frankreich mehr als 300 000 Exemplare verkauft worden sind, ist geradezu ein Paradebeispiel für die Vermarktung von Verlagsprodukten: Der marktschreierische Titel („nur 99 Francs“) oder die Kündigung, die gerade recht kommt („Ich schreibe dieses Buch, um mich feuern zu lassen“). Eine moderne Romanfigur, die 13 000 Euro im Monat verdient („Ich verbringe mein Leben damit, Lügen zu produzieren, und kriege es auch noch fett bezahlt“) und ein Sinn für Formulierungen, die eher einer kollektiven Abdankung als einer ideologischen Revolte das Wort reden („Zum ersten Mal in der Geschichte leben wir in einem System der Herrschaft des Menschen über den Menschen, gegen das selbst die Freiheit machtlos ist“).
Sollte demnach die Werbung ein System sein, dem man nicht mehr entgegenzusetzen hat als die Erzählung eines verwöhnten Laffen? Das wäre in der Tat beunruhigend, stünde da nicht die eindringliche und sympathische Darstellung des Romanhelden neben der eigentlichen Kritik an der Werbung. So nützt das Wohlwollen der Gesellschaft, das die reuige Figur des Octave genießt, der Werbeindustrie mehr als die Lobeshymnen auf Procter & Gamble. In dem von der Werbeszene gepflegten Glaubenssystem nimmt der Kreative stets die Rolle des sympathischen Luftikus ein, der in positivem Gegensatz zu den bösen Auftraggebern der Werbung steht.
Angesichts der Brutalität, mit der sich die Imperative des Marketings durchsetzen, kommt dem Werber im Grunde genommen die Aufgabe zu, den Marketingideologien eine menschliche Note zu verleihen. Frédéric Beigbeder verstößt da mit seinem Buch keineswegs gegen die Regel.
Die Flut der Werbebotschaften beschränkt sich nicht mehr auf die traditionellen Medien, sondern sie überschwemmt bereits alle Bereiche des täglichen Lebens (Sport, Taxis, Häuserfassaden, Veranstaltungen aller Art und bald vielleicht auch Schulen und Krankenhäuser). Diese Werbeflut ist immer weniger zu verdauen, und die eigentliche Aufgabe des „Kreativen“ besteht nun darin, die in der Öffentlichkeit aufkeimende Ablehnung in die Werbestrategien zu integrieren, um sich auf diese Weise dem „Zeitgeist“ zu verbinden.
Doch um die Ideologie zu durchschauen, die hinter den 18 Millionen Werbeclips steht, die allein im Jahr 2000 in den französischen Medien gesendet wurden, muss man sich über ihren Inhalt klar werden. In den meisten Fällen handelt es sich um belanglose Botschaften, die an sich harmlos wären, wenn sie sich nicht in eine Logik der Manipulation einfügen würden. Denn in einer Gesellschaft, so Kenneth Galbraith, in der die Produktivität, als Folge von industrieller Automatisierung, virtuell unbegrenzt ist, zählt die Kontrolle des Produktionsapparates weniger als die Beherrschung der Konsumnachfrage. Die Werbung hat also die Aufgabe, die individuellen Wünsche und Erwartungen im Hinblick auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu beeinflussen.
Wir sind in eine neue Ära des Kapitalismus eingetreten, die Galbraith durch die Umkehrung des Zusammenhangs zwischen Angebot und Nachfrage charakterisiert sieht3 : Nicht mehr der Konsument bestimmt den Rhythmus der Produktion, sondern der Produzent, der die Konsumbedürfnisse ankurbelt, um produzieren zu können. Das Jahr 2000, in dem France Télécom zum größten Auftraggeber der Werbebranche wurde, bietet dafür anschauliche Beispiele: Man denke an den blitzartigen Aufstieg einer Reihe von neuen Firmen, die Mobilfunkanbieter und Internetprovider, an all die neuen Produkte und Dienstleistungen, die ihre Existenz lediglich den milliardenschweren Investitionen in den großen Medien verdanken. Als Symbol für diese Ideologie kann die Werbekampagne des Internetanbieters Selftrade gelten: Sie zeigt Hammer und Sichel in Gold, mit Diamanten besetzt, und will den unbedarften Kleinaktionär dazu verführen, über das Internet an der Börse zu spekulieren.
Für die Herstellung eines Produkts ist nicht einmal mehr die Nachfrage ausschlaggebend. Die Fabrikation der Wünsche selbst ist für manche Unternehmen bereits zu einem bestimmenden Faktor geworden. Am Ende genügt sich die Werbung selbst, weil sie eine Sache verkauft, deren Produktion weniger von den Einkünften abhängt, die damit zu erzielen sind, als von dem System der Glaubwürdigkeit, auf dem seine Ökonomie basiert.
Ein Indiz für die Umkehrung der Werte ist auch folgenes Beispiel: Der Mobilfunkanbieter Bouygues Télécom machte im vergangenen Jahr ein Pauschalangebot mit dem Namen „spot“, das Leuten mit schmalem Geldbeutel kostenlose Handybenutzung versprach, sofern sie damit einverstanden waren, dass ihre Anrufe regelmäßig von Werbespots unterbrochen würden.
Irreführende Werbung ist selbstverständlich verboten. Aber die Werbung hat sich verselbstständigt und scheint sich immer mehr von den Produkten zu distanzieren, um deren Verkauf es angeblich geht. Sobald ein neues Produkt herauskommt, wird dies zum Anlass für die Inszenierung eines „Events“ genommen, das dazu bestimmt ist, die Identifikation mit einer Marke anzukurbeln. Das englische Wort für Marke, brand, findet sich in dem Verb to brand wieder, was so viel bedeutet wie brandmarken, mit einem Brandmal versehen.
Im Übrigen wird die Effizienz einer Werbung nicht so sehr an ihren Verkaufsziffern gemessen, sondern an Marktforschungsergebnissen, an denen sich die Wirkung und der Bekanntheitsgrad eines Produktes ablesen lassen. Technisch wäre es möglich, über die Einnahmen die Wirkung der Werbeausgaben auf den Konsum zu ermitteln. Aber dies interessiert die Auftraggeber der Werbung weniger. Lieber vertrauen sie ihren Kommunikationsstrategien, als sich mit den Sanktionen des Marktes auseinander zu setzen. Die Werbung, die sie in Auftrag geben, ist weniger dazu bestimmt, den Verkauf anzukurbeln, als die Vermittlung einer kommerziellen Ideologie zu fördern, deren Aushängeschild die Marke ist.
Die so genannten institutionellen Werbekampagnen, die für Organisationen, Initiativen oder gesellschaftliche Anliegen werben, sind dazu bestimmt, uns eine Geisteshaltung zu verkaufen. Die Werbeslogans dienen als Wiedererkennungszeichen, und ihre ständige Wiederholung führt schließlich zur Verbreitung von „konfektioniertem“ Gedankengut, das schließlich unser Bewusstsein prägt. An solchen Strategien orientieren sich auch die Slogans von Nike – „Just do it“ – oder von IBM – „Solutions for a small planet“. „Die Wirksamkeit der Werbung endet dort, wo sie als solche wahrgenommen wird“ – so ein Zitat aus Frédéric Beigbeders Buch.
Indem die Werbung eine realitätsferne Vision der Gesellschaft vermittelt und das Bedürfnis nach Identifikation mit Stereotypen schafft, gelingt es ihr, gesellschaftliche Realitäten umzuformen. So führen arbeitslose Jugendliche in den tristen Vororten der Großstädte eine Art Stammeskrieg zwischen Nike und Reebok. Anders gesagt: Es sind nicht mehr die kreativen Werbefachleute, die – vom Realen ausgehend – eine Illusion von Realität vermitteln, nein – die Zielgruppen selbst schaffen sich – um existieren zu können – eine Traumwelt, indem sie die Inhalte der Werbung, ihre Slogans und Symbole nachahmen. In diesem Sinne ist die Werbung ein industrielles Unternehmen zur Umformung des gesellschaftlichen Bewusstseins.
Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Werbestrategie von IBM. Die Werbekampagnen dieses Unternehmens preisen unablässig die Vorteile des „globalen Dorfes“ an, in dem es angeblich keine kulturellen und sozialen Unterschiede mehr gibt. „IBM Global Services. Leute, die denken. Leute, die handeln“, so der immer wiederkehrende Slogan. Solche Werbespots vermitteln das Bild einer weltweiten Vernetzung, ob am Arbeitsplatz oder zu Hause und ohne jegliche hierarchische Unterscheidungen. Doch hinter der sympathischen Fassade dieser Werbeslogans geht es um etwas anderes – es geht um das Ende der gesicherten Lohnarbeit, um die Flexibilisierung der Arbeitswelt und um die Nivellierung der kulturellen Besonderheiten. Die Werbekampagnen der Zeitarbeitsfirma Vediorbis wiederum vermitteln ein idyllisches Bild von Zeitarbeit: Der Heizungsmonteur, der in seinem Heim mit Baby im Arm gezeigt wird, erscheint ausgeglichen und zufrieden mit seinem Familienleben. Die Soziologen wissen hingegen, dass solch ungesicherte Arbeitsverträge die Stabilität des Individuums untergraben, und dies sowohl im Bereich der Arbeit als auch in seinem Privatleben.
Im Juli 2000, als der Waffen- und Luftfahrtgigant EADS an die Börse ging, gab es in der entsprechenden Werbekampagne im Fernsehen nicht einen einzigen Hinweis auf die militärischen Aktivitäten dieses Konzerns – und dies, obwohl das Unternehmen Raketen und Kampfhubschrauber herstellt und daraus ein Gutteil seiner Profite zieht. Es ist vollkommen nutzlos, sich an das Bureau de vérification de la publicité (BVP)4 zu wenden, wenn man die Werbeleute zur Selbstkontrolle auffordern will. Dieser Organismus wird von den Auftraggebern der Werbung selbst getragen. Dabei beweisen die „Kreativen“, die von sich behaupten, ihrer Zeit voraus zu sein, und immer wieder Bereitschaft zeigen, zahlreiche Tabus zu brechen, eine exemplarische Zurückhaltung, wenn es darum geht, das „Gesetz des Schweigens“ zu brechen, dem sie selbst unterworfen sind.
Im Oktober 1999 hatte das BVP, wo die Interessen der großen US-amerikanischen Unternehmen (Procter & Gamble, Ford, Coca-Cola) dominieren, eine Kampagne von amnesty international gegen die Menschenrechtsverletzungen in den USA zurückgewiesen, und zwar unter dem unsäglichen Vorwand, sie schade den „guten zwischenstaatlichen Beziehungen“. Dabei hätte diese Kampagne in den Vereinigten Staaten, wo man sich dem Wert der Meinungsfreiheit besonders verpflichtet fühlt, sicherlich nicht verboten werden können. Doch in Frankreich wird die Sprache der Werbung streng überwacht. Dies bekam die Vereinigung „Casseurs de pub“ (Zerstörer der Werbung) zu spüren.
Im November 1999 wollte die Organisation zum „Tag ohne Einkauf“ aufrufen. Der dreißig Sekunden dauernde Spot, der von Aktivisten finanziert und zu einer späten Stunde auf France 3 gesendet werden sollte, wurde nicht zugelassen, weil er angeblich keine Botschaft von allgemeinem Interesse vermittelte. „Politiker darf man heftig kritisieren, aber sobald man die Multis angreift, erzittert alle Welt“, sagt Raul Anvélaut, ehemals Angestellter der Werbeagentur Publicis und heute verantwortlich für das Comité des créatifs contre la publicité (CCCP, Komitee der Kreativen gegen die Werbung).
In den großen Medien scheint jede Form des Widerstands gegen die Werbung zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig gibt es zahllose Aggressionen, die auf das Konto dieser Branche gehen. So gehört die Darstellung der Frau als Objekt zum Wesen der Werbesprache. In den Werbesendungen tauchen Schwarze, Asiaten und beurs (in Frankreich geborene Nachkommen maghrebinischer Einwanderer) kaum auf.5 In keiner anderen Sparte des Fernsehens sind diese Bevölkerungsgruppen so unterrepräsentiert wie hier. Was die Kinder betrifft, für die Nestlé und Colgate schon in den Kindergärten und Grundschulen „pädagogisch wertvolle Artikel“ verteilen, so werden sie morgen die Opfer eines neuen Sklavensystems sein. Denn geht es nicht darum, sie zu „brandmarken“, d. h. ihnen Markenbewusstsein einzuflößen? Es ist allseits bekannt, dass sie größten Einfluss auf die Anschaffung neuer Produkte in den Haushalten haben und dass sie als Erwachsene weiterhin zwei Drittel dessen kaufen werden, was sie bei ihren Eltern konsumierten. Muss man sich also, wie Frédéric Beigbeder in seinem Roman, damit begnügen, im Traum den Rentner aus Florida umzubringen, dessen US-amerikanische Rentenfonds das Kapital der Multis beherrschen?
dt. Dorothea Schlink-Zykan
* Journalistin